Die Lügnerin

Maximilian Wust - Die Lügnerin

Die Lügnerin
Ein Psycho-Thriller von Maximilian Wust

ICH WAR IMMER einer von guten Kerlen gewesen.

Was bedeutet, dass ich nicht unbedingt besser oder liebevoller als jeder andere war, aber dafür aber schwächer; einfach jemand, der eher nach als Kontra gibt. Das meint man auch, wenn man von einem guten Kerl spricht: Einen Schwächling.

Mein Leben lang nahm alles hin. Wenn man mich vor anderen bloßstellte, versuchte ich mitzulachen, als hätte ein guter Freund einen Witz auf meine Kosten gemacht. Wenn man mir in den Rücken fiel, übte ich mich in Verzeihen. Ich schlug nie zurück. Und vielleicht war es genau das, warum wir uns fanden und es auf immerhin zwölf Jahre der Ehe brachten: Ich war der Einzige, dem es nie zu viel wurde. Aber genau das war vermutlich mein Fehler.

Dazu muss man wissen: Sie hatte schon immer gern gelogen. Gern und viel.

Schon als Kind belog ihre Mutter, damit sie ihr Geld für Schulprojekte gab, die gar nicht existierten. Als sie in der Pubertät herausfand, dass man mit Frauenproblemen immer Nachsicht hatte, lernte sie, wie man eben solche simuliert und wie man sogar die Ärzte belügt.

Anfang 20, kurz nach der Ausbildung, wollte sie ein paar Tage frei haben, obwohl sie bereits den gesamten Urlaub aufgebraucht hatte. Also erklärte sie, ihr Vater sei an den Folgen seiner Multiplen Sklerose gestorben und erhielt ihre freien Tage. Natürlich kam ihr Arbeitgeber dahinter, sie wurde fristlos gekündigt, was sie jedoch auch nicht davon abhielt, fröhlich weiter zu lügen.

Als Versicherungsvertreterin log sie falsche Konditionen in den Verträgen herbei, die sie gerne Rentnern anbot. Wurde sie entlarvt, meist durch die Enkel, musste sie so manche Provision zurückzahlen. Später, als Telefontante bei einem Pizzalieferdienst und am Tiefpunkt ihrer Karriere, erfand sie sogar einmal einen Dieb, um sich aus der Trinkgeldkasse zu bedienen und ohnehin erzählte sie gern alltäglich von Erfolgen und Abenteuern, die sie natürlich nie erlebt hatte. Sie log sogar, wenn es gar nicht notwendig war – einfach nur, um eine Unwahrheit zu erzählen. Fast als wäre sie danach süchtig.

So ging sie durch ihr Leben, durch ihre wechselnden Freundeskreise und die zwölf Jahre unserer Ehe. Bis zuletzt.

Ich kann gar nicht mehr sagen, warum erst so spät zu unserem Bruch kam. Sie hatte mich zuvor schon oft belogen und je mehr ich ihre Lügen mit den Jahren hinnahm, umso mehr schien sie sich in Sicherheit zu wiegen und umso dreister wurde sie. Zu Recht, würde wohl ein Außenstehender sagen, schließlich habe ich es stets hingenommen.

Bis die eine, vernichtende Lüge kam: Sie wurde schwanger, obwohl ich sie seit fast einem halben Jahr nicht mehr angefasst hatte. Als Erklärung dafür erhielt ich eine Beleidigung meiner Intelligenz: Ich hätte sie im Schlaf genommen, ohne etwas zu bemerken. „Du schlafwandelst manchmal wenn du viel Stress im Büro hast“, erklärte sie, während wir am Küchentisch saßen, zwischen uns der positive Schwangerschaftstest, „und ja, keine Ahnung halt, ich fand’s richtig geil. Hab‘ dann auch nicht an einen Gummi gedacht. Aber was soll’s! Ich muss nur dran denken, und werd‘ schon wieder rattig! Lass es uns gleich noch mal tun, nur dass du jetzt wach bist!“ Dann zog sie diese unschuldige Schnute, die nur Italienerinnen können. Dieser Gesichtsausdruck, der auf eine unschuldige Art verdorben ist.

In ihren Augen erkannte ich aber zum ersten Mal ehrliche Verzweiflung. Sie hatte den Bogen überspannt, jenseits aller Verzeihbarkeit, das war ihr absolut bewusst und jetzt brauchte es mehr, als nur eine einfache Lüge, um sich aus dieser Lage herauszuwinden. Mehr hatte sie aber nicht zu bieten.

Ihre Verzweiflung wich der Dankbarkeit, als ich sie auch noch darin bestätigte, dass ich manchmal unter Stress seltsame Dinge tue. Sie lachte, offensichtlich erleichtert, vielleicht auch voller Mitleid für ihren wirklich armseligen Ehemann. Das war jedenfalls meine erste und einzige Emotion: Selbstmitleid. Dann lachten wir gemeinsam.

Ich wusste aber, dass jetzt alles vorbei war.

***

An jenem Montag, nach einer ganzen Woche ohne Schlaf, kam schließlich das Ende.

Wir gingen zusammen zu Bett, ich küsste sie auf die Stirn und hielt wie schon so oft ihre Hand, bis sie anfing, leise zu schnarchen. Ein letzter Kuss und ich tat so, als würde ich einmal mehr wegen meines unruhigen Magens aufs Klo gehen. Genauso wie ich es jahrelang jeden zweiten oder dritten Tag getan hatte und wohl auch noch Jahre getan hätte. Doch jetzt, nach allem, was geschehen war, bog ich stattdessen in die Küche ab, öffnete die Schublade mit dem Kochbesteck und betrachtete mein Spiegelbild in den nach Länge sortierten Steakmessern. Ein im Mondlicht weiß umrahmter Schwächling, in der Klingenkrümmung verzerrt, die Augen im Schatten verschwunden.

Es würde also geschehen. Ich wusste, dass es danach kein Zurück mehr gab. Man würde mich einsperren oder gleich ins Irrenhaus stecken und keiner meiner Freunde oder Verwandten würde mehr mit mir reden. Aber es musste sein! Sie musste bestraft werden! Sie und die ganze Welt.

Ich zog das Tranchiermesser aus der Schublade und schlich an ihr Kopfende. Dort wollte ich zuerst noch zögern, vielleicht nochmal zweifeln, aber da schien sie auf einmal etwas zu ahnen. Der berühmte Gefahreninstinkt des Menschen meldete sich wohl und der eben noch regungslose Körper begann plötzlich, sich zu räkeln. Sie streckte sich und einen Moment später sahen mich ihre großen, dunklen Augen erschrocken an.

Das war der Moment! Jetzt oder niemals mehr.

Ich schwang mich auf ihren Brustkorb, wie ein Reiter auf den Sattel, und drückte sie mit all meinem Gewicht ins Bett. Sie kreischte, also hielt ich ihr die Hand vor dem Mund. Dann wehrte sie sich, indem sie panisch mit den Armen ruderte, also drückte ich meine Knie gegen ihre Schultern und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht – mit der geballten Wut, die sich mein ganzes Leben lang angestaut hatte. Das war wohl genug. Es raubte ihr den Atem und den Rest der Besinnung. So war sie bereit für ihre Bestrafung.

„Hab’ ich’s verdient?“, wimmerte sie noch.

Sie hätte wohl etwas anderes sagen sollen, denn das waren die letzten Worte, die sie jemals aussprach.

Ich presste ihren Kopf zwischen meine Schenkel und drückte ihr die Nase mit den Fingern zu. Ich hätte sie auch gebrochen, hätte das etwas genützt. Nach ein, zwei Sekunden öffnete sie endlich ihren Mund, um nach Luft zu schnappen. Weit genug, dass meine Faust hineinpasste, in dieses dunkle, warme Loch aus Speichel, weichem, feuchten Fleisch und scharfen Zähnen. Meine Hand wurde zu einem Stemmeisen, das die Kiefer auch für die nächsten Minuten offen hielt. Mit der Rechten führte ich das Messer ein.

Sie röchelte. In ihren Augen lag Angst. Panische, reine, wahrhaftige Angst.

Es dauerte einen Augenblick, viel zu lange, bis ich ihre kleine, schleimige Zunge endlich mit Fingern zu fassen bekam. Dieses widerliche Organ, das sich wie ein Fisch windet und mit dem man so unverfroren lügen kann. Sie windet sich, sie entkommt, sie windet sich noch mehr. Hatte ich sie endlich fest zwischen meinen Fingern, begann ich, zu schneiden.

Blut. Endlos viel Blut. Mit Speichel vermischt spritzte es aus ihren Mundwinkeln. Sie verschluckte sich daran und hustete es mir ins Gesicht. Es war eine furchtbare Arbeit, ihr die Zunge nehmen.

Mit jedem Millimeter, mit dem ich das Fleisch trennte, zuckte und würgte und wehrte sie sich. Sie biss mir in die Finger, so dass ich kurz auf sie einprügeln musste. Dann stieß sie mit ihren Beinen gegen meinen Rücken, worauf ich sie noch fester mit der Faust schlug. Das Blut, das sie mir in großen Mengen entgegen spie und auf dem Laken verteilte, störte mich dabei noch am wenigsten.

Sie kreischte, ich trennte weiter das Fleisch. Sie erbrach, ich trennte weiter. Sie schrie und winselte und ich arbeitete unentwegt weiter ihre gottverdammte Zunge heraus. In diesem Kampf, der mehr einem Ringen glich, zerschnitt ich ihr den Mundraum, stach ihr eine Mandel aus und zersplitterte ihr einen Reißzahn. Bis es vollbracht war. Bis sich die letzte Sehne der verfluchten Zunge vom Rest des Körpers getrennt hatte. Sie sprang wie ein bissiges Tier aus dem Mund und landete irgendwo auf dem blutnassen Laken.

Meine Muskeln erschlafften und ich ließ mich zur Seite sinken; erschöpft wie nach einem ausgiebigen Liebesspiel. So erfüllend und so orgasmisch fühlte es sich auch an. Sie würgte und wand sich, erbrach einen ganzen Schwall aus Blut und tastete weinend nach dem Kissen. Ihre Schreie klangen verzerrt und unecht und statt Wörter gab sie nur noch unidentifizierbare Laute von sich.

Ich dagegen fühlte mich erlöst. Das ist es wohl auch, was Serienmörder antreibt: Dieser Moment, dieses aufklarende Gefühl, von aller Schwäche und der eigenen Ohnmacht erlöst worden zu sein. Für mich war es, als hätte man einen schweren Stein von meiner Brust genommen, der da mein ganzes Leben lang gelegen hatte.

Ich habe selten so gut geschlafen, wie in dieser Nacht.

– Maex, 2007



Ich weiß nicht, wie es mit anderen Kreativen und der Beeinflussung durch Partner steht – was mich angeht, verändern sie meine Schaffensrichtungen enorm. 2007 endete meine lange Phase als Single-Dasein und das für ein Mädchen, das einen ausgeprägten Fabile für Horror, Gore und Splatter mitbrachte. Entsprechend passte ich mich an, ließ mich von ihren „goldenen Regeln des Body-Horror“ und Lovecraft faszinieren und versuchte auch, meine Schreiberei ein wenig in Richtung ihres Geschmacks zu erweitern. So konnte ich mich unter ihrer genrekundigen Anleitung zu neuen literarischen Ufern aufmachen und vielleicht durch meine überzeichnende Art anders interpretieren. Gore und Fetisch waren für mich zuvor wie Erotik gewesen – ich rührte das Genre nicht an.


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