Der Gesellschaftsabend

Maximilian Wust - Der Gesellschaftsabend

Der Gesellschaftsabend
Ein Psycho-Horror von Maximilian Wust



Ein weiterer Teil meiner düsteren Phase (obwohl ich damals eigentlich ziemlich gut drauf war). Zu dieser Geschichte, meinem ersten und letzten Versuch eines Gorns (also einem Gore Porn, der sexuellen Darstellung von Gewalt), gibt es sonst nur zu erzählen, dass der Film Society bereits 1987 eine sehr ähnliche Idee interpretierte – nur in besser. Dass es den Streifen überhaupt gibt, fiel mir natürlich erst 2016 auf.


EIN BLICK AUF die Uhr: 20 Uhr 9.

Die Uhr ist das gnadenloseste Instrument der Welt, wie er immer sagte.

Sie diktiert, wann die Welt erwacht und wann sie schlafen geht. Sie entscheidet, ob jemand zuverlässig ist, wann die Züge fahren, wann man zu Gott betet oder wann die Geisterstunde ist. Sie allein bestimmt, wann der Tag beginnt. Die Sonne hat diese Macht schon längst verloren. Und was man auch tut oder lässt, die Uhr arbeitet stets gegen den Menschen.

So auch gegen Philipp, einem Uhrenfanatiker, seiner Frau Majorine und seiner Dienerin Francine – die nicht so hieß, sondern von seinem Vater so genannt wurde. Heute, bei der Vorbereitung auf den Gesellschaftsabend, spielte die Zeit tödlich gegen sie: Die Gäste konnten jeden Moment eintreffen, der Hauptgang war das dagegen noch nicht, die Soßen dafür viel zu bald fertig und das Weißbrot kam gerade dampfend aus dem Ofen. Alles geschah zu früh oder zu spät. So konnten die Tunken nur eine begrenzte Zeit warmgehalten werden, ohne zu verbrennen und das Brot würde zu früh auskühlen.

Der Abend, Philipps erster, würde zu einer Schande werden.

Hastig stürmte der Hausherr vom Speicher seines kleinen, aber sehr ansehnlichen Anwesens ins Erdgeschoss, wo seine Frau gerade mit den Händen voll weißer Kerzen aus dem Keller kam. Er drückte ihr den Kerzenständer in die schon viel zu vollen Hände und lief in die Küche.

Francine, die kurvige, üppige Dienerin und Magd stand dort vor dem Arbeitstisch und schnitt Knoblauchzehen in kleine Würfel, mit faszinierender Schnelligkeit. Ihre großen, unfassbar großen, weichen Brüste wippten wie das Euter einer Kuh zum Takt des Messers. Ihre Haarpracht glänzte wie schwarzes Eis. Philipp hoffte, dass General Bleibners nicht in die Küche kam und Francine von ihrer Arbeit abhielt. Das würde er nämlich tun, wenn er wusste, was da für ein Geschöpf an den Beilagen arbeitete …

„Nimm weniger Mehl!“, befahl Philipp, nachdem er die Mehlschwitze, Soßen und Suppen überprüft hatte. „Uns darf jetzt bloß nichts anbrennen!“

Francine nickte nur – das wusste sie längst –, erhob sich und band die Schürze wieder etwas fester. Vergeblich. Kein Kleid hätte ihre Brüste bändigen können. „Ich bin sehr aufgeregt. Und sehr dankbar, dass Sie mich heute schon den Gästen vorstellen wollen, my lord.“

Er lachte auf. „Das wird sich ändern, wenn du den General kennenlernst. Er hat eine Schwäche für Frauen wie dich, ganz besonders seine rechte Hand.“

„Ich denke“, bemerkte Francine grinsend, „ich weiß ihn im Zaum zu halten, my lord.“

Philipp schüttelte den Kopf und ging. Einen Menschen, der sich vor dem General schützen konnte, gab es nicht. Dabei bemerkte er außerdem, wie sehr er es hasste, ein Lord genannt zu werden. Er war keiner, auch nach der Hochzeit nicht. Francine tat das nur, weil es sein Vater so wollte.

***

   Im weitläufigen Salon traf seine Frau gerade die letzten Vorbereitungen: Die Bücher waren aus den Regalen entfernt, die Regale mit leicht abwaschbarem, aber trotzdem edel gefertigten Leinentüchern zugedeckt, die Teppiche durch einfache Bastmatten ersetzt worden. An den Wänden reihten sich ordentlich die dreifüßigen Gestelle, in denen bald schon die Schüsseln mit Gewürzen und Soßen verankert werden sollten. Der Bratenrost war auch schon aufgestellt und bereit, ebenso das Löschwasser für Notfälle, die Kohle glühte und die Näpfe mit Gewürznelken waren alle befüllt.

„Majorine?“ So erkundigte sich Philipp nach seiner Frau, ohne sich zu ihr umzudrehen. Sein Blick diente nun einzig dem Zweck, Fehler zu finden.

„Werter Gemahl?“

„Nehmt die violetten Blumen aus den Vasen. Sie sind farblich zu – wie sagt der Maler? – unpassend? Zu aufdringlich? Zu dominant? Ja, zu dominant! Sie ziehen zu viel Aufmerksamkeit auf sich.“

„Sehr wohl.“

Der Rest des Salons konnte sich aber sehen lassen: Obwohl sie ihn so hergerichtet hatten, als würden sie gerade ausziehen, war er immer noch spürbar von dem opulenten Edelmut eines Zeitalters durchzogen, das man später höflich distanziert als edwardianisch bezeichnen würde.

Philipp wandte sich zu seiner Frau um, gab ihr einen flüchtigen Kuss und ging. Majorine war das genau Gegenteil der Küchendienerin: Sie war klein und zierlich, schon fast zerbrechlich, und blond. Ihr schlanker, langer Hals und ihre dünnen Gliedmaßen faszinierten Philipp schon seit ihrer ersten Begegnung, aber dafür vermisste er etwas Hüfte. Davon besaß seine Gattin schon fast unangenehm wenig. Sein Arzt hatte ihm vor einem Jahr sogar empfohlen, mit ihr keine Kinder zu zeugen, da beide, Mutter und Kind, die Geburt mit diesem kleinen Becken mit Wahrscheinlichkeit nicht überleben würden.

Aber das war ein Problem, mit dem er sich jetzt nicht beschäftigen wollte.

Und konnte.

Das kleine Glöckchen läutete an der Tür.

***

Ein Blick zur großen, alten Standuhr am anderen Ende des Korridors: 8 Uhr 16.

***

An der Tür stand Lord Caviness, ein kleiner rundlicher Mann mit winziger Nase und genauso winzigem Mund, und seine Frau, ebenso klein und rundlich. Die Caviness-Familie gehörte zu den engsten Freunden von Philipps Familie, auch wenn er das kleinwüchsige, seltsame Oberhaupt überhaupt nicht leiden konnte.

„Seid mir gegrüßt, Euer Lordschaft“, sagte Philipp vielleicht zu geheuchelt und bat die beiden herein. Dabei bemerkte er, wie nass die Mäntel der beiden waren. Es musste geregnet haben. Vielleicht war das der Grund für –

„Seid mir auch gegrüßt, Mister Norman“, erwiderte Lord Caviness mit seiner kleinputzigen Mäuschenstimme. Dabei bewegte er die Augen wie immer kein bisschen. Sie schienen auf gruselige Art fest im Schädel fixiert zu sein. „Ein schönes Haus habt Ihr da. Ihr müsst sehr stolz auf Euren Vater sein.“ – das bedeutete, höflich ausgedrückt, dass Philipp selbst noch nichts geleistet hatte.

„Das bin ich allerdings. Er lässt Euch übrigens Grüße ausrichten. Wie komme ich zu der Ehre des frühen Besuchs?“

Er nahm dem Paar die Mäntel ab, während Caviness antwortete: „Ich komme immer zu früh. Pünktlichkeit ist eine Tugend, mein Lieber. Gewöhnt sie Euch noch vor dem dreißigsten Lebensjahr an!“

„Es scheint draußen geregnet zu haben. Hat Euch Euer Diener nicht direkt vor meinem Haus abgesetzt?“

Caviness seufzte. „Lieber nicht. Für solche besonderen Anlässe will ich nicht, dass man weiß, wo ich bin. Ihr habt ja auch schon die Geschwätzigkeit der gemeinen Dienerschaft kennengelernt.“

Philipp führte das Paar in das Speisezimmer und wies ihnen ihre Plätze zu. Majorine hatte inzwischen die violetten Blumen aus den Vasen genommen; viel bewirkte das aber nicht: Der wuchtige Tisch aus dunklem Holz wirkte weiterhin wie ein Tisch, der einfach nicht wirken wollte.

Auch Caviness schien nicht zufrieden zu sein. Kaum hatte er sich gesetzt, bemerkte er im leicht spöttischen Ton: „Nun, dass wir von Euch keinen architektonischen Augenschmaus wie bei dem General zu erwarten haben, lag auf der Hand, allerdings hätte sich Eure Dienerin ruhig etwas anstrengen dürfen.“

Philipp entschuldigte sich, er habe noch Vorbereitungen zu treffen, und ging. Majorine blieb bei den Caviness’ zurück und unterhielt sie – heißt: Sie lauschte ihren endlosen Selbstbeweihräucherungen, mit denen sie jeden Augenblick beginnen würden.

Er mochte sie nicht. Weder den Lord, noch seine Frau, noch ihre Kinder oder deren Großeltern. Er konnte sich auch nicht erklären, was sein Vater an ihnen fand. Mag sein, ihr Stammbaum reichte weit zurück, bis ins tiefste Mittelalter, als sich Normannen und Angelsachsen noch als zwei verschiedene Völker verstanden, aber das war kein Argument, mit ihnen Zeit verbringen zu wollen. Als alteingesessene Adelige verachteten sie den Frischadel und die commons, zu denen Philipps Familie immer noch gehörte. Dass sie heute als erste eintrafen, gefiel ihm überhaupt nicht. Eigentlich auch, dass sie überhaupt eintrafen.

***

Die nächsten Gäste waren General Bleibners und seine Gattin, das wie immer das ungleichste Paar des Abends: Er war hochgewachsen, breitschultrig und kräftig – ein Soldat mit Leib und Seele; ein Schürzenjäger, der gerne fremden Frauen nachpfiff und ein Mann mit Stolz, stets sagte, was er dachte. Seine Frau zeigte sich dagegen zierlich, adrett und gut gekleidet und richtete sich immer nach den Regeln der englischen Hofetikette. Sie leistete sich niemals auch nur den kleinsten Affront, geschweige dem, dass sie mal die Fassung verlor. Das machte sie so sympathisch gefährlich.

Der General gab Philipp einen kräftigen, unhöflichen Händedruck. Er wusste, dass kraftvolles Händeschütteln nur bei den Preußen gut ankommt, gab ihn aber trotzdem auch gern den Briten.

„Philipp, Bursche, schön Euch wiederzusehen“, verkündete er mit seiner derben, aber ehrlichen Art. „Wie geht es Eurem Vater? Wird er uns heute Gesellschaft leisten?“

„Leider nein. Er ist immer noch in Frankreich und kümmert sich um die Geschäfte.“

„Wie schade. Will er denn nicht sehen, wie sein Sohn die Tradition fortsetzt?“

„Er würde gerne. Aber der Krieg hat auf dem Festland für viele Probleme gesorgt, von denen die meisten immer noch nicht gelöst worden sind. War das in Indien nicht genauso?“

Der General grinste. „Aber nein, lieber Philipp. Indien ist so unberührt geblieben, wie es nur sein kann. Natürlich, man hat uns viele Soldaten weggenommen und dadurch kam es in dem einen oder anderen Ort zu Ausschreitungen, aber die haben wir schnell in den Griff bekommen. Die Konsule dort halten ihr Volk sogar weitaus besser im Zaum als wir. Ehrlich, würden die nicht irgendwann selbst den Aufstand proben, müssten wir dort gar keine Truppen mehr lassen.“

„Nun, dann hoffe ich, später noch mehr von Euren Erfahrungen zu hören“, gab Philipp freundlich zurück. „Zunächst einmal danke ich Euch, dass Ihr tatsächlich wegen dieses Treffens angereist seid.“

Die Gattin entfernte wie immer ganz plötzlich sich mit einem kurzen Satz der Entschuldigung und ging zu den Caviness’ ins Speisezimmer. Der General sah ihr keine Sekunde nach und grinste wieder. „Wo wir gerade dabei sind: Wen habt Ihr im Auge?“

„Ein Boxringkämpfer aus den Staaten – ein kräftiger Mann, der Euch sicher bei Laune halten wird.“

„Oh, das hoffe ich doch sehr. Diese Akrobatin, dieses Zirkusmädel, das Sir Greenwald letztes Mal aufgegriffen hat, war ja gar nichts. Einmal mehr weiß ich jetzt, dass ein guter Körper nicht alles ist, was man zu bieten haben muss. Euch vertraue ich dagegen etwas mehr. Ihr hattet schon als Kind so ein Auge für das … sagen wir, Wesentliche.“

Mit diesen Worten verschwand er zu den anderen in den Salon.

Philipp kehrte in die Küche zurück. Francine schnitt gerade mehrere Stängel Lauch klein.

„Wie geht es voran?“, fragte ihr Hausherr.

„Gut und schlecht, my lord. Die Vorspeise ist gleich fertig, In zehn Minuten, denke ich. Eure Frau serviert den Gästen etwas Wein; einen sehr leichten, meinte sie, um sie bei Laune zu halten.“

„Das schaffen wir schon“, versicherte Philipp unsicher. „Weißbrot und noch einem Aperitif haben schon meinem Vater viel Zeit erkauft.“

„Das und seine Art, my lord. Er versteht sich darauf, Menschen zu unterhalten.“

Philipp nahm einen tiefen Atemzug. „Ich lerne es vielleicht auch irgendwann. Bist du bereit?“

Sie überlegte einen Moment, um dann mit ruhiger Stimme zu antworten: „Ja. Ja, es wird alles klappen. Das Essen und auch der Abend danach. Ihr und Eure Gattin habt mich gut vorbereitet. Ich denke, ich werde es schaffen.“

Würde sie nicht, auch wenn Francine schon seit ihrem elften Lebensjahr für die Familie arbeitete. Niemand hatte das je getan. Aber das spielte nun keine Rolle mehr.

***

Ein Blick auf die im feuchten Dampf glänzende Küchenuhr: 8 Uhr 38. Nicht mehr lange bis zu den Vorspeisen.

***

Im Salon diskutierten die Gäste gerade über das Heiraten.

„… dieser dumme Junge hat ihr zum Glück kein Kind gemacht!“, fluchte der General. „Ich kann’s nicht haben, wenn sich meine Bälger in Hausdiener verlieben!“

Philipp setzte sich zu der Runde. „Um was geht es?“, fragte er.

„Ich erzählte Euch ja schon von meinem Jüngsten“, setzte General Bleibners an. „Dieser Idiot hat sich diesen Sommer in ein indisches Hausmädchen verschossen, hat sich mal den Lümmel an ihr fetten dürfen und redet jetzt vom Heiraten. Herrgott!“

Seine Ehefrau schaltete sich mit ihrer ruhigen, eiskalten Art ein: „Es wird zu deiner Befriedigung enden, mein Gatte“, versicherte sie ihm. „So wie immer. Eine ungebildete Dienerin wird ihn bald langweilen.“

Damit wechselte der General das Thema: „Apropos!“, rief er in die Runde, „Ist den Herren aufgefallen, wie frech die Arbeiter inzwischen werden? In Indien waren sie ja schon immer frech, aber wie sie sich hier aufspielen! Als würden ihnen die Straßen gehören, in denen sie herumlungern.“

Majorine schaltete sich zu dem Thema ein: „Sie stehen für mehr Rechte ein. Wer kann es ihnen denn nach so einem Krieg verdenken?“

„Ich“, warf Lord Caviness ein. „Sie sollten dankbar sein, dass es in so einer Zeit überhaupt Arbeit und Essen gibt. Der Pöbel ist unerzogen und gierig geworden, sage ich. Mein Sohn reiste vor ein paar Wochen nach Plymouth, um seine geschätzte Tante zu besuchen. Er und seine Freunde prügelten sich, was zugegebenermaßen nicht von Charakter spricht, aber obwohl sie sogar im Recht standen, wurden sie danach festgenommen.“

Der General bekam große Augen. „Festgenommen? Für eine Keilerei?“

„Allerdings. Sie sollen einem der Bauerntölpel den Arm gebrochen haben, so dass er kaum noch seiner Arbeit nachkommen kann. Ich sage dazu, er hätte sich einfach nicht mit meinem Söhnen anlegen brauchen. Er nannte sie Drückeberger und Verweigerer, wegen dem Krieg. Dass meine Familie zehnmal so viel gab, wie sein verlauster Haufen, kam dem Narren natürlich nicht in den Sinn.“

„Und wie ging’s aus?“, wollte der General wissen.

„Eine Strafe mussten sie zahlen.“

„Pah!“, spottete General Bleibners, „Ein Trottel legt sich mit mehr Gegnern an, als er schaffen kann – Mut und Dummheit sind halt doch noch Geschwister –, aber ihn dafür auch noch belohnen?“

Majorine meldete sich wieder zu Wort: „Meine Herren, Ihr tut gerade so, als wäre der Wunsch nach klassenübergreifenden Rechten erst vor einer Woche aufgetaucht. Das ist eine Entwicklung, die schon mit der Glorreichen Revolution ihren Anfang nahm und sich jetzt umso mehr bemerkbar macht.“

Lord Caviness gab ihr einen gespielt gleichgültigen Blick. „Meine Liebe, Ihr seid nur für die unteren Klassen, weil ihr noch keine Zeit mit ihnen verbracht habt. Die meisten von ihnen sind ungehobelt, dumm und brutal.“

„Und doch haben sie Euer Haus gebaut, kochen Euer Essen und arbeiten in Euren Fabriken.“

So stritten sie weiter.

Philipp wollte sich dazu nicht äußern, sonst hätte er sich gegen seine Gäste wenden müssen.

Schon als Kind hatte er oft die Männer in den Kohleminen seines Vaters gesehen: Wie in der Unterwelt Dreißigjährige zu Greisen wurden. Wie sie einen Husten bekamen, der nie wieder enden wollte. Er sah die Arbeiter an den Schneidemaschinen mit ihren verstümmelten Händen und die Schmelzer aus den Stahlwerken und ihre faltige, ledrige Haut. Es war eigentlich kein Wunder, dass sie irgendwann für ein besseres Leben kämpften.

Bevor er aber so etwas wie eine Seite ergreifen musste, klingelte auch schon wieder das Glöckchen an der Tür und rettete ihn aus der Runde.

***

Diesmal erschienen Lord Doyle, ein Graf aus Lancaster, der darauf bestand, mit Ernest angesprochen zu werden und seine lebhafte, immer neugierige Frau. Ihre schüchterne Tochter hatten sie in Lancaster gelassen. Sie wäre für ihre Treffen perfekt geeignet, wie sie beide immer wieder versprochen, sollte aber besser verheiratet sein, bevor sie mit Charakteren wie den General zusammentraf. Philipp mochte den Lord und seinen riesigen Schnurrbart. Er war einer von den Menschen, die alles mit einem sehr angenehmen, leichten Humor nahmen und niemanden nach ihrem Stand beurteilten.

Seine Frau ließ sich von Philipp den Mantel abnehmen und fragte dabei mit der ihr typischen kindlichen Neugier: „Was habt Ihr heute vorbereitet? Ich hoffe doch etwas vom Hafen. Gestern habe ich dort das eine oder andere sehr ansprechende Exemplar gesehen.“

„Oh, unser Angebot heute stammt zwar nicht vom Meer, kam aber über eins.“

„Indisch?“

Philipp lächelte. „Die andere Richtung.“

Gräfin Doyle verstand, grinste liebevoll und ging mit dem Gemahl zu den anderen.

Nur wenig nach ihnen folgten die letzten, für heute geplanten Gäste: Zuerst Sir Greenwald und Gattin, ein Kolonialgroßhändler aus Southampton, den man erst vor wenigen Jahren zum Ritter geschlagen hatte. Seine Frau stammte aus einer größeren Adelsfamilie und war wie bei den Bleibners das exakte Gegenteil ihres Gatten: Schnell eingeschnappt, gern launisch und oft etwas ungebildet. Beide kamen zusammen mit Lord Winfrey, dem mürrischen, alten Mann, dessen Frau im letzten Frühjahr verstorben war. Er gehörte zu den erträglichsten der Runde, auch wenn er immer wieder behauptete, keinen Menschen wirklich zu mögen.

***

Ein Blick auf die hässliche Uhr unter dem Hirschgeweih: 8 Uhr 52.

***

Im Esszimmer begannen inzwischen die ersten Vorbereitungen: Man zog sich um, wechselte das feine Gewand gegen schützende Lederwesten und auslaufende Hosen und testete sich auf den Bastmatten auf Standfestigkeit. Der General gab hierbei wie immer ausgiebig Rat, wie man stabil stand, aufrecht blieb, Schläge konterte oder sein Gewicht zum Angriff nutzte. Kampf war sein Element. Wenn er behauptete, auf einer Jagd von einem Tiger angefallen worden zu sein und diesen mit bloßen Fäusten in die Flucht geschlagen zu haben, nahm man ihm das wirklich ab.

Hoffentlich hielt er sich dieses Mal nicht zurück. Das letzte Mal zerschmetterte er seinem Gegner das Nasenbein und die obere Zahnreihe, bevor es überhaupt losgegangen war. Seitdem versprach er, weniger offensiv vorzugehen … was er dieses Mal aber sollte!

Wenn die Attraktion des Abends endlich mal kam!

Da läutete das Glöckchen.

Das war sie!

Also er!

Philipp wäre am liebsten in die Luft gesprungen, stürmte aber dafür wie ein freudiger Junge zur Tür. Davor und noch im Regen wartete endlich Samuel der Boxer.

Dieser war ein Prachtexemplar und wirkte Philipp wie ein Gigant. Einen Kopf größer und beinah doppelt so breit, baute sich der schwarze Hüne groß und mächtig vor ihm auf. Seine gewaltigen Muskelpartien erkannte man spielend schon unter dem dicken Filzmantel und sein Gesicht wirkte wie versteinert, was die heruntergezogenen Mundwinkel, die tiefen Augen und der kahle Kopf nur noch weiter untermauerten – ein Kraftneger! Mit dieser Beschreibung hatte der Agent nicht gelogen.

„Sie sind endlich gekommen“, erkannte Philipp und versuchte, sich ein Strahlen in den Augen zu verkneifen.

„Die Straßen sind zu, Sir. Ich musste zu Fuß laufen. Sie kürzen mir jetzt aber nicht mein Honorar, oder?“

„Um Gotteswillen, nein.“ Philipp zeigte dem Hünen, wo er seinen Mantel hinhängen sollte.

Francine kam aus der Küche, schluckte – sie schluckte bei seinem Anblick! – und fragte: „Gute Güte, wo kann man solche Muskeln bekommen?“

Samuel grinste. „In Brooklyn, auf der anderen Seite vom großen Wasser. Ich war da bis letztes Jahr Boxer, Schwergewicht, Miss. Jeden Tag Gewichte stemmen und viel Fleisch essen.“

Philipp grinste mit ihm. Mit so einem Monster von Mann hatte sie nicht gerechnet. Das hatte wohl keiner und genau das war die Trumpfkarte, die er heute spielen würde. „Dass jemand unsere Francine aus der Fassung bringt, ist selten. Sie sollten sich geehrt fühlen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn wir gleich anfangen?“

„Gar nich’. Wo kann ich mich umziehen?“

***

Alles war bereit.

Als Philipp den großen, schwarzen Giganten Samuel, geölt und für den Kampf angezogen, in den Salon führte, war alles so, wie es sein sollte. Die Soßen dampften in den Schüsseln, die Panade lag neben dem Bratenrost und sogar die Gewürze standen farblich sortiert am Rand der Bastmatten – daneben eine stolz lächelnde Francine, deren endloser Busen kaum unter der Lederweste Platz fand.

Auch die Gäste hatten sich längst vorbereitet und wirkten wie jedes Mal, als hätten sich Ehepaare der englischen Oberklasse für ein Theaterstück als keltische Barbaren verkleidet. Fast jeder trug eine weite Hose und ein Wams aus gehärtetem Leder. Lord Caviness hatte wieder seine Krallen, unglaublich gefährliche Werkzeuge und seine schaurige Silbermaske angelegt. Majorine trug eine Knochenrüstung nordamerikanischer Indianer und sonst nichts und General Bleibners war nackt, wie immer. Er wollte, dass man die Narben sah, die besagter indischer Tiger in seine Brust gegraben hatte und die Muskeln, die einem Ringer vom Jahrmarkt Konkurrenz machten.

Und einen Penis, der einfach nur gewaltig war …

Samuel konnte sich beim Anblick der bunten Truppe ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er lachte grunzend durch die Nase.

Philipp begann mit der gegenseitigen Vorstellung: „Meine Damen und Herren, das ist Mister Samuel Benfrey, ein, wie Sie sehen können, stattlicher Boxkämpfer aus den ehemaligen Kolonien. Mr. Benfrey, das sind die Lords und Ladies des heutigen Abends, angefangen mit Lord Winfrey Stockton Cav–“

Der Riese musste sich zwingen, nicht loszulachen. „Passt schon. Namen merk’ ich mir eh nicht!“ Er räusperte sich und stellte sich auf den Bast, ins Zentrum des Kreises, den die Gäste inzwischen bildeten. „Also, wem soll ich zuerst ein paar Tricks beibringen?“

Philipp setzte seine Schutzmaske auf – in Erinnerung an den vermaledeiten Bettler von damals – und verkündete: „Nun, ich hoffe doch, uns allen! Ladies and Gentlemen, das Büffet ist eröffnet.“

Von einem Wimpernschlag auf den nächsten, zwischen einem Atemzug und dem anderen, gab es in dem Salon nur noch einen Menschen, nämlich Samuel. Der Rest wurde zu Monstern.

Und Samuel zur Beute.

Die einmal Mensch gewesenen Bestien stürzten sich auf ihn, er schrie und wehrte sich. Die frühere Majorine bekam seinen Oberarm gegen die Stirn, sie taumelte zurück, da hing auch schon das, was einmal die Frau des Generals gewesen war, an dem Boxer und riss ihm mit den Zähnen einen Fetzen Wange heraus. Er stieß sie weg. Nicht-mehr-Caviness zerkratzte ihm die Brust. Er schlug ihn zu Boden. Ein ehemaliger Sir Greenwald verbiss sich in seinem Ohr. Er drückte ihn kreischend weg. Dann erschien der General, fleischgewordene Urgewalt, und bearbeitete Samuels Gesicht, ließ und Blut und Speichel spucken und brach etwas. Es knackte. Aber Samuel war noch nicht besiegt. Er ruderte mit den Armen und schaufelte sich aus den Kreaturen frei, die an seinem Fleisch nagten, bevor er gegen eine der Schüsseln stieß und sich unabsichtlich selbst mit Essigsoße marinierte.

„Was tut ihr?“, brüllte er.

Vergeblich. Es war niemand mehr hier, der hätte antworten können.

Als Samuel bewusst wurde, dass es wirklich um sein Leben ging, löste sich sein Verstand in Wut und Angst auf, dieser wunderbaren Mischung, die man nur in Bestien sieht, wenn sie am Abgrund stehen. Samuel kreischte. Dann stürzte er sich in die Menge und sie auf ihn. Zähne gruben sich in sein Fleisch, silberne Krallen öffneten seinen Bauch und zogen weißes Gedärm hervor, Francine fraß seinen Penis, während er noch schrie und brüllte und Philipp zog sein linkes Auge aus der Höhle und fragte sich, ob Samuel dadurch noch sehen konnte, als er es mitsamt dem Sehnerv verschluckte.

Der Neger brüllte noch lange. Sehr zu Philipps Befriedigung. Samuel der Boxer sollte niemals besonders kämpferisch sein, für den General eine Herausforderung darstellen oder am Ende sogar einem Gast einen Zahn ausschlagen! Er sollte einfach nur zäh sein, an Schmerz gewohnt, bloß nicht bewusstlos werden und schreien, immerzu schreien.

Was er auch tat. Ein pandämonischer Gesang aus Schmerz und Verzweiflung, der einfach nicht verklingen wollte.

Nach dem Fressen befriedigten die Bestien ihre Trieb: Den Anfang machte natürlich der General. Er schnappte sich Philipps Frau, beugte sie über den Esstisch und drang mit solcher Wucht in sie ein, dass das Geschirr vom Tisch sprang. Nicht unerwartet: Der General verging sich immer zuerst an den Frauen, die ihm zuvor widersprochen hatten. Währenddessen liebten sich Philipp und Francine, aber nur als Vorgeschmack, danach fiel sie auch dem General in die Hände, während Majorine an Sir Winfrey ging. Lord Caviness und Lord Doyle taten es fast die ganze Nacht miteinander, ihre Frauen suchten beide Sir Greenwald auf, der sich aber mehr für Philipp interessierte. Die Frau des Generals dagegen hob sich Philipp bis zum Schluss auf – dieses unzähmbare, edle Wesen durfte er sich nicht einfach zur Befriedigung seinem Triebe nehmen. Sie wurde zu seinem Höhepunkt des Abends.

Zwischen all dem versuchte sich Francine blutend aus dem Zimmer zu retten, unwissend, dass der General eben das nur noch mehr begehrte. Sie kam nicht weit. Er packte sie an den Haaren, zerrte sie unter seinen massiven Leib und zerstörte sie. Die Würgemale wollten erst nach Wochen verheilen.

Jeder schlief mit jedem, Mann mit Mann, Frau mit Frau oder zwei mit einem; ob man mit der Zunge bespielte oder bespielt wurde, schlief oder beschlief. Jeder nahm sich, was er wollte. Jeder vergnügte sich hemmungslos, völlig ohne Regeln und Tabus und ließ allen dunklen Gedanken und Dämonen freien Lauf. Jeder von ihnen entließ sich aus der Menschlichkeit.

***

Am nächsten Tag war es vorbei.

Man wusch sich das Blut ab, Philipp entsorgte, was von Samuel noch übrig war in der Schweinefarm, in der schon seit Vater Beutetiere hatte verschwinden lassen und ein Arzt kümmerte sich um Francine. Die Gäste wurden wieder zu dekadenten Adeligen, Kaufmännern und grobschlächtigen Generälen. Sie kehrten einfach in ihr normales Leben zurück, aus dem sie eine lang Nacht geflohen waren

Um Monster zu sein.

— Maex, 2007

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