Der Regenbogenmacher

Maximilian Wust - Der Regenbogenmacher

Der Regenbogenmacher
Eine Cosmic-Horror-Kurzgeschichte von Maximilian Wust

DEN RÜCKWEG ABSCHNEIDEN.

Das hatte dieser eigenartige Kerl an Gleis 9 gesagt. Er wirkte abgekämpft, schmutzige Kleidung, fettige Haare, das Gesicht von Alkohol oder Schlimmerem zerfurcht. Die rechte Augenbraue zuckte, als er mir erklärte, wie man sich selbst zu großen Schritten und Änderungen bewegt: indem man sich den Rückweg nimmt. „Reiß die Brücken hinter dir ein“, stammelte er, „und du kannst nur noch vorwärts.“ Dann warf er sich vor den Zug.

***

Ich stehe vor dem kaltgeschliffenen Klippen. Alles endet hier, das Land, die Welt, mein Leben, bricht auf und stürzt in dunkle, unerforschte Wassermassen. Sie schlagen schäumend und tosend gegen schwarzen Stein. Tonnenschwere Wellen schieben sich gegen den Fels, zerbersten daran mit der Kraft von einem Dutzend Güterzüge. Ich stelle mir vor, wie Schildkröten davon erfasst werden und gegen die harten Flächen schlagen. Ihre blutigen Leichen, die unzerstörbaren Panzer zerstört, wie sie am Strand liegen und die Möwen blutige Fäden herauspicken. Dunkle Wolken verdecken den Himmel. Nasskalter Dunst schwebt herab. Die perfekte Kulisse für meinen Abschied.

Es ist vollbracht, alle Brücken hinter mir eingerissen. Unsere Kunden bemerkten meine Betrügereien, vermutlich hat bereits die Polizei an meiner Tür geklingelt. Meiner Frau habe ich alles gebeichtet und zudem noch erfunden, sie mit einer Kundin betrogen zu haben. Sie wird mich hassen und den Kindern beibringen, wen sie für ihr verkorkstes Leben verantwortlich machen müssen. Ich werde als ein Beispiel für einen schlechten Menschen verschwinden, aber das ist so gewollt. Ich habe mein Leben in Brand gesteckt, auf dass ich nicht mehr zurück kann. Es gibt nur noch den Weg nach vorn.

Ich wandere am Abgrund entlang, gewohnte Felsen, gewohnte Formationen, bis ich die Steinhaufen finde. Sie sind unscheinbar, von Moos und Regen zu einem Teil der Landschaft reduziert, aber immer noch nicht verschwunden. Gleich darauf entdecke ich den Pfad, der sich gefährlich schmal an der Klippe herabschlängelt. Ich bin also am Ziel. An der Endstation

Ohne jedes Gefühl gehe ich zurück zum Auto, hole den langen Mantel vom Beifahrersitz, löse die Handbremse und presse mich gegen das Heck. Es dauert nicht lange, dann gibt der alte, rote VW Golf nach. Er bewegt sich, schneller und schneller und rollt schließlich über die Böschung. Ich sehe noch seinen Bauch, dunkelgraues Gestänge auf dunkelgrauem Metall, bevor das Fahrzeug hinabstürzt. Die Wellen nehmen es schäumend auf. Für einen Moment erkenne ich andere, die fahrbaren Untersätze meiner Vorgänger, die sich schemenhaft, unnatürlich glänzend am Meeresboden sammeln. Sie mussten sichergehen. Sie wussten, dass ein Auto eine Chance auf Überleben bedeutet hätte.

Für einen Augenblick studiere ich sie. Dann sind sie verschwunden, mein Golf bei ihnen und vielleicht wird ihn eines Tages ein anderer unter dem Meerschaum sehen, der genau denselben Gedanken führt.

Ein letzter Moment der Besinnung, dann gehe ich los. Ich folge dem Pfad. Vorsichtig. Er ist schmaler geworden und ich größer. Ich klammere mich an das feste Gras und nassen Stein. Immer wieder muss ich nach stabilem Halt suchen und zu oft will ich ihn nicht finden. Kiesel bilden winzige Lawinen und ergießen sich in die hungrige See.

Es dauert eine Weile, aber ich arbeite mich voran. Die Höhle ist bald nicht mehr weit. Ich sehe sie, diesen unscheinbaren, schwarzen Schlund um grauschwarzen Fels. Er hat schon viele verschluckt. Heute werde ich einer sein.

***

Diese eine Höhle, dieses Loch im Stein, hat mein ganzes Leben geprägt.

Meine Familie kam oft hierher, mindestens dreimal im Jahr, um auf der Klippe ein Picknick zu veranstalten und am Ende der Welt entlang zu schlendern. Mutter, bildhübsch in einem zitronenweißen Frühlingskleid, Vater mit Karohemd und Hosenträgern. Die Schöne und der Ingenieur mit den großen Gehaltsschecks, das waren sie. Meine Brüder sollen hier gezeugt worden sein. Warum auch immer sie das ihren Kindern erzählten. Aber das ist längst vergangen und verziehen.

Eines Tages, da war ich neun, fuhren wir weit nach Süden, wo niemand mehr lebt. Die Bewohner mieden die Gegend. Wohl schon seit hundert Jahren oder so. Der alte Tropfengott soll dort hausen, erzählte meine Großmutter. Er will Schafe und kluge Krieger als Opfer, als Fett und Schneeflocken, und dass er schon seit einem Jahrhundert keine mehr bekommen hat, wird ihn hungrig gemacht haben. Hungrig und listig. Deswegen geht niemand mehr dorthin. Ich fragte noch, von kindlicher Naivität geleitet, ob es ihn wirklich gibt, diesen Tropfengott. Großmutter log.

An der Klippe angekommen, gingen meine Brüder und ich auf Erkundung. Die Sonne fiel von einem fast wolkenlosen Himmel herab, meine Eltern aßen Butterkuchen, während wir durch die Ruine eines Leuchtturms kletterten. Das war damals, noch vor dem Kassettenrekorder, da hatte es noch keine Absperrketten gegeben. Oder Schilder, von wegen, dass Eltern für ihre Kinder haften.

Als sich unser Ältester wieder auf mich setzen musste, um Spucke und Tränen aus mir herauszupressen, brauchte ich eine meiner Pausen vom Brudersein und schlenderte die Klippe entlang. Ich rupfte Grasbüschel aus dem kargen Boden, ich warf Steine ins Meer, nahm Heuschrecken die Beine ab und entdeckte die zwei Steinhaufen und gleich darauf auch den Pfad, eben jenen Pfad, der zu eben jener Höhle hinabführte. Und dumm und mutig und neugierig wie ich war, folgte ich ihm eben auch.

Am Ende wartete einer Belohnung gleich die Höhle. Dunkel und mysteriös. Das war toll! Die Abenteuerphantasie von jedem Buben. In meiner Vorstellung waren Höhlen endlose Tunnelsysteme, Labyrinthe aus Tropfsteinen, mit unterirdischen Seen, funkelnden Edelsteinen in den Wänden, auf magische Art beleuchtet, meistens blau, wie in den Zeichentrickfilmen. Vielleicht haust auch noch ein Monster darin, das so manches großes Geheimnis bewacht. So dachte ich dumm. In Wirklichkeit sind es dunkle, kalte Löcher voller Ungeziefer. Bestenfalls. Nur diese Höhle nicht. In ihr hauste wirklich ein Monster.

Ich staunte noch, als ich bemerkte, dass die Wände anscheinend von einer Handbreit durchsichtiger Gelatine überzogen waren. Quallenfleisch, das wohl die ganze Höhle vereinnahmt hatte. Ich atmete aufgeregt, als ich an der Decke Kokons aus Kalk erkannte. Ich hätte geschrien, als der Gallert plötzlich nach mir griff.

Ein Arm aus durchsichtigem Gelee, aber stärker wie der meines Vaters. Viel zu kräftig, um sich dagegen zu wehren und grausam, wie ich eben noch zu den Heuschrecken. Er stieß aus der Dunkelheit, schlang sich um meinen Hals und hob mich in die Luft. Jemand inspizierte mich. Etwas. Ein formloses Wesen aus weißer Götterspeise. Knochen tanzten in seinem Inneren, von Schafen, Hunden, Vögeln und Fischen. Da war Fleisch, das sich gerade erst auflöste und Skelette, die zu Hirsebrei zerfielen. Für einen Moment sah ich mich bei ihnen. Ein Kinderskelett in der Gelatine.

Dann sprach das Wesen, der Tropfengott. Nicht mit Worten oder Gestiken, sondern mit nackten Emotionen, präzise geformt und direkt in meinen Verstand gepflanzt. Flüstern, so laut wie ein Donnergrollen. Ich sah es. Was er dachte, was er sah, an was er sich erinnerte – es floss durch seinen Arm in meine Venen. Und alles, was ich dachte und sah, kehrte auf gleichem Weg in ihn zurück.

Wir hätten die Abmachung gebrochen, sagte er mit Worten, die nicht greifbar sind. Keine Tiere waren ihm mehr eingeflößt worden, seit dem Krieg der Flugmaschinen und keine Krieger hatten sich ihm mehr offenbart. Es wäre seinem Ehrgefühl geschuldet, dass er jedoch seinen Teil des Vertrags weiterhin einhalten würde. Er würde immerzu Glückliche in die Sterne entlassen, wenn nun auch nicht mehr so wählerisch. Ich solle sie ihm bringen. Das war auf einmal ein unmissverständlicher Befehl. Alle drei Brüder und die beiden Eltern. Ich würde sie in seine Höhle locken oder sein Priester, sein geliehenes Geschenk, solle mein Fleisch zu Wasser machen. Meine Familie, in seine schleimigen Arme getrieben, und ich dürfe gehen. Es war so lange her, dass er geschmolzen hatte.

Damit entließ er mich. Ich lief panisch aus der Höhle, kletterte den Pfad wieder hinauf und warf mich oben angekommen ins Gras, um zu weinen. Vor Panik, vor Angst, vor Freude, da spürte ich etwas an meinem Nacken: Einen kleinen Klumpen Gelatine, der Priester, ein Teil von ihm, mit dem er durch meine Augen sah und meine Gedanken kostete. Er würde mich verdauen, wenn ich nicht genau das tat, was er verlangte. Wenn ich mich nicht fügte. Ich fügte mich.

Ich weiß nicht, ob er meinen Verstand erweiterte, ob er mich lenkte oder ob ich schon immer gewesen bin, aber mit einem Mal sah wusste ich genau, was ich zu tun hatte. Und es fiel mir auch nicht schwer, es in die Tat umzusetzen.

Meine Brüder fand ich immer noch im Leuchtturm vor. Sie hatten inzwischen den staubigen Tisch zerlegt und überlegten, wie sie damit den ganzen Turm anzünden konnten. Dazu fehlte ihnen leider das grundlegendste aller Werkzeuge: ein Feuerzeug. Da kam ich herein. Ich solle eines holen, das vom Papa, ihm irgendwas erzählen und dann damit zurückkommen. „Der Leuchtturm ist mal egal“, bestimmte ich. „Mir nach. Ich hab‘ ´ne Höhle gefunden. Da drin ist ein Skelett! Das müsst ihr euch anschauen!“

Sie folgten mir ohne zu zögern. Unser Zweiter hatte Angst, wie immer, aber wenn sogar ich, der Jüngste vorausging, durfte er sich das nicht anmerken lassen. Sie stiegen mit mir den Pfad hinab, sie staunten wie zuvor ich beim Anblick der Höhle, sie hätten geschrien, als der Tropfengott nach ihnen griff. Noch bevor sie die Lungen füllen konnten, um eben das zu tun, schreien, stießen ein Dutzend durchsichtiger Arme aus dem Dunkel, umschlangen meine Geschwister und rissen sie ins Finster. Sie verschwanden beinah lautlos. Nur das Scharren ihrer Schuhe auf dem steinigen Boden war noch zu hören. Kein Wort, kein Laut, kein Atemzug.

Danach lief ich zu meinen Eltern. Unser Ältester wäre mal wieder zu vorlaut gewesen und wir wären in eine Höhle geklettert, wimmerte ich panisch. Und jetzt wäre er eingeklemmt, in so einer Spalte, und die anderen wären noch bei ihm und wir bräuchten dringend Hilfe. Mein Vater verpasste mir eine wütende Ohrfeige, zischte verachtend und stieg zur Höhle hinab. Meine Mutter blieb an der Böschung zurück. Das war unerwartet. Eine Störung. Sie hätte mitgehen sollen.

Als sich mein Vater schon etwas zu lang nicht mehr gemeldet hatte – nur Sekunden, die aber ausreichten, um zu verstehen, dass etwas gar nicht stimmt – wurde meine Mutter misstrauisch. Was war meinem Bruder genau passiert? „Was ist das für eine komische Höhle?“, fragte sie, als würde dort unten ein Monster lauern.

„Da schau! Papa ist doch schon wieder da“, sagte ich und deutete auf den Pfad. Da war er nicht, aber sie wandte sich um und gab mir genug Zeit, sie mit einem Stein niederzuschlagen. Ein neunjähriger Knirps, der einen Felsklumpen vom Boden aufhebt und damit seine viel größere Mutter niederstreckt. Was für ein Bild! Es klickte eigenartig, als ich zuschlug. Wieder und wieder, weil ich sichergehen musste, dass nicht wieder aufstand. Ihr Blut tropfte von meiner rechten Hand. Ihr Gesicht badete darin. Aber sie lebte noch.

Der Rest war eine Hinrichtung: Ich zerrte sie den Pfad hinab, mit einer Kraft, die ich danach nie wieder besaß, bis zur Höhle des Tropfengottes. Sein im Sonnenlicht glänzender Arm schälte sich aus dem Dunkel hervor, festes Wasser, ertastete den Leib meiner Mutter und zog ihn in die Grotte. Im Innern sah ich meine Brüder auf dem Höhlenboden liegen. Sie waren nackt. Eiter tropfte aus ihren Körperöffnungen. Sie zuckten. Und der Tropfengott baute ihnen neue Kokons aus Kalk. Er leckte ihn von den Wänden und formte ihn Schicht für Schicht zu einer Schutzhülle, während er unserem Vater die Kleider vom Leib schälte wie die Schale von einer Banane. Ein Arm drang aus ihm hervor, mit neun giftigen, gelben, eitrigen Nadeln. Ich wusste, wie viele es waren, ohne sie zu zählen. Damit umarmte er meine Mutter, blutig, und schwängerte sie mit dem Gift. Sie würde meinem Vater folgen, er meinen Brüdern, sie ins Kokon.

Er bereitete meine Familie vor. Auf was auch immer.

Währenddessen, in genervter Beiläufigkeit, griff er nach mir, dem Priester, dem Tropfen an meinem Nacken, kappte unsere Verbindung und stieß mich aus der Höhle. Ebenso beiläufig. Kein Wort der Warnung, keine Drohung, falls ich zurückkehren würde oder Hilfe holte, nichts. Ich war nur noch ein Störenfried, der jetzt zu gehen hatte. Er brach nicht einmal unseren düsteren Pakt.

Dass er das überhaupt hätte tun können, kam mir seltsamerweise erst viel später in den Sinn.

***

Es dauerte bis zum nächsten Morgen, bis mich ein Schäfer fand und der Polizei übergab. Auf der Wache erzählte ich den Männern alles, jede noch so unglaubwürdige Kleinigkeit, vom Tropfengott und meinen Taten, worauf sie mir Unterernährung, Fieber und Panik diagnostizieren – was auch alles der Wahrheit entsprach – und mich an meine Großmutter übergaben.

Meine Eltern, die Höhle und das Monster wurden natürlich nie gefunden. Man durchkämmte das Gebiet sogar mit Hunden, konnte aber nur noch die verlassene Picknickdecke ausfindig machen. Die Möwen hätten unseren Butterkuchen gefressen, sagte mir später ein Polizeimann. Ohne jeden Zusammenhang.

Ein Freund meiner Großmutter spekulierte dagegen auf Selbstmord: Der sowieso seltsame Ehemann, ein verwichster Type, hätte sich mit seiner Familie von den Klippen geworfen und ich wäre halt als Einziger entwischt. Armer Junge. Jetzt phantasiert er. Was für ein armer Junge.

***

   Ich weiß nicht, wie lange ich bei meiner Großmutter im Gästezimmer lag und die Wände anstarrte. Es waren wohl Wochen. In meinen Träumen sah ich den Tropfengott. Schlimmer noch, ich sah durch seine Augen, ich war er, als neun stolze, keltische Krieger in seine Grotte kamen. Sie legten die Fackeln ab, weil ich das Feuer fürchtete und kamen zu mir ins Dunkel. Dann nannten sie ihre Namen und ließen sich greifen. Später lagen sie zuckend am Boden, wie meine Brüder, die Mundränder voller Gift, mit dem ich sie großzügig fütterte.

Ich sah Maschinen, primitiv aber beeindruckend, die laut über den Himmel glitten. Sie beschießen sich gegenseitig, lassen einander in Rauch aufgehen und geben die Feinde an den Boden zurück. Streitwägen, die das Fliegen gelernt haben.

Ich war am Nil, bei einer Stadt die sie einmal Theben nennen werden, mein Leib zersetzte Krokodile und Nilpferde, während ich Zeuge werden durfte, wie sie aus weißem Sandstein Statuen bauten. Schön, hoch und beeindruckend sollten sie einen ihrer Könige darstellen. Schön und hoch sind sie fürwahr.

Dann wachte ich auf. Wenn ich das tat, nach so einem Traum wieder als Mensch zu erwachen, hatte ich stets mein Bett genässt. Oder geschrien, bis Großmutter kam, um mich zu trösten. Es dauerte Monate, bis ich zum ersten Mal wieder Wasser sehen konnte, ohne selbst welches zu lassen.

***

   Einige Jahre später, einsam und seltsam, aß ich mit Großmutter einen Hirseauflauf. Süß, mit Kirschen und doch ohne jeden Geschmack. Auf einmal, wie aus dem Nichts, erzählte sie von dem Tropfengott. Du weißt schon, das Tier, das deine Familie genommen hat, sagte sie noch. Das meinen Sohn zu sich gerufen hat.

Einmal, da war er eine Gebärmutter gewesen, eine von neun, von einer Gigantin, die blind und träumend im Licht der Sonne badete. Eines Tages schnitt man sie heraus oder sie sich selbst. Aber was spielt das schon für eine Rolle? Sie oder er floh, hinab auf eine nasse Welt, wo er sich schwor, neues Leben zu schaffen. Neue Giganten vielleicht. Schönheit aber. Unglaubliche Schönheit.

Ich starrte sie an.

Lange.

„Woher weißt du das alles?“, fragte ich schließlich. Und wenn sie von dem Tropfengott wisse, warum habe sie dann ihren Sohn und seine Familie dorthin geführt. Sie war es doch gewesen, die uns die schönen Stellen im Süden geraten hatte, am alten Leuchtturm, jedes Jahr wieder, bis mein Vater schließlich nachgab.

Großmutter lächelte. Weil sie seine letzte Priesterin gewesen war. Ständig hatte sie Touristen zu ihm gelockt und Leute, die sich verfahren hatten. Sogar einen Nazi-Offizier, damals, und zwei Landstreicher, zwei hungrige Waisen, einen liebestollen Trottel. Viele Jahre lang. Aber jetzt war sie von der Pflicht befreit worden, von allem, wie auch unsere geliebten Verwandten. Der Ballast eines fleischlichen Körpers wäre von ihnen genommen worden.

„Weißt du eigentlich, was du da gerade von dir gibst?“, fragte ich und kämpfte gegen so wütende Dämonen, wie ich sie zuvor noch nicht erlebt hatte.

Und ob, erklärte sie. In sechs Jahren, neun Jahre nach diesem Unglück, da solle ich in der Nacht zum 1. Mai, dem heiligen Bhealltainn, zur Höhle gehen und warten. Mit den ersten Strahlen der Sonne würde ich ein Wunder sehen. Das Werk der letzten Jahrzehnte, alle Opfer, willig und unwillig, vollendet in kosmischer Kunstmalerei! Es sind immer die hässlichsten Künstler, die die schönsten Bilder malen, sagte sie noch. Unser Künstler wäre, zugegeben, hässlich und seine Farben, nun ja, geschmolzener Mensch, aber seine Werke, seine wunderbaren Werke, sie wären jedes Opfer wert. Was für eine Ehre für ihren Sohn, ihre Enkel, seine tumbe Frau, Farbe zu sein. Pinselstriche auf der Leinwand des Universums.

Die letzten Worte wurden wie in Trance gesprochen.

Es waren ihre Letzten.

Denn ich erstickte sie mit einem Kissen.

Die Ärzte sprachen von einem friedlichen Tod im Schlaf. Sie bekam einen schönen Grabstein am Ortsende, mit Schmetterlingen aus Messing. Es blieb stets schön und gepflegt, obwohl ich es kaum einmal im Jahr besuchte.

***

Großmutter sollte jedoch Recht behalten. Sechs Jahre später stand ich wieder an jener Klippe. Nicht einmal zwanzig Meter trennten mich noch von dem Schlund, der damals meine Familie verschluckt hatte. Es waren noch andere dort, Menschen, vermutlich ebenso ehemalige Köder und Spielfiguren wie ich, aber wir gingen uns aus dem Weg. Jeder andere stellte für uns nur einen Schemen dar, die es zu ignorieren galt, wenn man nicht in den Spiegel blicken wollte.

Wir warteten, stehend in der kalten, salzigen Luft, bis die Sonne aufging und tatsächlich: das Wunder wollte geschehen. Schönheit erhob sich aus der Höhle des Tropfengottes. Regenbogenfarbene Schmetterlinge, groß und schön und vollkommen, breiteten ihre Schwingen aus und glühten bunt und erfüllt im ersten Licht der Sonne. Jeder ihrer Flügelschläge entsandte eine Woge aus schillernden Sternen über den Horizont, ein Nordlicht aus Goldstaub, heiliges Feuer, das dem Bifröst gleich in allen Farben des Regenbogens schimmerte. Walküren, die den gefallenen Kriegern den Weg nach Walhalla weisen, wo ihre geplagten Seelen göttlich entlohnt werden.

Da waren zwei, lang wie Drachen und ein Mann neben mir seufzte. Da waren nochmal zwei, klein und zierlich, wie die Säuglinge eines Gottes und eine Frau neben mir weinte. Da waren fünf, drei mutige, vorlaute Knaben, die ihren stolzen, schönen Eltern in den Himmel folgten. Da waren noch viel mehr. Wahrhaft, Pinselstriche auf der Leinwand des Universums.

Ich habe nie wieder so viel Schönheit gesehen.

Ich habe nie wieder geweint.

***

Der Rest meines Lebens war so kläglich, wie er nur hätte sein können.

Meine Jugend – oder als was sich das schimpfen wollte – verbrachte ich im Haus meiner Großmutter. Nur unweit von den Klippen und dem Tropfengott entfernt. Ich ging dort zur Schule, wurde von Stärkeren gehänselt und war wiederum grausam zu Schwächeren, bekam das Herz gebrochen und versuchte, ein halbwegs normales Leben zu führen, obwohl ich es doch besser wusste.

Niemand würde mir glauben und niemand glaubte mir je. Ich wurde zum Hüter der dunkelsten Geheimnisse. Meine erste Freundin erklärte mich für verrückt, meine zweite erfuhr es nie. Ich versuchte mich in Kunst, schwarze Wesen, mit der Tuschefeder zum Leben erweckt. Ich schloss mich Gruppen an, Satanisten, Esoterikern, Däniken-Anhängern, Suchende nach dem Paranormalen, bevor ich sie allesamt als Spinner abtun musste. Ich suchte nach Möglichkeiten, den Schmerz zu teilen und fand sie doch nie. Mein Therapeut sprach von Wahnvorstellungen und am liebsten hätte ich ihm geglaubt.

Mit 20 verkaufte ich das verfluchte Haus und zog so weit weg, wie mich die Landessprache brachte. Später heiratete ich, ein kleines Frauchen, das jeden genommen hätte und bekam mit ihr hässliche Kinder, für die ich bestenfalls so etwas wie Mitleid empfand. Ich ging zur Arbeit, wurde befördert, aber kam trotz aller Bemühungen einfach nicht mehr an die Menschheit heran. Wir, also meine Spezies und ich, blieben uns fremd. Vielleicht war das auch besser so.

Was nicht heißt, dass ihre Welt nicht interessant blieb. Da gab es Kriege, in Vietnam und sonst wo, eine Rakete flog zum Mond und ein Mann sprang darauf über weiße, tote Hügel. Staub, als wären sie aus zermahlenen Knochen. Stephen King schrieb viele Bücher. Ich habe keines gelesen.

Eines Tages dann beschloss ich es zu beenden. Soll nicht heißen, dass ich es auch gleich in die Tat umsetze, doch der Gedanke begann in mir zu keimen. Ganz klein, nur eine Idee, ein Impuls, später ein Gedankenspiel, bevor es tumorartig zu einer Obsession heranwuchs. Zum Schluss fehlte mir nur noch der Mut. Bis sich dieser Mann vor den Zug warf.

Seinem Rat folgend zerstörte ich mein Leben und zog los.

***

Nun ist er da, der Schlussakt meines Lebens, die letzten Seiten vom letzten Kapitel.

Ich steige die verfluchte Klippe hinab. Kalte, salzige Luft heult mir entgegen. Sie will mich verbrennen. Unter mir brechen die Wellen, hungrig schäumend, wie ich mir einrede. Sie gieren nach mehr, jetzt wo sie meinen Wagen gekostet haben. Die Steine sind glatt, der Weg schmal. Trotzdem vermischen sie sich heute nicht mit Menschenblut. Dazu bin ich zu weit gekommen.

Es dauert trotzdem lange, bis ich ankomme, aber schließlich stehe ich vor der Grotte. Sie wirkt jetzt kleiner. War sie damals noch ein Schlund, ist sie jetzt nur noch ein Loch im Fels. Doch das täuscht, habe ich schon einmal verstehen müssen. Dann setze ich einen Entschluss in die Tat um. Es wird Zeit.

Ich schüttle alle Zweifel ab und greife in meinen Mantel. Meine Finger ertasten den runden Metallrahmen. Die Uhr ist schnell eingestellt, der Knopf gedrückt. Mir ist, als könnte ich sie ticken hören, obwohl ich das natürlich nicht kann. Der Wellen und der Wind sind viel zu laut. Spielt keine Rolle. Ich gönne mir einen letzten Atemzug und trete ein.

Dunkelheit empfängt mich. Es ist dunkler als in meiner Erinnerung. Einen Moment lang glaube ich noch, dass er nicht mehr hier ist, doch dann erkenne ich ihn. Die Geißel meines ganzen Lebens. Glitzernder, gaffender Gallert, der sich von den Wänden löst. Knochen, die in ihm umher schwimmen. Der Tropfengott. Und mein Mut ist nicht mehr.

Ich lasse den Mantel fallen, vorsichtig, damit man die Uhr in der Tasche nicht hört und beginne mein Hemd zu öffnen. Tentakel lösen sich aus dem Tropfengott heraus und streben vorsichtig auf mich zu. Er erkennt mich. Am Geruch, wie ich spüre. Kaum habe ich das Hemd abgelegt, berühren mich seine Extremitäten. Sie umspielen mich vorsichtig, als würde er seinen Augen nicht trauen und Emotionen jagen durch meinen Geist.

Nur wenige seiner Jäger kehrten je zu ihm zurück, erklärt er mir in seiner wortlosen Sprache.

Ich konzentriere mich auf den einen Gedanken, den ich seit so vielen Jahren geschmiedet habe: Dass ich zu meiner Familie will. Dass ich zu ihnen in den Himmel schweben möchte.

Er warnt mich. Zu meiner Verwunderung. Er erklärt mir, dass er mich nicht einfach verwandelt. Er würde mich schmelzen, Fleisch, Knochen und Seele, zu einem Brei, einer Essenz und daraus ein Wesen bauen, das sich vielleicht noch daran erinnert, einmal etwas anderes gewesen zu sein, vielleicht noch die Empfindung eines Menschen in sich trägt, aber doch nichts mehr mit dieser jungen Spezies gemein hat. Er bietet mir anscheinend sogar an, mich gehen zu lassen. Ich spüre keine Böswilligkeit.

Trotzdem willige ich ein. Ich bestehe sogar darauf – „Du hast mir diese Welt genommen, du hast sie zu einem Gefängnis gemacht, befreie mich jetzt davon!“ – und er verspricht mir, dass ich keinen Schmerz verspüren werde.

Seine Arme – ich will sie nicht mehr Tentakel nennen – wiegen mich sanft. Neun Nadeln dringen in mich ein, aber sanft. Ich spüre sie kaum. Die Arme legen mich auf den Boden, sie betten mich, den Kopf zuletzt. Ich spüre, wie sich das Gift in mir ausbreitet. Die Substanz klettert an meinen Nervensträngen entlang und löst mein Fleisch. Seine Arme lecken den Kalk von der Höhlendecke.

Mein Kokon, mein Fährmann aus dem Menschsein, wird bereitet und ich löse mich auf, ohne mich aufzulösen. Meine Sehnen werden weich. Ich kann die Arme nicht mehr bewegen, aber mein Verstand wächst. Es ist, als würde er in den Saft gleiten, der meinen Körper zu Brei macht.

Es würde noch einige Stunden dauern, verstehe ich. Lerne ich. Meine Sinne würden verstummen, aber ich würde sie auch nicht mehr brauchen. Mein fahler, weicher Körper würde in einer festen, dicken Schale aus Kalzium verschwinden, eingesponnen werden und zergehen. Ein Schlaf stünde mir bevor, warm und geborgen, zurück im Stadium eines ungeborenen Kindes. Und dann, nach Jahren, würde ein Schmetterling in glühendem Violett in den Himmel steigen und dort eins mit den Strömen aus Licht werden.

Würde.

Ich kann meine Gedanken nicht mehr vor dem Tropfengott verbergen. Sie sind zu laut. Er hört sie. Er versteht. Seine Sinne wandern zu meiner Jacke. Er hört die Uhr, spürt die Vibrationen des Zeigers und riecht die Spurenelemente. Palmitinsäure. Aluminium. Benzin. Er versteht. Und schreit, stumm, aber so laut, dass mein Geist davon taub wird.

Ich entschwinde in eine schmerzhafte Leere.

***

Wenn man nur einen kurzen Blick auf das aktuelle Weltgeschehen wirft, auf Kriege und Mondlandungen, auf berühmte Gesichter und ihre Aussagen, dann versteht man zwei Dinge, zwei Wahrheiten, mit denen ich in seine Höhle zurückkehrte.

Die eine lautet, dass alles endet. Jeder Popstar, jeder berühmte Schauspieler und jeder große Politiker wird unbekannt und stirbt, jeder Vertrag gelöst, jedes Haus abgerissen und jedes große Ereignis verblassen. Sogar die Götter wird man vergessen. Der letzte Christ wird eines sterben oder konvertieren, Gott wird schließlich nur noch ein primitiver Aberglaube alter Zeit sein und Allah wird ihm folgen. Jede Geschichte gelangt unausweichlich an ihre letzte Seite. So auch die des Tropfengottes.

Und die zweite Wahrheit ist bedeutend simpler: Napalm ist leicht herzustellen. Man braucht nur Benzin, ein paar andere, ganz gewöhnliche Chemikalien und einen Bibliotheksausweis, um es zu lernen und zu mischen. Einen Zeitzünder kann man aus einer einfachen Armbanduhr, etwas Draht und einer Batterie bauen. Deswegen schaffen das sogar Terroristen, die kaum lesen können. Kombiniert ergibt das einen Sprengsatz, eine Brandbombe, die – korrekt angewandt – sogar ein Wesen töten kann, dass sich für einen Gott hält.

***

Es kreischt. Seine Arme greifen nach der Jacke. Er will sie nach draußen werfen, aber ich habe sie zuvor mit Salz eingerieben. Eine Theorie, die sich bewahrheitet. Er, der er nur aus Feuchtigkeit besteht, faucht und heult. Er lernt Schmerz kennen. Und versucht es noch einmal. Er nimmt allen Mut zusammen, unterdrückt die brennende Qual, aber da ist es schon zu spät.

Ich glaube ein Zischen zu hören und Feuer flutet die Höhle. Unauslöschbares, unbesiegbares Feuer. Ich verbrenne. Der Tropfengott verdampft. Es löscht ihn aus.

Er wird niemals mehr Familien zerreißen.

– Maex, 2007

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