Der Mann vor meinem Fenster

Maximilian Wust - Der Mann vor meinem Fenster

Der Mann vor meinem Fenster
Eine Historische Erzählung von Maximilian Wust

Vier Jahre, sechs Monate und drei Tage lebte ich während meinen jungen Jahren in der Stadt.

Es war wie in einem Ameisenbau: Menschen, Lärm und Bewegung, wohin man nur sah und zu welcher Uhrzeit man auch auf die Straße ging. An jeder Ecke roch es nach gebratenem oder gekochtem Essen, Scheren klickerten und schnitten an den Haaren der Barbiersgäste und die monotone Lärmwand aus Dutzenden gleichzeitig geführten Gesprächen erfüllte nahezu jeden Ort. Ob jetzt in den Salons, den Läden oder den als totenstill klischierten Büchereien, ob durch Glasscheiben und Holzportale gedämpft oder durch eine Lesungshalle verstärkt: sie war einfach immer da.

Die Stadt war im eigentlichen Sinne eine Bühne, die zu jeder Zeit zu neuen Schauspielen ansetzen konnte. Morgens füllten sich die Straßen mit Pendlern, bei Regen öffneten sich die Regenschirme wie kohlenschwarze Blumen, am Mittag dampfte es aus den Küchen und Schloten und nachts schienen die Gebäude die Menschen in Massen zu verschlingen, bis sie jeden Einzelnen von der Straße geholt hatten.

In jener Zeit sammelte ich so unglaublich viele Eindrücke. Und obwohl ich dort studierte, wie Keppler den Weltraum wahrgenommen hatte; wie Watt, oder besser gesagt Newcomen zu seiner Dampfmaschine gekommen war und insgeheim, wie Feuerbach die Kirche zu kritisieren wagte, so faszinierte mich doch vor allem eines ganz besonders: Ein Mann vor meinem Fenster.

***

Ich weiß nicht genau wann, aber eines Tages tauchte er plötzlich auf. Soll heißen: Eines Tages bemerkte ich ihn endlich.

Es war ein Herbstmorgen wie jeder andere, bewölkt und irgendwie grau. Ich schleppte mich schlaftrunken an das einzige Fenster meines winzigen Zimmers, aber nicht, um hinauszusehen, sondern um im kalten Luftstrom zu baden. So zwang ich damals meinen Körper zum Wachwerden – wäre ich im Bett geblieben, hätte er weitergeschlafen. Inzwischen wohnte ich im dritten Jahr in einem Zimmer im dritten Stock eines Altbaumietshauses. Mit wunderbarem Blick auf die Hauptstraße. Mit dem Geschrei Betrunkener, die zu gotteslästerlichen Stunden durch die Gassen zogen.

Meine Vermieterin hatte mich nur wenig zuvor mit heftigen Schlägen gegen die Tür geweckt; nicht, weil sie wütend auf mich war, sondern weil sie mich jeden Sonntag um 7 Uhr so weckte. Am Sonntag war nämlich Messe.

Heute erwartete mich keine Vorlesung an der Universität und auch keine meiner Nebentätigkeiten, sondern die Kirchenbank  Sonntag, so sagte mir meine Vermieterin keifend, ist der Tag unseres Herren und jeder habe dann in die Kirche zu gehen, ganz gleich ob er Maschinen baut oder Kohle schaufelt. Und weil ich meine Vermieterin – eine herzensgute Frau mit gefährlichem Temperament, so widersprüchlich das klingen mag – mochte und auch ein bisschen Dankbarkeit für die geringe Miete zeigen wollte, stand ich jeden Sonntag brav um 7 Uhr auf und saß pünktlich eine Stunde später zusammen mit ihr und den meisten anderen Hausbewohnern in der Kirche.

Aber zuvor musste ich aufstehen und aufwachen und das tat ich wie an jedem Sonntag gähnend, müde und erschöpft vor meinem einzigen Fenster.

An diesem Morgen fiel er mir zum ersten Mal auf. Er saß dort unten auf der Parkbank direkt zwischen zwei dünnen Bäumen, mir seinen kräftigen Rücken zugewandt und schien, zumindest von meinem Fenster aus, einfach die Straße hinabzustarren. Seine dunklen Haare waren strähnig und ungewaschen. Seine Kleidung machte einen heruntergekommenen Eindruck, aber sie war nicht die eines Bettlers. Sie war genau genommen überhaupt nicht zuzuordnen.

Ich hatte ihn schon einmal gesehen. Genau auf dieser Bank, genau von diesem Fenster aus, aber nun wurde mir bewusst, dass er dort saß. Davor war er nur eine Gestalt gewesen, jetzt aber wurde er in meinem Universum zu einem Menschen. Und hatte er sich darin verwandelt, stellte meine kindliche Neugier auf der Stelle ihre Fragen: Wer ist er? Und warum sitzt er da unten?

Ich muss mehrere Minuten dort gestanden und seinen Stiernacken angestarrt haben, denn es donnerte wieder laut an der Tür. „Herr Mannheimer!“, rief meine Vermieterin mit ihrer alles durchdringenden Stimme, „Herr Mannheimer, machen Sie sich endlich fertig. Wir müssen los!“

Als ich zusammen mit ihr und anderen Mietern das Haus verließ, sah ich dem Unbekannten zum ersten Mal ins Gesicht. Er hatte einen ungepflegten Vollbart und tiefe blaue Augen, die gar nicht die Straße entlang blickten, sondern einen Punkt außerhalb dieser Welt fixierten.

Meinen Blick erwiderte er nicht. Ohnehin schien unsere kleine Gruppe für ihn gar nicht zu existieren.

Hastig marschierten wir los, um die von mir vergeudete Zeit wieder einzuholen. Der Mann verschwand hinter uns im Morgennebel. Er blieb einfach sitzen, wie ein regungsloser Wächter. Von nun an sollte er mein persönlicher Mythos sein. Mein ganz persönliches Rätsel.

***

Ende der Einleitung.
Der Vorhang fällt, die Kulisse wird angepasst und wer Durst hat, geht ins Foyer und trinkt Branntwein.

In diesem Fall kann ich nur mein Leben bieten. Sagen wir, es wäre das Foyer und Eindrücke daraus der Wein. Hier nun ein Glas davon:

Ich sehe sie fast jeden Tag an der Kasse des kleinen Ladens stehen. Sie ist irgendwie unschuldig. Sehr nett zu Kindern, redet viel mit alten Frauen. Ich spreche sie an, wir reden kurz. Um 7 oder 8 Uhr schließt der Laden, dann hat sie frei. Wir gehen spazieren, ein wenig. Ich lade sie ins Theater am Ostende der Stadt ein. Amateurschauspieler, die kaum etwas von ihrem Stück verstehen. Eine johlende Menge, die nur auf die schmutzigen Scherze wartet. Aber es ist billig.

Sie macht keine Anstalten, ihr Interesse zu verbergen. Sie hat sicherlich einen Verlobten, vielleicht sogar schon einen Mann, aber ich biete wohl mehr. Für den Augenblick. Sie wohnt bei ihren Eltern. Schläft mit den kleinen Schwestern im selben Zimmer. Unter der Decke lieben wir uns, leise, und die Kinder tun so, als würden sie uns nicht hören. Am nächsten Morgen wird keiner darüber sprechen. Obwohl es alle wissen. In ihrer Welt wird darüber geschwiegen.

Als ich gehe, mich über die quietschenden Dielen herausschleiche, ist es nicht mehr lange bis zum Sonnenaufgang. Sie wird eine Weile für mich schwärmen, dann wird alles wieder zum Alltag zurückkehren. Ihr Verlobter, wenn er es erfährt, wird ihr erst in vielen Jahren Vorwürfe machen.

***

Zweiter Akt:
Zunächst fiel mir auf, dass der Mann vor meinem Fenster immer dort zu sitzen schien. Als ich von der Messe heimkehrte, saß er in der gleichen, trauernden Position vor dem Hauseingang wie schon am Morgen. So auch, als ich nachmittags mit zwei Kommilitonen ausging. Nur nachts, als ich einige Diskussionen später und vom Likör freudig gestimmt, nach Hause kam, war er weg. Ich konnte nicht sagen, ob ihn Polizisten fortgejagt hatten oder ob er freiwillig zu seinem Schlafplatz zurückkehrte, zumindest schien er fort zu sein. Aber schon nächsten Tag saß er dann aber wieder dort, auf seiner Bank. Ebenso, als ich spätnachmittags aus der Universität zurückkehrte.

Am meisten faszinierte mich sein Blick: Er wirkte trauernd, irgendwie gebrochen, aber nie völlig besiegt. An manchen Tagen machte er sogar einen ganz gewöhnlichen Eindruck.

Er roch nie nach Alkohol oder nach Schmutz, so als würde er sich zumindest regelmäßig waschen. Er wechselte regelmäßig seine Kleider, auch wenn jedes Stück abgenutzt, alt und abgetragen war. Und ich erlebte ihn nie betteln oder wenigstens einen Hut flehentlich vor seine Füße zu legen. Er gab ohnehin nie ein Wort von sich.

Und das machte ihn so rätselhaft. Wenn er Geld besaß, warum war er dann nicht bei seiner Familie oder bei Freunden oder an einem Arbeitsplatz? Für einen alten Mann, der seinen Lebensabend grübelnd auf einer Bank verbringen wollte, war er längst noch nicht alt genug. Und wenn er ein Bettler war, warum tat er dann nicht, was alle Bettler taten? Von irgendetwas musste er doch leben. Wie alt war er überhaupt?

Seine Haare zeigten bereits silberne Strähnen, waren aber größtenteils noch schwarz. Seine Haut war ledrig und faltig, wie die eines Arbeiters an den Schmelzöfen, allerdings längst nicht so kränklich und blass. Seine Augen hätten die eines in sich gekehrten Intellektuellen sein können – sie schienen stets in eine Welt weit jenseits unserer zu blicken – aber kein Bücherwurm besaß derart mächtige Oberarme. Genauso wenig wie ein Bettler. Ohnehin schien er den Passanten mit seiner bewegungslosen, stummen Art zu erklären, dass er kein Geld brauchte und genau das verstanden sie auch. Niemand warf ihm auch nur eine Münze hin. Und niemand sprach ihn an.

Das war es auch, was ihn so angenehm oder faszinierend rätselhaft machte: Was immer er war, er hatte durchaus noch Stolz. Das vermutete ich wenigstens.

***

Eines Tages – er saß inzwischen schon seit einer Woche vor dem Mietshaus – kam ein Bettler an ihm vorüber. Ich stand gerade wieder am Fenster, um im letzten, kostenlosen Licht des Abends das Tagblatt zu lesen. Also, das erzählte ich mir zumindest. In Wirklichkeit las ich kaum eine Zeile und studierte nur mein Rätsel auf der Bank.

Der vorbeikommende Bettler verkörperte so ziemlich alle gängigen Klischees: Er trug einen verfilzten Bart und hatte kaum noch einen Zahn im Mund. Seine Kleidung war verschlissen und staubig und die Sohlen seiner Schuhe lösten sich allmählich vom Rest. Zusammengefasst, das Sinnbild der städtischen Armut. Und dieses Sinnbild trat an meinen schweigenden Namenlosen und hielt ihm zitternd seine Zinntasse hin.

Hab’m Se nich ´n bis’sen Klimpe, hörte ich ihn sagen. Nur in meiner Phantasie. Was immer er wirklich gesagt hatte, konnte ich durch die Glasscheibe nicht hören.

Der Namenlose reagierte nicht. Er saß einfach nur schweigend auf seiner Bank und würdigte den Bettler nicht eines Blickes. Er tat überhaupt nichts. Als würde es den Bettelmann gar nicht geben. Dieser verstand schließlich, dass es bei dem Namenlosen nichts zu holen gab und ging.

Wer bist du?, fragte ich mich erneut. Was lässt deinen Geist so tief versinken?

***

An einem Samstagabend erzählte mir einer meiner Dozenten die Geschichte von Michelangelos David: Michelangelo Bounarroti, der große, brillante Künstler der Renaissance setzte sich vor einem Marmorblock und studierte ihn über Wochen und Monate. Er tastete ihn mit Blicken ab, verlor sich in endlosen Konzepten und Phantasien und dann, als in seinem Geist der spätere David fertig entstanden war, nahm er Hammer und Meißel und formte den unförmigen Block zu einem der größten Werke der Menschheitsgeschichte.

Vielleicht war mein Namenloser genau so ein Künstler. Ein Maler, der sich in wochenlangem Studium auf sein magnum opus, das größte seiner Werke vorbereitete oder ein Autor, der so genau wie kein Zweiter über das Tagtreiben auf der Straße schreiben will. Es gab genug verarmte Künstler und Autoren in der Stadt; er konnte sehr gut einer von ihnen sein.

In meinem Kopf entstand daraufhin ein Drama von einer Lebensgeschichte: Vielleicht war er ein verkanntes Exemplar, das seinen Genius als Arbeiter in den Fabriken hatte unterdrücken müssen, durch die wenige Schulbildung dazu verdammt, und hatte sich irgendwann der Malerei zugewandt. Das würde zumindest seine ledrige Haut erklären.

Diese Entscheidung fiel ihm dafür jetzt umso schwerer: Seine Frau rebellierte und stritt sich lange und laut mit ihrem Mann und seinem Wahn, der die ohnehin mittellose Familie ans Hungertuch bringen würde. Er lenkte nicht ein – er wollte einfach nicht mehr jemand sein, der er nun einmal nicht ist – und kam es zum Bruch. Seine Gemahlin verließ ihn mitsamt den Kindern, kehrte vielleicht zum Ort ihrer Kindheit zurück und er zog in eine winzige Dachwohnung, wo er den durchs Dach sickernden Regen mit Eimern auffangen musste. Die Entscheidung, seiner Bestimmung nachzugehen, hatte ihm alles gekostet. Und so saß er, zum einem Teil innerlich von seiner Einsamkeit besiegt, zum anderen Teil als nun endlich freier Maler vor meinem Fenster und studierte jeden Tag alle Nuancen der Straße, bis sie durch seinem Pinsel zu einem Meisterwerk verschmelzen sollten.

Je weiter ich diese Geschichte ausbaute, desto phantasievoller wurde sie. Und desto mehr wurde mir bewusst, wie weit ich wirklich von der Wahrheit entfernt lag. Er war kein Maler und auch kein Autor. Vielleicht konnte er nicht einmal schreiben und musste Verträge mit drei Kreuzen unterzeichnen.

Vielleicht war er auch einfach nur ein Verrückter. Nicht jeder Geisteskranke wurde zu jener Zeit in ein Heim gesteckt – viele, besonders auf dem Land, lebten auch bei ihren Familien. Vielleicht wohnte er bei seiner Schwester und ihrem Gatten oder seinem Bruder und dessen Frau und wurde dort jeden Tag gewaschen und eingekleidet. Natürlich nicht mit den besten Stücken, sondern mit etwas Älteren, das vielleicht schon der Großvater getragen hatte. Ich überlegte, ob er nicht ein ehemaliger Schmelzer sein konnte, der durch den Metalldampf verrückt wurde. Falls das überhaupt möglich ist. Jedoch wirkte sein Blick immer noch so wach und klar und kein bisschen toll wie normalerweise von Verrückten.

Vielleicht wurde er auch blind, sah sein Augenlicht im grünen Star verschwinden, und kämpfte innerlich bitter damit, sich mit seinem neuen Leben abzufinden. Der, der früher sehen konnte, verendete und wurde Stück für Stück zu dem, der es nicht mehr kann. Aber dafür ging er zu selbstsicher und sowieso ohne Stock.

Oder er war ein Soldat gewesen. Das Land führte ständig irgendwelche Gefechte. Bis nach Siebenbürgen in Rumänien schickte man angeblich kleinere Truppen des Reichs, von den ewigen Konflikten mit den Dänen, den Österreichern, den Franzosen und anderen ganz zu Schweigen. Er war ein Arbeiter, überlegte ich, einer von vielen, den die Rekrutierer mit ihrem Gerede von Ehr’ und Beute eingelullt hatten. Er meldete sich zum Soldatendienst, machte seine Familie mit der sauberen Uniform stolz, fuhr mit der Eisenbahn zur Front und glaubte tatsächlich, von dort als Held wiederzukommen. Bis ihm der Schrot um die Ohren pfiff und die Kanonenkugeln neben ihm einschlugen. Bis er sah, wie sie im Lazarett den schreienden Verwundenen Arme und Beine absägten. Bis Jungen in seinen Armen starben, die seine Söhne hätten sein können. Der Krieg endete, und was er von ihm übrig gelassen hatte, ein Flickwerk aus Alpträumen und seelischen Narben, schickte man zurück, zusammen mit den Särgen der Gefallenen. Was jetzt noch auf der Bank saß, war ein gebrochener Mensch, der keiner mehr sein wollte.

Oder auch nicht. Er war mit Sicherheit genauso wenig Soldat, wie er Künstler war.

Im Nachhinein kann ich nicht sagen, warum es mich überhaupt interessiert hat. Er war nur eine von vielen schrägen Gestalten, die ich jeden Tag sah und genau genommen nicht viel mehr als ein Obdachloser, der nicht bettelt. Eigentlich hätte ich keinen Gedanken an ihn verschwenden sollen. Oder ihn einfach ansprechen und fragen. Aber das, so würde mir viele Jahre später bewusst werden, hätte das Rätsel gelöst.

***

Der Herbst neigte sich dem Ende zu und ich durfte schmecken. Zuerst war da der Geschmack von Schnee, dieser undefinierbare, kalt-süßliche Akzent, der einen weißen Winter ankündigt. Auf den Straßen begrüßte mich wieder der Geschmack gebratener Maroni und in meinem Lieblingscafé hatte jemand erfolgreich Kapuzinerkaffee mit Kirschlikör gekreuzt. Und ich schmeckte auch Neid: Als mir mein Vater, passend zur Jahreszeit, auch noch die Mittel kürzte, wurde ich neidisch auf meine Kommilitonen deren Familie vollkommen für ihre Kosten aufkamen. Sie lebten gut, in schönen Wohnungen in der Stadtmitte, während ich gegen Ende Oktober kaum noch genügend Geld besaß, um die Kohlestifte und das Papier zu bezahlen, geschweige dem gutes Essen. Mein ganzes Leben war wie immer davon geprägt, stets weniger als jeder andere zu haben.

Meine Wut, die sich besonders gegen mich und die Tatsache, dass ich mit Geld kaum umgehen konnte, richtete, fand irgendwann auch den Mann vor meinem Fenster.

Wahrscheinlich ist er der Sohn eines Besserverdieners, überlegte ich mürrisch. Wahrscheinlich hatte er in seiner Kindheit alles bekommen, was er sich wünschte; war verwöhnt worden und dann zusammengebrochen, als man schließlich von ihm verlangte.

Zu jener Zeit gab es das Bild vom goldenen Angelsachsen, einem selbstbewussten, durch und durch erfolgreichen Anführer, der sich von nichts und niemand aufhalten ließ … und zwar, weil er nie gelernt hatte, sich aufzuhalten lassen. Hunderte Familien, darunter auch ein paar, die ich kannte, zogen einen einzigen Sohn groß, gaben ihm alles, was er wollte und erwarteten dann zur Volljährigkeit einen Giganten. Nach Möglichkeit von der Sorte, der die ganze Familie reich macht.

Das Ergebnis war natürlich ein mehr als heftiger Fehlschlag: Die meisten, die aus so einer Erziehung hervorgingen, waren es nicht gewohnt, Leistung zu erbringen. Sich gegen ernsthafte Widerstände durchzusetzen war ihnen fremd. Und so wurden viele dieser Giganten zu Gescheiterten. Das konnte auch dem Namenlosen widerfahren sein. Vielleicht hatte er sogar ein Trinkerdasein hinter sich; hatte sich den Verstand und das Geld weggesoffen und war nur deswegen immer nüchtern, weil er sich den Schnaps einfach nicht mehr leisten konnte.

Als meine Laune wieder etwas besser wurde – und ich mich an die neuen Mittel gewöhnte – verwarf ich auch diese Theorie wieder: Seine Haut und ganz besonders seine Hände zeigten sehr deutlich, dass er viele Jahre sehr hart gearbeitet haben musste. So jemand war nicht verwöhnt worden.

***

Der Winter kam, mit ihm der Schnee und mit ihm die Kälte. Man fror. Wir Mieter froren, so sehr, dass wir uns die meisten Abende vor dem Kamin unserer Vermieterin trafen und den Tag sonst auch gern in Decken verbrachten; die Studenten froren in den Lesungssälen und sogar die Arbeiter an den Schmelzen des Fabrikviertels kamen frierend nach Hause. Es war ein kalter Winter.

Viele erfroren wohl in jenem Jahr. Viele Straßenkinder, sagte man mir später, viele Alte und viele, von denen man es absolut nicht erwartet hätte. In einem Waisenhaus sollen Kinder in ihren Betten erfroren sein.

Umso mehr beeindruckte mich der Mann vor meinem Fenster. Er trug zwar inzwischen dicke Fellkleidung, die er anscheinend auch mit Tagblättern ausstopfte, allerdings kleidete er sich längst nicht so warm wie er es hätte müssen. Und trotzdem fror er nicht. Die meisten kämpften auf den Straßen darum, nur so wenig wie irgend möglich Haut an die kalte Luft freizugeben und zitterten trotzdem noch – dem Unbekannten dagegen schien die Kälte überhaupt nichts auszumachen. Er saß weiterhin jeden Tag auf seiner Bank und ließ sich einschneien. Die einzige Reaktion, die ich in dieser Hinsicht je von ihm erlebte, war nach einem Schneesturm: Beinah zu einer weißen Gestalt eingeschneit, richtete er sich auf, klopfte systematisch seinen Mantel ab, wischte mit einem kräftigen Zug den weichen Pulverschnee von der Bank und setzte sich wieder. Und versank wieder in sich selbst.

Er erdachte mir für ihn eine Tragödie. Er hatte Kinder gehabt. Kinder, eine Familie, die auf irgendeine Weise ums Leben gekommen war. Vielleicht ein Feuer. Kurz bevor er auf der Bank dort unten auftauchte, hatte es ihm Arbeiterviertel im Nordosten einen Brand gegeben. Die Ursache war unklar, jedenfalls geschah es überraschend in der Nacht und angeblich viel zu schnell. Fast alle Bewohner einer früheren Kaserne fanden den Tod.

Ich stellte mir vor, wie er spät in der Nacht durch die Straßen ging – vielleicht hatte er lange arbeiten müssen oder sich in einer Kneipe mit Freunden amüsiert – als er plötzlich hektische Stimmen, Geschrei und die Trompeten der Feuerwehr hörte. Der Lärm drang direkt aus seiner Straße, wo er sich mit Frau und vier Kindern eine winzige Wohnung teilte … und er ahnte Übles. Er rannte. So als könne er noch etwas retten. So als wäre noch nicht geschehen, was sich schon längst nicht mehr rückgängig machen ließ.

Nichts hätte ihn auf das vorbereiten können, was er sah, als in seiner Straße ankam: Das Haus brannte! Aus beinah jedem Fenster quollen die Flammen und strebten zum Himmel empor. Dicker Qualm presste sich durch jede Nische und jede Ritze ins Freie und die brennende Öffnung, die einmal das Dach gewesen war, erbrach eine Säule aus Funken. Feuerwehrmänner gaben sich Anweisungen, brüllten einander an und versuchten verzweifelt, das Feuer daran zu hindern, zu den Nachbargebäuden überzuspringen. Ihre einzige Waffe war ein Wasserstrahl, den das Inferno schmatzend ignorierte.

Darin, in dem pulsierendem Herz aus Hitze und Licht, hatte niemand überlebt. Das wurde dem Mann vor meinem Fenster bitter bewusst und hinein laufen und nach seiner Familie sehen, den Helden spielen, das konnte er nicht. Zu groß war sein egoistischer Wille zum Überleben und zuviel Angst hatte er vor dem Dämon gehabt, dem Moloch, der Wasser wie Holz wie menschliches Fleisch gleichermaßen gnadenlos verschlang.

Am nächsten Morgen bargen die Feuerwehrsleute und freiwillige Helfer einige Knochen aus der immer noch qualmenden Ruine. Was davon seine Familie war, sollte er nie erfahren.

Seine Seele zerbrach an diesem Tag. Er konnte seine Arbeit nicht mehr aufnehmen; nicht mehr ins Leben finden und zum Schluss nur noch hilflos zusehen, wie sich ihn Trauer und Leere verzehrten. Das, was dort unten auf der Bank saß, war nur noch eine belebte Hülle, die sich mehr als alles andere danach sehnte, seiner Familie ins nächste Reich zu folgen. Dass er ausgerechnet vor meinem Fenster saß, war reiner Zufall gewesen. Er hatte sich einfach eine Bank gesucht und sie vielleicht wegen dem Blick die Straße hinab „behalten“. Sein Leben, also die wenigen Nahrungsmittel, die er noch brauchte, finanzierte er sich aus Erspartem, das wie durch ein Wunder das Feuer überlebt hatte.

Das hätte zumindest seine Haut und seine etwas bessere Kleidung erklärt. Aber nicht seinen Blick, der gar nicht so sehr gebrochen war.

Und ich begann mich zu fragen, warum ich ihn immerzu gebrochen sehen wollte,

***

Ende des zweiten Akts.
Branntwein aus meinem Leben:
Ich komme von der Universität und habe Hunger. Keinen großen, keinen fürchterlichen, sondern einfach nur Hunger. Aber trotzdem geschieht etwas, das ich mir nie erklären kann.

Ein Straßenverkäufer bietet Fleischspieße an. Pute; zartes, sanftes Fleisch, das niemals schwer im Magen liegt. Ich nehme einen Spieß, er beträufelt ihn mit roter Soße und ich esse. Er ist salzig und gut. Er ist sehr gut. Und üppig. Viel Fleisch für wenig Geld. Ich esse gierig und kaum habe ich ihn verschlungen, möchte ich noch einen. Auf ihn folgt ein Dritter, ein Vierter. Ich weiß nicht, wie mir geschieht, aber aus irgendeinem Grund kann ich nicht mehr aufhören, diese salzigen, würzigen, köstlichen Spieße zu essen. Ich esse und esse. Nach dem fünften habe ich kein Geld mehr und der Verkäufer spendiert mir einen sechsten und lacht. Ich verschlinge. Unfassbar gierig. Dann ist Schluss.

Ich gehe weiter und kaum stehe ich in der Straßenbahn, spüre ich wieder den Hunger. Nicht erneut, wie mir bewusst wird, sondern immer noch. Als hätte es das Putenfleisch nicht gegeben.

Am nächsten Morgen werde ich mich fragen, ob ich das alles nicht bloß geträumt habe.

***

Dritter Akt:
Ich konnte einfach keine Erklärung für das Rätsel vor meinem Fenster finden. Sowieso glitten meine Theorien, je länger ich sie ausbrütete, ins Unrealistische und irgendwann ins Abstrakte ab, wie das Drama von der im Feuer umgekommenen Familie. Rational betrachtet erklärte ich ihn einfach zu einem besseren Bettler; in der Phantasie erfand ich zunehmend verrücktere Geschichten. Weil es Spaß machte.

Er wäre ein Ausländer, erzählte ich mir während einer Messe. Oder schlimmer, ein Verbannter oder ein Gestrandeter aus einem anderen Land … oder einer anderen Welt. Da war diese Stadt, gewaltig, so groß wie manche Länder und wunderschön. Ihre Gebäude abgerundet, die Mauern glatt und die Turmdächer kuppelförmig wie die Moscheen in Konstantinopel. Gips in den Wänden ließ sie im Sonnenlicht glühen. Zeppeline aus demselben Weiß schwebten majestätisch darüber. Statt unter Baldachinen setzte man sich für einen Nachmittagskaffee unter eine Kuppel aus Rubin; kleine, mit Wasser angetriebene Gerätschaften öffneten Türen automatisch, sobald sich ihnen jemand näherte und statt über Kopfsteinpflaster bewegten sich die Bewohner über geschliffenes Grünglas. Als Kleider trugen sie edles Schwarzblau oder dunkles Rot, als Kontrast gegenüber ihrer Stadt aus Weiß.

In dieser Metropole des Prunks und der übertriebenen Ästhetik lebte vor Jahren auch der Mann vor meinem Fenster. Er gehörte zu einer ganz speziellen Berufsgruppe aus Philosophen, die man eigens dafür bezahlte, dass sie sich an die Tische setzten und philosophische Diskussionen anfingen oder durchdachte Meinungen zu aktuellen Themen in die Runde warfen. Diskutierten war sein Beruf, Denken sein Leben.

Aber all das sollte ihm genommen werden.

Eines Abends, als sich er gerade auf dem Weg zu einem neuen Auftrag machte, studierte er den dunkelblauen Mond, der im Licht der untergehenden Sonne unglaublich hell schimmerte und glitzerte. Der Mond seiner Heimatwelt bestand vollständig aus gefrorenem Wasser, das dort oben im kalten Weltraum zu Eis erstarrt war und jeden Abend ein Feuerwerk aus schimmernden Flächen und glitzernden Lichtpunkten auf die Stadt hinabwarf. Als der Philosoph den Mond so ansah und sich fragte, was ihn wohl erschaffen hatte, wurde ihm seltsamerweise bewusst, dass er ihn heute zum letzten Mal zu Gesicht bekam.

In der ersten Version meiner Geschichte öffnete sich plötzlich der Boden und spuckte ihn hier wieder aus. Das war jedoch zu nüchtern; zu wenig eines Abenteuers.

In einer anderen nahmen ihn die Soldaten fest. Vor dem prunkvollen Richterpodium der Stadt, geschliffen aus massivem Bernstein, wurde ihm vorgeworfen, staatsfeindliche Thesen geäußert zu haben. Du hast die Regierenden auf eine Weise in Frage gestellt, wie es dir nicht gestattet war, verkündete der Richter, seinen Hammer auf den wimmernden Philosophen gerichtet. Er wurde verbannt und in einen magischen Spalt in eine Welt der Unmündigkeit verbannt, wo man keine Philosophen seiner Art brauchte.

Nein, das war immer noch zu wenig!

Schließlich kam mir die zündende Idee: Er hatte seine Welt untergehen sehen. Der Weißen Stadt war es nur wenig zuvor gelungen, gesprochene Worte, Lieder und sogar geschriebene Zeilen in Quarzkristalle zu speichern. Fast so wie man eine Wachsmatrize beschreibt, nur auf mehrere Schichten verteilt, indem man ein Resonanzmuster in den Stein übertrug. Aufgezeichnete Stimmen und Melodien legte man einfach in ein Grammophon, Bücher dagegen in eine Setzkasten-Apparatur, die ähnlich einer modernen Kasse die Buchstaben seitenweise zusammensetze. Per Knopfdruck konnte man von Seite zu Seite wechseln. Bibliotheken und Bücherregale hätten auf einen Bewohner unserer Welt wie Mineralsammlungen gewirkt, ihre Druckereien, sogenannten Resonantereien, wie das Labor eines verrückten Musikers.

Die finale Entwicklungsstufe der Cristallophonie sollte jedoch die Geistresonanz darstellen, die alle Informationen aus dem Quarz direkt in den Geist einer Person übertragen sollte, von überall in der Stadt. Wollte jemand etwas wissen, ganz gleich was, sollte er einfach nur zu einem sogenannten Indicium gehen müssen, einer summenden Kristallsäule, seine Hände auf ihr platzieren und sich die gesuchte Information vorstellen. Der Säulengesang würde es dann selbstständig in seinen Kopf übertragen. Universitäten, Bibliotheken, Schulen – sie alle wären bald unnötig, prophezeite man noch, während man die Indicien erbaute und testete. Bis zu jenem Tag, als der Philosoph, mein Philosoph im Licht des Eismondes stand und sein Glitzerspiel betrachtete.

Man aktivierte die Indicien des Nachts, synchronisierte sie alle gleichzeitig mit derselben Resonanzmusik und wollte auch sofort eine erste Information in die Welt senden. Der Erste Älteste, der höchste Amtsinhaber der Stadt, trat an das Ultimophon, das Kristall-Sprechrohr zur ganzen Metropole, um die erste Rede, das erste Wort, das erste Etwas ins Netzwerk der Indicien zu füttern. Er spitzte die Lippen … und sollte niemals mehr als ein Räuspern und ein „Liebe Mitbürger“ hervorbringen können. Denn nur eine Sekunde später gab es die Stadt nicht mehr.

Was wirklich geschehen war, konnte auch der Mann vor meinem Fenster nicht sagen. Die viel zu starke Resonanz war vielleicht auf alle anderen Quarzstrukturen übergesprungen, wie das gläserne Kopfsteinpflaster oder die Informationssteine, so dass es tausendfach wiedergegeben und in die Unkenntlichkeit verzerrt wurde. Was immer es auch war, von einem Moment auf dem nächsten verfiel die ganze Stadt der Raserei. Handwerker, Philosophen, Techniker, brave Mädchen und wilde Buben erwachten als kreischende Bestien, zu Tieren zurückreduziert, und fielen übereinander her. Wer Hunger hatte, fraß den anderen; wer Lust empfand, verging sich; wer töten wollte, tötete. So auch der Philosoph. Er verlor genauso die Verstand. Die Gräuel, die er im Rausch anrichtete, konnte er später nur erahnen.

Tausende starben nur in den ersten Minuten, Hunderttausend in weniger als eine Stunde. Die Luftschiffe stießen zusammen, Gebäude fingen Feuer, so auch die Kasernen. Ihre Granaten explodierten Kilometer hoch in den Himmel. Aber das rettete den Philosophen. Die Druckwelle ließ fast alle Glasflächen in seiner Umgebung zerplatzen und er erlangte, blutverschmiert und verletzt seinen Verstand zurück. Und sah. Die Zerstörung, die Toten, eine Stadt, die es nicht mehr gab. Er konnte gar nicht mehr aufhören, zu sehen.

Bis er einen anderen Mann fand, der aus dem Wahnsinn zurückgekehrt war. Sie fanden noch andere, waren schließlich zu fünft, verstopften sich die Ohren mit Wachs und kämpften sich verzweifelt … ja, wohin eigentlich? Zum Ultimophon, beschloss ich. Sie arbeiteten sich zur Quelle des Wahnsinns vor, wo die Staatsdiener auf den Eingeweiden der Ältesten kauten und erfuhren die grausamste aller Wahrheiten: Das Ultimophon war längst abgeschaltet worden, die Resonanz hielt sich anscheinend selbst am Leben und die Weiße Stadt war verloren. Der Traum von unendlicher Erleuchtung endete in unfassbarer Finsternis.

Um dem Massaker zu entkommen, kletterten die drei Verbliebenen – zwei hatten es nicht bis zum Ultimophon geschafft – in die Tiefe, bis weit unter die untergehende Stadt, wo schon seit immer ein Tor in eine andere Welt stand. Früher hatte man politische Feinde, meist große Denker hindurch geschickt – Männer und Frauen, die sich hier als Vergil, Aristoteles oder Hildegard von Bingen einen Namen gemacht hatten – jetzt würden die letzten Überlebenden dadurch fliehen und eine Welt des Todes und des Wahnsinns zurücklassen.

Am Ende schaffte es einer. Nur er, der Mann vor meinem Fenster, entkam. Einer seiner Freunde opferte sich, um eine Horde Wahnsinniger zu stoppen, der andere rutschte unmittelbar vor dem Tor ab und fiel in einen Schacht, der bis ins Zentrum ihrer Welt hinab führte. Nur der Philosophen rettete sich in die Fläche aus gleißendem Licht, die in die Exilwelt führte.

Er wachte auf dem Kopfsteinpflaster Europas wieder auf. Eine graue Welt, wie er bald feststellte. Hier gab es keine Büchersteine und keine Städte aus Weiß, sondern nur graue Fassaden, düstere Gesichter und dunkle Häuserschluchten, Bettler, Krankheiten und Qualm, der aus Hunderten Schloten den Himmel verdunkelte.

In den nächsten Jahren verstand er, dass man auf der Erde mit der Philosophie oder kritischen Meinung allein kein Geld verdienen kann. Kritik gegen die vorherrschenden Systeme sah man hier sogar noch weniger gern, als zuhause. Wer allein nur die Religion kritisierte, konnte für Jahre in ein Kerkerloch gesperrt werden. Um zu überleben und um ein Dach über den Kopf zu haben, nahm er die erstbeste Arbeit an und arbeitete in den Fabriken. Ein ganzes Jahrzehnt goss er Stahl, überprüfte die Maschinen und feilte später, als er etwas Raffinesse entwickelte, Zahnräder und Schrauben. Über die primitive Technologie, den arbeiterfeindlichen Adel oder die cholerischen Vorgesetzten beschwerte er sich nie.

Eine Zeitlang funktionierte es so auch. Sein scharfer Verstand half ihm, schnell zu lernen und seine Redegewandtheit machte ihn bei allen Mitmenschen beliebt. Genauso, wie sie ihm half, mit dem Vermieter, dem Schuster oder dem Haarschneider über den Preis zu verhandeln. Bis ihn eines Tages das Heimweh einholte. Er konnte nicht zurück und selbst wenn er eine Möglichkeit gefunden hätte, irgendein Schlupfloch im Gefüge des Universums, gab es dort nichts mehr. Die Weiße Stadt musste inzwischen nur noch eine Ruine sein. Wer das Massaker überlebt hatte, führte wahrscheinlich das Leben eines Wilden, zog mit Pfeil und Bogen durch Straßen, die von der Natur zurückerobert wurden, aß rohes Fleisch und erinnerte sich nicht einmal daran, ein gebildeter, gepflegter Bürger der Weißen Stadt gewesen zu sein.

Ich musste lachen. Dass mein Geist solche Geschichten ausbrüten konnte, brachte mich zum Lachen. Ich kicherte also und schüttelte den Kopf … und erklärte sofort, dass es wegen der vorlauten Dandys gewesen wäre, die am Kirchenportal die jungen Frauen umschwärmten. Denn grundlos nach der Messe vor allen anderen Mietern und meiner Vermieterin loszulachen, galt nach wie vor als seltsam.

***

Zurück im wahren Leben und mit dem Ende des Winters geschah etwas Ungewöhnliches: Der Mann vor meinem Fenster wurde krank. Das war deswegen ungewöhnlich, weil ich gar nicht mehr damit gerechnet hatte, dass er das konnte.

War er zuvor monatelang still schweigend auf seiner Bank gesessen, hustete er nun, röchelte oder atmete schwer. Seine Haut wurde blasser; er war fast nur noch verschnupft. Er kleidete sich auch wärmer, vergrub sein Gesicht unter einem dicken Schal und schien ernsthaft mit der Krankheit zu ringen. Den Schnee klopfte er nicht mehr ab, sondern ließ sich liegend auf der Bank einschneien. Warum ging er nur am Abend nach Hause? Warum blieb er nicht dort? Er musste doch irgend so etwas haben.

Er wurde schwach und schlief die meiste Zeit, wenn ich ihn auf der Bank sitzen sah und dann irgendwann war er verschwunden. Vielleicht erfroren oder mit Lungenentzündung in irgendeiner Gasse gestorben, wie viele Bettler diesen Winter. Ein Wunder wäre es nicht gewesen, so viele Tage wie der Mann da draußen in der Kälte verbracht hatte. Ich wusste es nicht; hatte nicht einmal den Ansatz einer Theorie, sondern nur noch seine leere Bank und viele Fragen.

Etwa zehn Tage später, als der Winter seinen eisigen Griff lockerte und der Frühling näher kam, tauchte auch der Mann jedoch wieder auf. Eines Morgens saß er auf einmal wieder auf der Bank, bis auf ein paar neue Falten im Gesicht völlig gesundet. Und das wieder jeden Tag. Er blickte weiterhin schweigend in sich hinein und war weiterhin in einer eigenen, unerreichbar fernen Welt. Es war so, als hätte es die kurze Pause nicht gegeben.

Und irgendwie, schwer zu beschreiben warum, freute ich mich darüber.

***

Ende des dritten Akts.
Branntwein:
Es ist später Abend. Die Sonne ist schon untergegangen, die ersten Mieter ins Bett. Aber ich muss auf die Toilette. Ganz plötzlich und dringend!

Obwohl wir in einem Altbau leben, verfügen wir bereits über eine Wasserspültoilette. Sie liegt im Erdgeschoss, wird wie ein Heiligtum behandelt und ist immer sauber. Und am Abend immer frei.

Ich laufe hinunter und überprüfe zuerst. Das Wasser ist nicht gefroren – eine Überraschung wie in meinem ersten Jahr steht mir nicht bevor. Sehr gut! Ich setze darauf und quetsche meinen Darm. Was der Magen nicht verdauen kann, verlässt meinen Körper. Sehr viel. Zu viel! In schier grenzenlosen Massen. Immer, wenn ich glaube, fertig zu sein, will noch mehr nach draußen. Mehr als eine Stunde sitze ich auf dem Abort und kämpfe und drücke. Soviel kann ich gar nicht gegessen haben, überlege ich noch, da will noch mehr ins Freie. Ein ganzer Ochse, den ich nicht verschlungen habe.

Als es endlich vorbei ist, krieche ich die Stufen nach oben und lege mich völlig erschöpft in mein Bett. Es fühlt sich an, als wäre ich von hier bis zur Universität gelaufen. Ich schwitze sogar. Da spüre ich ein Beben im Darm und weiß, dass noch mehr hinaus will.

***

Schlussakt, die Auflösung:
Der Winter ging, langsam und zäh und längst nicht so schnell, wie er gekommen war. Und mit der  abnehmenden Kälte gingen auch meine Theorien über den Unbekannten zur Neige. Alle plausiblen Ideen hatte ich längst abgearbeitet und alle weiteren wurden immer abstrakter und nur noch mehr an den Haaren herbei gezogen, von einer Frau, die man in einen Mann verwandelt hatte oder einem gefallenen Engel, der darüber sinnierte, ob er sich seinen Platz im Himmel zurückholen oder sich dem Antichristen anschließen sollte. Das war genug! Ich wollte jetzt endlich eine Antwort.

Am Sonntagvormittag, unmittelbar nach dem Kirchenbesuch, setzte ich mich direkt neben den Maler, Witwer, Kriegsveteranen, Exilanten und gefallenen Engel. Jetzt würde ich ihn ansprechen, sagte ich mir noch voller Entschlossenheit. Jetzt würde ich ihn endlich fragen, wer er ist.

Und was wäre, wenn er einfach nicht antwortete, schoss mir durch den Kopf, kaum hatte ich mich auf die Bank gesetzt. Er konnte mich ignorieren, genauso wie den Bettler im Herbst. Einfach gar nichts sagen und mich gegen eine Wand reden lassen. Also sagte ich nichts. Ich saß einfach neben ihm und brachte kein Wort heraus, während er mich gar nicht wahrnahm.

Und ich mit ihm die Straße studierte.

Vielleicht konnte ich ja so verstehen, was ihn so daran faszinierte.

Eine Frau kam mit ihrem Kind aus einer Hintergasse, warf uns beiden einen fragenden Blick zu und ging. Zwei übertrieben auffällig gekleidete Jugendliche, typische Dandys eben, kamen vorüber. Sie erzählten sich etwas, einer von den beiden lachte, der andere schüttelte den Kopf. Ein Kind, von der Kleidung her der Sohn eines Arbeiters, lief vorbei. Es schien zu weinen. Schien. Kurz darauf tauchten zwei junge Frauen aus einer der Haustüren auf. Beide diskutierten ganz aufgeregt und so laut, dass man ihr Gespräch sogar bis zur anderen Straßenseite hören konnte. Sie eilten in Richtung Straßenbahn. Ein Rabe kam über die Dächer geflogen, setzte sich an eine Dachrinne und krächzte laut. Dann flog er weiter. Auf ihn folgten ein Vater und sein Sohn, ein Tandhändler, der von Haus zu Haus ging, eine Gruppe Jugendlicher, ein Spaziergänger, zwei gealterte Dandys – als wären die beiden von zuvor an einem Nachmittag um ein ganzes Leben gealtert –, zwei junge Damen, fast noch Mädchen, vier sehr alte Männer, ein fröhlich pfeifender Junggeselle, ein anderer Mensch, zwei Menschen, eine Gruppe Menschen und noch mehr Menschen. Sie lachten, sprachen, liefen und spazierten, sie rannten, schlenderten, diskutierten, sahen einander zu und einander an.

Je länger ich auf der Bank saß, umso austauschbarer wurden sie. So als würden sie überhaupt nicht zur Stadt dazugehören, sondern wären nur kurze Erscheinungen, die genauso spurlos wieder verschwanden. Die Häuserfassaden, die nassen, halbverschneiten Dächer, die dunklen Fenster und die nackten, entlaubten Bäume waren das, was eigentlich diese Stadt ausmachte – alles andere nur Impulse.

Oder war die Stadt einfach nur ein Hintergrund für die Menschen, so wie die Bühne für die Schauspieler, fragte ich mich plötzlich. Sie wurde von ihnen nur bewohnt und begangen. Gelebt wurde hier immer noch von den Menschen.

Eine junge Frau, kaum 18 Jahre alt, kam die Straße entlang. Sie lächelte und war fröhlich, offensichtlich durch und durch gut gelaunt. In ihren Händen hielt sie eine Rose und roch immer wieder daran. So, glücklich mit der Blume in den Fingern, ging sie von einer Seite der Straße zur anderen und verschwand. Ihr Stück, wenn man es so sah, war einfach zu interpretieren: Sie war kurz davor zu heiraten und hatte von genau dem richtigen Mann einen Antrag bekommen. Aber nicht zum ersten Mal! Frauen, denen zum ersten Mal die Liebe gestanden wird – von jemandem, den sie auch lieben –, springen regelrecht anstatt zu gehen.

Was ihr widerfahren würde, konnte ich auch schon sagen: Die Liebe sollte nicht ewig halten, was sie ja auch gar nicht konnte. Nach dem ersten Kind oder spätestens zwei Jahre nach der Heirat würde ihre Ehe abkühlen. Die Leidenschaft schwindet; sie streiten die ersten Male wirklich laut und ihre Liebe verkümmert oder wächst – je nachdem, wie man es betrachtet – zur rationalen Zuneigung. Und am Ende ihres Stücks belächelt sie als alte Frau das bedingungslose Verliebtsein der jungen Mädchen und wünscht sich insgeheim, es selbst noch einmal erleben zu können.

Nach ihr kam über fünfzehn Minuten niemand, bis schließlich ein alter Mann erschien und langsam vorüber zog. Er ging gebückt, stützte sich an einem einfachen Gehstock. Verdrossen starrte er die Straße hinab. Sein Leben war zu Ende und das wusste er. Es würde keine große Wende mehr kommen, keine angenehme Überraschung oder eindrucksvoller Moment. Er wusste, dass ihm nur noch ein paar Jahre blieben, in denen er noch älter und noch kränker und noch gebückter werden sollte, bis er schließlich starb. Ich konnte nicht erkennen, ob er sein Leben voll ausgelebt hatte. Nur, dass es vorüber ging und ihn diese Erkenntnis innerlich zerfraß. Vielleicht verdiente er einmal viel Geld, vielleicht hat er eine große Familie, vielleicht war er die längste Zeit unglücklich, aber all das würde bald schon keine Rolle mehr spielen. Am Ende unseres Lebens, überlegte ich, scheint es wohl so, als würden wir für all die harte Arbeit und die vielen Kämpfe nicht belohnt, sondern bestraft werden. Vielleicht ging diesem alten Mann genau das durch den Kopf, als er sich gebückt und schwach über die Straße kämpfte.

Vor meinen Füßen krabbelte eine kleine Spinne, die erste in diesem Frühling, über den Bordstein. Braun, mit kurzen Beinen, eine gelblich-weiße Kugel als Hinterleib und irgendwie bizarr, so wie alle Spinnen. Sie sind Wesen, die fast nur warten, phantasierte ich mit meinem Halbwissen aus der Zoologie. Sie setzen sich in ein Netz und warten, bis sich ein unvorsichtiges Insekt darin verfängt. Das wird vergiftet, verschnürt, später ausgetrunken und daraufhin wird weiter vor sich hin gewartet. Eigentlich müssten sie die größten Philosophen der Natur sein, die ihr Leben nur darauf ausrichten, Zeit für Gedanken zu haben.

Vater und Sohn, der Kleidung nach Arbeiter, kamen vorüber und ich wollte gerade anfangen, mir über sie Gedanken zu machen, als etwas Unerwartetes geschah: Der Mann neben mir, der Mann vor meinem Fenster, mein großes Rätsel sprang plötzlich auf! Stabil auf beiden Füßen stehend, nickte er und verkündete laut und irgendwie glücklich: „Ja. Jetzt weiß ich, warum er hier gesessen hat!“

Dann ging er die Straße hinab, bog nach rechts in eine Gasse und war verschwunden. Er kehrte nie wieder. Und ließ mich mit so vielen offenen Fragen zurück.

Was hatte er hier getan?

***

Die nächsten Tage setzte ich mich weiterhin auf die Bank und studierte die Welt vor meinen Augen. Was hatte der Mann vor meinem Fenster hier gesehen? Was hatte ihn an diese Bank gefesselt? Es faszinierte mich unheimlich, hier zu sitzen und darüber nachzudenken.

Es gab soviel, worüber man nachdenken konnte.

Zum Beispiel fragte ich mich, was man wohl sehen würde, wenn man die Gebäude in der Geschwindigkeit erlebte, wie man als Mensch Menschen erlebt, im Zeitraffer sozusagen. Würde man sehen, wie schmutzig wurden und wie sie der Ruß aus den Fabriken zunehmend ergrauen ließ? Ich stellte mir vor, wie Tag und Nacht im Sekundentakt vorübergingen und die Fassaden dunkler und dunkler wurden. Nur die Fassaden. Die Fenster reagierten anders, wenn sie genug Schmutz gesammelt hatten: Sie öffneten sich, eine Gestalt huschte darüber und sie schlossen sich wieder frisch geputzt. Der einsame Baum am Straßenrand kleidete sich in saftiges, helles Grün. Es wurde dunkel, dann braun und fiel ab. Der Schnee kam; die Straße, das Pflaster, die Dächer wurden unter einem strahlenden Weiß begraben. Es taute und er ging. Das war der Zyklus, den alle Jahre gemeinsam hatten. In diesem, dann im nächsten, noch in zehn oder in hundert.

Ich sah Winter und Sommer ziehen, so schnell wie Atemzüge.

Ich sah, wie sich der Regen und der Wind ins Pflaster und in die Mauern fraßen, wie aus einer glatten Wand ein unebenes Muster wurde und wie die Fensterbalken alterten und morschten und schließlich ausgetauscht werden mussten. Risse arbeiteten sich in Minuten über den Verputz, so wie sich Wurzeln in die Erde graben. Dann hastete ein Mann mit einer Spachtel darüber und sie waren verschwunden. Ein Sturm kam und deckte einige Dächer ab, aber bis zum Ende des Jahres waren sie wieder repariert. Das Haus in der Mitte der Straße wurde zu alt und schon fast gefährlich brüchig. Irgendwann wollten die Menschen nicht mehr darin leben. Es wurde abgerissen. Der Schutt des alten Gebäudes verschwand – blitzartig vorbeihuschende Menschen trugen ihn fort –, in der neuen, freien Fläche wuchs ein Holzgerüst, dahinter Zeile um Zeile die Ziegelmauer. Fenster erschienen in den leeren Höhlen und eine schwere Holztür verschloss den Eingang zur Straße hin. Grauer Verputz legte sich wie ein makelloser Schimmel über die Ziegel und glich das Haus wieder den anderen an, das jetzt schöner und edler anzusehen war, als jede andere Fassade. Irgendwann würden die anderen Gebäude diesem Kreislauf folgen.

Es gab soviel zu sehen, allein nur in dieser Straße: Zum Beispiel, was aus den Pferdeäpfeln wurde, wenn sie niemand wegräumte; wie sie sich der Straße immer weiter anpassten und dann einfach auflösten. Einmal warf ein Knabe ein altes Weißbrot in eine unscheinbare Ecke. Keiner der Straßenkehrer räumte es weg und es überzog sich mit dunklem Schimmel. Nach zwei Wochen erinnerte daran nur noch ein kaum erkennbarer, dunkler Fleck, der beim nächsten Regen einfach weggewaschen wurde.

Menschen kamen und gingen. In der Früh schwärmten die Berufstätigen zu ihren Arbeitsplätzen, wenig später die Kinder in die Schulen. Gegen Vormittag starteten dann die Ehefrauen zum Markt und kamen eine, zwei, manchmal vier und mehr Stunden später wieder mit vollbeladenen Körben nach Hause. Männer klebten Plakate auf die Litfasssäulen und überklebten sie später mit neuen. Die Laternen gingen an und gingen aus. Jeder Tag hatte seine eigene Geräuschkulisse, von Pferdetraben bis Kindergeschrei, vom wenigen Vogelgezwitscher bis zu einem endlosen Stakkato aus Schuhsohlen, die gegen den Asphalt klopften.

Die Stadt war wie ein Kreislauf, hatte ihre Adern und Flüsse und ihren eigenen Herzschlag. Und je länger ich auf dieser Bank saß und sie studierte, umso mehr lernte ich ihn zu spüren.

***

Vier Jahre, sechs Monate und drei Tage lebte ich während meinen jungen Jahren in der Stadt. Davon sechs Monate verbrachte ich auf einer Bank. Bis sich ein Mann neben mich setzte und sich wohl fragte, warum ich hier jeden Tag saß.

– Maex, 2006

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