Der Revolvero

Maximilian Wust - Der Revolvero

Der Revolvero
Ein Western-Slapstick von Maximilian Wust

ES GIBT DIESE Legende.

Im Wilden Westen, Mitte des 19. Jahrhunderts, als Männer noch echte Männer waren – und jeden Fremden erschossen, der ihr Land betrat, da sie vor allem echt paranoide Männer waren –, gab es so einige, die das Revolverziehen zum Beruf machten. Die meisten, weil sie sich sogar für einfache Farmarbeiten zu blöd anstellten; andere, weil sie es besonders gut konnten und wieder andere, weil ein Serienmörderdasein damals so am einfachsten möglich war.

Eines jedenfalls hatten alle Revolverhelden gemeinsam (neben der Tatsache, dass sie selten 30 wurden): Sie fürchteten sich vor dem Revolvero. Von Utah bis Santa Fe, von San José bis zum Cottonwood Creek und anderen Orten, die man aus guten Wildwestklischees kennt, galt der Revolvero als ein Bringer von Schrecken und Nehmer von Dingen, die ihm nicht gehören.

Seine Taktik war dabei die eines jedem dümmeren Banditen, nur halt gepaart mit der Fähigkeit, besser zu schießen, als die anderen: Er kam in ein Dorf und verlangte, ihm alle Wünsche zu erfüllen. Wenn sich jemand weigerte, was meistens der Sheriff war, forderte ihn der Revolvero zum Duell und verteilte sein Hirn über die Straße – was vor allem die pädagogisch korrekte Entwicklung der Kinder des Dorfes schwierig machte. Um ihren Nachwuchs also vor diversen Traumata und ihren Sheriff vor einem dritten Nasenloch in Stirnhöhe zu schützen, gaben die meisten Dörfer dem Revolvero einfach, was er wollte. Kam er in eine Siedlung, trank und aß und feierte er zwei, drei Tage auf Kosten der Leute und zog weiter. Der blöde Kerl. Frauen fasste er aber keine an. Nicht, weil er nach einem Ehrenkodex lebte, denn das tat er als blutiger Unterdrücker sicher nicht, sondern weil er eine ganz extreme Phobie vor dem anderen Geschlecht hatte. Die einzige Frau, mit der er jemals intimer wurde, war sein Onkel, als Frau verkleidet.

***

Und so, wie er feiern und auf Kosten anderer leben konnte, so konnte er auch schießen. Insgesamt 21 Männer wurden von den Kugeln seiner Pistolen getötet, außerdem zwölf Pferde, sechs Hunde, vier Rinder, drei Schafe, zwei Hühner und eine Vogelscheuche, die er betrunken mit einem anderen Revolverheld verwechselte … und seine beiden Colts dreimal nachlud und die Vogelscheuche regelrecht mit Kugeln voll pumpte, bis er halbtaub zusammenbrach und seinen Rausch auf dem Acker ausschlief.

Man erzählte sich so einiges über seine Schießkünste. Angeblich konnte er zwanzig Kugeln mit einem sechsschüssigen Revolver abfeuern ohne nachzuladen – befragte man die Augenzeugen, wie er das bitte schaffte, antworteten sie meistens „Ähhhhh …“, „Ich bin arm und würde für einen Whiskey alles erzählen!“ oder „Meine Eltern waren Geschwister!“. Andere erzählten, er könne seine Pistole so schnell ziehen, dass er damit Blitze erzeugte. Einmal sollen die sogar einen seiner Feinde wiederbelebt haben, worauf er ihn noch mal erschießen musste. Wieder andere meinten, sich daran erinnern zu können, wie seine Pistolen nur glühend den Halfter verließen, weshalb sie spätestens nach dem dritten Ziehen unbrauchbar wurden. Aber die, die sich daran erinnern zu glaubten, glaubten auch, dass die Erde eine Scheibe ist und schlechte Ernten ausgeglichen werden können, indem man Huren und Kräuterweiber ertränkt.

Der Revolvero konnte allerdings tatsächlich legendär präzise Blei durch die Luft schicken. Sheriffs, Debuties und übermütige Bauern verwandelte er reihenweise in Hohlköpfe. Als ihn einmal acht Männer der Federal Marshalls jagten – einfach, weil niemand mehr Lust auf seine „Gebt mir alles oder sterbt!“-Nummer hatte –, zeigte er sein wahres Talent: Fünf erschoss er mit seinem Colt. Vor dem sechsten holte ihn eine seiner psychischen Erkrankungen ein; er glaubte ganz spontan, der Revolver wollte ihn die Figner beißen; und er musste die anderen anders erledigen. Nummer Sechs und Sieben erschoss er mit seinen Zähnen, der Achte starb an Typhus, sechs Monate später.

Ein andermal überfiel der Revolvero eine Postkutsche – nicht, weil er an die wertvollen Briefe und kostbare Wechselkleidung der Fahrgäste wollte, sondern weil man das als Revolverheld halt macht. Auf einer Landstraße in der Nähe eines Rinderskeletts (komischerweise lagen im Wilden Westen überall Tausende von skelettierten Rindern herum), fing er die Kutsche ab … und geriet in eine Falle: In der Kutsche saßen nämlich keine normalen Fahrgäste, sondern vier Kopfgeldjäger und außerdem ausgezeichnete Schützen; erst Ersteres, dann Zweiteres. Diese fuhren seit Wochen die regulären Postkutschenstrecken ab, sozusagen als Köder, und überfielen Postkutschen überfallende Outlaws.

So kam es, wie es kommen musste: Die Luft wurde bleihaltig. Die Kopgeldfjäger nahmen den Revolvero schon auf Distanz unter Beschuss, während er mit gezielten Schüssen das Kutscheninnere färbte und zwar in Gehirnbeige mit einem Unterton von Schädelsplitterweiß und Blutklumpenrot. Eine Kugel traf sein Pferd und gab damit dem Wüstenboden eine neue farbliche Nuance. Das war dem Revolvero zuviel. Er rastete vollkommen aus und erschoss jeden Kopfjäger, den Kutscher, alle Pferde, einen Gecko und zwölf Sträucher. Er erschoss sogar die Kutsche, obwohl sie schon lange kein lebendes Objekt mehr war. Und acht Briefe, einer davon Familienvater.

Die Auslöschung der Postkutschentrojanerbande zählte man zu seinen großen Siegen, einen größeren Sieg errang er jedoch Wochen später, gegen Dead Earth Pistol Pete, den man aus Zeitgründen lieber Depp nannte. Die Motive sind schnell erklärt: Depp wollte einen Menschen erschießen, einfach so, zur Befriedigung dunkelster Triebe und dieser Mensch, der Revolvero wollte sich nicht erschießen lassen. Gemäß dem Klischee des Wildwest-Rittertums trafen sich beide um Fünf vor 12 Uhr auf der Hauptstraße der Siedlung. Beim ersten Glockenschlag, am high noon würde das Töten beginnen, vereinbarte der lokale Sheriff zuvor. Die beiden Revolverhelden hätten sich am liebsten gleich sofort erschossen, aber so blieb den Verantwortlichen genug Zeit, die Stadt zu evakuieren. Vier Minuten warteten beide gespannt; die verschwitzt-glitschigen Hände nur einen Zentimeter vom Holzgriff ihrer Schießeisen entfernt. Dann, eine Minute vor dem vereinbarten Zeitpunkt zog der Revolvero seine Pistole und pustete Depp die Eingeweide aus dem Leib … und noch eine sechs Meilen entfernte Kuh um, weil sonst zu einfach gewesen wäre.

Der Revolvero war allerdings gar nicht so hinterlistig, wie man ihm von diesem Tag an nachsagte. Er hatte nur einfach ein wahnsinnig schlechtes Zeitgefühl und eine gut ausgeprägte Schizophrenie, die ihn den ganzen Tag Glocken läuten hören ließ.

Sein Spitzname, der Revolvero, war für den Wilden Westen übrigens kein ungewöhnlicher Titel. Zu seiner Zeit gab es Buffalo Bill, Curly Bill, „Bloody Bill“ Anderson, Shopping Bill, Buckshot Roberts, Wyatt Earp, Doc Holliday und viele andere. Abgedroschene Namen waren damals so normal, wie im heutigen Deutschland Üdi Pirzen. So ziemlich jeder Deutsche kennt jemanden mit dem Namen Üdi Pirzen.

Der Revolvero gehörte allerdings, entgegen der allgemeinen Meinung, nicht zu den Mexikanern. Er war genau genommen der Sohn einer immigrierten Familie aus Irland, wurde aber von der urdämlichen Landbevölkerung des Westens mit einem Spanier verwechselt. Er wollte sich eigentlich auch Deadshooter Carl nennen – nach seinem Großvater, der Aidan hieß – beließ es aber dann bei diesem wesentlich lässigerem Titel vom Revolvero.

***

Was ihn aber wirklich berühmt machte und ich von jedem Jesse James und Billy the Kid unterschied, war Höhepunkt seiner Laufbahn aus wahllos gebohrten Stirnlöchern.

Dieser spielte sich in Lamar ab, einer Stadt mit Straßen und Häusern, die irgendwo liegt. Wie jeden Montagmorgen erreichte er die größere Siedlung kurz nach Sonnenaufgang, schoss einem Debuty ins Bein und forderte Essen, Schnaps und neue Pistolen, weil die alten schon wieder verzogen waren. So oft wie er damit um sich ballerte, war das kein Wunder.

Er bekam auch alles, einschließlich finsterer Blicke und Mordgedanken, so wie an jedem Montagmorgen. Aber als er sich gerade setzen und schwer betrinken wollte, wurde es kompliziert: Ein großer Mann mit riesigem Schnurrbart, gewaltigem Hut und sehr angenehm rasierten Schultern trat dem Revolvero gegenüber. Dieser erkannte ihn sofort. Jeder halbwegs funktionale Gesetzlose kannte Westminster McCarthy, den Sheriff von Lamar, der nicht so hieß. Dass sich der Revolvero an seiner Stadt bediente und dann auch noch seinem Debuty die Kniescheibe weggeschossen hatte, passte dem ihm überhaupt nicht ins Konzept.

„Verzieh’ dich aus meiner Stadt, Kleiner“, sagte der Gesetzeshüter mit der Laune eines Magnum-Revolvers mit einem Griff aus Walnussholz. „Oder stell’ dich mir zum Duell!“

Ohne zu Zögern stand der Revolvero auf und trat mit dem neuen Kontrahenten auf die Straße. Da es bis zur nächsten vollen Stunde noch über vierzig Minuten waren und Revolverhelden nicht bis Fünf zählen konnten, einigten sie sich auf das Münzwurfspiel: Der Sheriff schnippte einen Penny in die Luft – erreichte er den Boden, wurde gezogen.

Und das taten sie, so perfekt wie man nur kann. Als das erste Atom der Münze gegen das erste Atom des erdigen Bodens stieß, schnellten ihre Hände zu den Pistolen. Der Sheriff war schneller. Noch schneller als der Revolvero, der eigentlich als der schnellste Schütze des gesamten Neuen Kontinents galt. So schnell, dass sein Schießeisen den Halfter mit einer Feuerspur verließ, so wie Kometen eine haben und einen Blitz bis in den Himmel warf und Gott tötete. Der Sheriff feuerte als erster, der Outlaw eine Mikrosekunde später.

Das hätte eigentlich sein Ende sein sollen.

Der Schlussakt seiner Abenteuer.

Drei Dinge, so sagte man damals, kann man nicht aufhalten: Eine Frau, ein ausgesprochenes Wort und eine Kugel. Dem Revolvero aber war es gelungen. Der Frau hatte er in die Beine geschossen, alle Zeugen eines einmal peinlich flachen Spruches getötet und die Kugel von nicht Westminster McCarthy, auf der eigentlich sein Name stehen hätte sollen, stoppte er mit einer anderen. In der Luft. Die beiden Patronen trafen und vereinten sich zur legendären Lamar’schen Schießermünze, von der noch nie jemand gehört hat.

Der Revolver nutzte die Gelegenheiten, den kurzen Schreckmoment des Gesetzeshüters und feuerte weiter. Seine zweite Kugel bohrte sich in die Nase des Gesetzeshüters, die dritte in seinen Hals, die vierte ins linke Auge, die fünfte in die Brust, die sechste in den Bauch, Nummer Sieben in die Schulter, die achte in ein Regenwasserfass am Ende der Straße, die neunte in den linken Fuß und die zehnte in den Himmel, wo sie Minuten später wieder herunterkam und eine Grille tötete.

Mit verzerrtem Gesicht stand der Revolvero vor dem toten Sheriff, Schaum tropfte aus seinem Mund, Qualm schmauchte aus dem Lauf seines Colts. Er hatte ihn vorhin noch mal nachladen müssen – das blöde Teil fasste immer noch nur sechs Schuss –, um den Sheriff auch wirklich absolut tot zu machen.

Das, diese unglaubliche Nähe zum Tod, war dann doch ein bisschen zu viel für ihn. Auch für die Dorfbewohner, die beim Anblick des zerballerten Sheriffs ihren Magen entleerten.

Aber er hatte gesiegt, in einer Schlacht, in der man gar nicht siegen konnte. Das war der Höhepunkt seines Revolerheldendaseins, der absolute Höhepunkt. So etwas hatte niemals jemand zuvor erreicht und sollte niemals jemand nach ihm erreichen. Zufrieden grinsend ging er zurück in den Saloon. Auf der ersten Stufenschwelle stolperte er, brach sich das Genick und starb noch im selben Augenblick.

Aber wenigstens war er tags davor noch 18 geworden.

– Maex, 2006

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