Ein Depressivenmärchen

Maximilian Wust - Ein Depressivenmärchen

Ein Depressivenmärchen
Eine Erzählung von Maximilian Wust



Diese Geschichte zu schreiben, war eine weit größere Herausforderung, als ich zuerst angenommen hatte. Wie erzählt man aus der Sicht eines Menschen, der desillusioniert und verloren ist, ohne sich in endlose Nebengedanken und Ausführungen zu verlieren? Für Max Frisch schien das kein Problem zu sein, für mich dagegen … eine Lehre, dass ich noch einen weiten, weiten Weg vor mir habe. Wieso kann ich nicht einfach wie Christopher Paolini sein und mit 20 eher nebenher (Star Wars in einen Fantasy verpacken und damit) einen Weltbestseller wie Eragon schreiben? Oder wie Mary Shelley, die mit 18 den bis heute berühmten Frankenstein schrieb?, fragte sich der 35-jährige Maximilian Wust, als er dieses Vorwort schrieb, bevor er seine Nase wieder zurück in den Manga Attack On Titan steckte, der für 15- bis 20-jährige ausgelegt ist. Das z.B. sind viel zu ausführliche Nebengedanken.


MEIN ALLTÄGLICHER ALLTAG:

Früher hatte ich mich davor gefürchtet, wie er wohl mit Dreißig aussehen würde.

Dass ich, wie jeder andere, in der Tretmühle von Familie und Beruf stecke. Ich stehe so früh auf, dass ich dazu einen Wecker brauche; zusammen mit einer Frau, mit der ich absolut nichts teile, außer Nachnamen und Kinder. Ich arbeite in einem Unternehmen, wo man Dinge herstellt, von denen ich noch mit Zwanzig nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Dort mache ich einen Job, der mir nichts bedeutet. Ich drücke mich vor Meetings und verbringe meine Raucherpausen im Internet. Kaffee ist mein Kerosin – so lautet mein Running Gag, weil ich mir täglich vier bis fünf Tassen von dem zweckentfremdeten Insektizid in den Rachen schütte. Am Abend sitze ich mit meiner Frau vor dem Fernseher. Wir schauen betäubend dumme Sendungen oder vergeuden unsere Zeit mit Sport. Vergeuden, weil es ja doch nichts nützt. Erwachsene nehmen zu, indem sie einfach nur atmen. Dann gehen wir schlafen, manchmal noch zusammen. Alle zwei Wochen haben wir Alibi-Sex. Und jeden Morgen würden wir gern länger im Bett bleiben, als der Wecker erlaubt.

Das waren meine Befürchtungen, als ich Mitte Zwanzig mein Diplom aus dem prüfungsverhärteten Fleisch der Universitätswelt zog. Dass mein nach Wissen und Sinn gierender Verstand ein spießbürgerliches Grab findet und ich als unheilbar normaler Menschen ende.

Als ich schließlich Dreißig wurde, sollten sich meine Ängste zerstreuen: Statt einem Arbeitsplatz ohne Substanz, eine Ehe ohne Bedeutung und einen Alltag ohne Prämisse hatte ich nichts. Außer immer noch mein Diplom, ein gruseliges Loch im Lebenslauf und ein paar seltsame Gewohnheit.

***

Jeden Morgen, auch an jenem Morgen, um 9 bis 10 Uhr, stelle ich mich splitternackt vor das einzige Fenster meiner Dachwohnung.

Zumindest fast jeden. Im Winter war es manchmal zu kalt.

Wenn dann, um 9 bis 10 Uhr, jemand in den zweiten Stock hinaufsehen würde, könnte er dort einen nackten, drahtigen Mann entdecken. Lange, dunkle Haare und Bart, markante und doch irgendwie weiche Gesichtspartien, wie eine Mischung aus Kurt Cubain und Jesus; ein unbehaarter, drahtiger Körper und ein kleiner Penis, von schwarzen Schamhaaren umrandet.

Ich weiß nicht, warum ich das tue. Vielleicht will ich der Welt – oder mir – einfach nur beweisen, dass ich noch existiere. Vielleicht will ich um Hilfe schreien.

Wenn ich dann mit meinem Nacktbad in der Öffentlichkeit fertig bin, nach etwa fünf bis zehn bis zwanzig Minuten, ziehe ich mich an und widme mich dem Tag. Vielleicht mache ich endlich meine Wäsche, vielleicht schreibe ich – nur für mich, weil ich weder eine Website noch Leser habe. Vielleicht gehe ich joggen. Vielleicht schaue ich Filme auf halb legalen Streamingwebsites. Das mache ich meistens.

Ich habe zu viele Vielleichts für nichts und einen Sinn im Leben habe ich nicht.

Mein Studium der Philosophie gab mir keinen, genauso wenig wie einen Arbeitsplatz. Philosophie – das ist in Belgien, in der heutigen Zeit eine noch brotlosere Kunst als die Malerei oder das Schreiben. Mit einem Diplom in Philosophie kann man sehr gut Handys verkaufen, witzelte einer unserer Professoren sehr gerne. Er hatte Unrecht: Wer Philosophie studiert, wird es entweder lehren oder nichts. Sich nach einem anderen Sinn im Leben umsehen, vielleicht. Ohne Geld jedenfalls.

Paul Potts, der legendäre Opernsänger, war die Ausnahme. Er hatte nach seinem Philosophiestudium in einem Handyladen gearbeitet. Dann wurde er entdeckt, berühmt und reich und ließ sich die schiefen Zähne richten. Opernsänger bei einer Talentshow – das war in meinem Fall keine Möglichkeit. Zu meiner Verteidigung muss ich einwerfen, dass ein Ziegelstein in einer Waschmaschine mehr Taktgefühl als ich besitzt.

Statt also einer Opernkarriere oder überhaupt irgendeiner, warteten auf mich drei Jahre in der Leere.

Drei Jahre am Rand der Welt, zwischen Bücherflohmärkten und Arbeitsamtbesuchen und den immer gleichen Witzen mit intellektuell genauso verkappten Leidensgenossen: Wie lange noch, bis wir im Amazon-Vertriebszentrum landen? Das war immer mein Alptraum: Der Zweitbeste seines Semesters, studiert, voll ausgebildet, ein Weiser verpackt die Bücher der anderen Weisen.

Vielmehr würde mir jedoch nicht mehr blühen. In zwei Jahren wäre ich offiziell schwer vermittelbar. Schon davor würde man mich mit Drohungen und Kürzungen in einen möglichst einfachen Job zwingen, in ein Lager, an eine Tankstellenkasse, vielleicht gleich mit Hilfe einer Zeitarbeitsfirma und dort würde ich verkümmern. Wer dort arbeitete, der lachte nur darüber, wenn jemand davon erzählte, dass es einen anti-nihilistischen Nihilist namens Albert Camus gegeben hatte. Für solche Menschen war Augustinus von Hippo „ein Happy Hippo!“ und Gelächter und Menschen wie ich waren die Typen, die über die sie schon in der Schule gelacht haben. Wer kann es ihnen verdenken? Sie sind unheilbar normal. Ihr Leben verläuft gut. Nur die Unglücklichen müssen sich fragen, warum die Dinge so schlecht stehen. Nur sie können zu Philosophen werden. Alle anderen lachen.

Ich würde kündigen, früher oder später oder mit Gewalt. Man würde mir das Arbeitslosengeld kürzen und mit mir streiten. Ich würde mich in psychotherapeutische Kliniken stecken, mich flicken und richten lassen und wäre am Ende doch wieder nur derselbe. Je mehr und mehr ich darüber nachdachte, umso mehr verstand ich, dass ich hier kein Glück mehr finden würde – in dieser Welt und diesem Leben und diesem mindset und meinem Stolz.

Und natürlich kannte ich den Begriff eines first world problems. „Du hast Probleme! In Afrika hungern Kinder“ war das beste Beispiel für eine fallacy of relative privation (z.D.: Trugschluss relativer Entbehrung). „Nicole ist alleinerziehende Mutter und hat ein behindertes Kind!“, „Schau dir Ilyas an! Durch sein Diabetes ist er inzwischen auf einem Auge blind!“, „Israel …“ –  wie klein wären dagegen doch meine Probleme. Für mich war das lediglich ein Satz, der solche Heuchler zu erkennen gibt, die bei kleinsten Komplikationen in tiefe Sinneskrisen verfallen. Natürlich sollte ich ihn noch oft zu hören bekommen.

Doch dazu wollte ich es schließlich nicht mehr kommen lassen.

***

An diesem, einen Tag, an dem mein Leidensweg enden sollte, vollzog ich nur ein kurzes Nacktbad, setzte mich auf meine alte Couch und beschloss, heute einfach mal alle zukünftigen Niederlagen zu überspringen, für immer … und mich umzubringen.

So einfach war das auf einmal. Mit Nina Schluss zu machen war mir schwerer gefallen.

Genauso entschlossen wie damals sprang ich auf, machte mich ausgehfertig und ging zum Bahnhof. Ich trug sogar Deo und etwas Parfüm auf und rasierte mir die Bartspitzen. Ich schlüpfte sogar in mein Lieblingshemd.

Für mein Ende wählte ich die einfachste und schmerzloseste aller Selbstmordmethoden: Der Tod unter einem rollenden Zug, das sei am Rande bemerkt, ist gar keine so beliebte Art, aus dem Leben zu scheiden. In den meisten Ländern erreicht sie nicht einmal Platz Fünf auf der Beliebtheitsskala und trotzdem kennt man sie so gut wie kaum eine andere: In Paris ist man die Zugausfälle schon so sehr gewöhnt, dass man sie als Alltag einkalkuliert. In Tokio mussten sogar die U-Bahn-Einstiege verglast werden, um den endlosen Fluss an Freitoden zu bremsen. Aber nicht, weil Selbstmord so grausam ist, sondern weil zerstückelte Leichen auf den Schienen Verspätungen verursachen. Und die wiederum sind im Land der absoluten Pünktlichkeit undenkbar.

Belgien ist da anders. Verspätungen können schon mal vorkommen – ganz besonders, wenn es mal wieder Menschenfilet gibt. So sollte mein also Leben enden, als Verspätung.

Der Bahnhof meines Heimatorts ist eine Endstation – alles dort ist eine –, und zeigte sich so wie immer, nämlich verlassen. Leere Bänke und schon lange nicht mehr geleerte Mülleimer säumten einen leeren Bahnsteig. Die schlichten Bahnhofsuhren; die zerfetzten Plakate von Konzerten, die schon längst stattgefunden hatten; ein Teppich aus Zigarettenstummeln und die dunkle Wolkendecke gaben der trostlosen Szenerie ihren finalen Schliff.

Meinem Finale.

Gemächlich stellte mich an den Bahnsteig und sah nach der Zeit: 10 Uhr 28. In weniger als vier Minuten würde mein Ende einfahren. Ich würde mich davorwerfen, sein Gewicht sollte mich auf den Schienen zerteilen und einen kurzen, stechenden Schmerz später wäre alles vorbei. Ohne Sauerstoff würde mein neuronales Netzwerk ausfallen, alle Gehirnzellen in etwa elf bis vierzehn Minuten vollständig absterben und meine endlos springenden Gedanken würden endlich, endlich verstummen.

Hinter dem Ende des Lebens wartete nämlich kein Jenseits – das wusste jeder bessere Philosoph –, sondern nur der unendliche Friede der Nicht-Existenz. Keine Gedanken mehr, keine Sorgen, keine Ängste, kein Ich, keine Bedürfnisse, keine Moral oder Verantwortung, keine Menschen, denen man etwas beweisen muss. Ich musste mich nicht darum sorgen, ob mein Selbstmord jemandem schadete oder wie mich die Welt in Erinnerung behielt oder welche Chancen ich nicht genutzt hatte. All diese menschlichen, ja weltlichen Dinge erloschen zusammen mit dem neuralen Kreuzfeuer des Nervensystems. Und darauf folgte nur noch das Nichts, das vollkommen erlösende Nichts. Als ich so auf den Zug wartete, mit diesem mindset, begann ich mich direkt auf die Erlösung zu freuen. Ich fühlte fast mich wie ein Jugendlicher, der gleich zum ersten Mal seine Geschlechtsteile in ein Weibchen schieben wird … obwohl ich mich töten wollte.

Aber statt besagter Erlösung kam eine Durchsage. Eine Frauenstimme verkündete gelangweilt bis genervt, dass der Express nach Aalst, Abfahrt um 10 Uhr 32, voraussichtlich fünf Minuten später eintraf.

Ich seufzte und wartete. Ich würde sowieso mit Sicherheit sterben, was also machte es schon aus, noch fünf lächerliche Minuten darauf zu warten?

Diese fünf Minuten, fünf lange Minuten später, knisterten wieder die Lautsprecher. „Der Express nach – Aalst – Abfahrt um – zwölf Uhr – zweiunddreißig – hat voraussichtlich – zehn Minuten Verspätung“, erklärte nun eine vom Computer zusammengefügte Bandansage eines Mannes.

Nach zehn Minuten hatte er zwanzig, nach zwanzig Minuten gab es Probleme auf der Strecke. Menschen fanden sich ein, wie Socken in einem Flusensieb und motzten mit mir. Ich schnorrte mir zum zweiten Mal im Leben eine Zigarette und tat so, als wäre es die legendäre, letzte Kippe vor der Hinrichtung.

Eine halbe Stunde später entfiel der Express schließlich und zwar für den ganzen Tag. Oder länger. Ein Gasleck würde den Zugverkehr für unbestimmte Zeit einstellen. Solange wurden die Reisenden gebeten, doch bitte auf den Schienenersatzverkehr zurückzugreifen, der an jeder Bahnstation von hier bis nach Aalst zur Verfügung gestellt wurde.

Der Zug kam nicht mehr. Dafür aber der Bus.

Schockiert, wütend und etwas neben mir stampfte ich wieder nach Hause. Was macht jemand, der vor einen Zug springen will, dieser aber nicht kommt? Bringt er sich um? Das witzelte ich, während ich doch genau das plante.

***

Wieder zuhause angekommen, zögerte ich nicht lange.

Ich setzte ich mich an den Computer, startete den Internetbrowser und begann zu recherchieren. Ja, sogar mein Selbstmord würde wohl professionell geplant sein müssen.

Sich selbst zu erschießen ist aus meiner Sicht der beste aller Freitode. Es geht schnell, ist kinderleicht – weshalb es auch immer wieder Kindern gelingt – und sicher, vor allem sicher. Einen Goldenen Schuss kann man überleben, genauso wie eine Überdosis Schlaftabletten, den Sturz aus großer Höhe, eigentlich fast alles. Es gab sogar Menschen, die sich vor die Bahn warfen und überlebten. Nur eine Kugel durch den Mundraum in den Kopf eben nicht.

Van Gogh hatte sich mit einer Pistole in den Bauch geschossen; Kurt Cubain testete seine Schrotflinte auf ihren Geschmack, genauso wie Ernest Hemingway, der das angeblich ganz bewusst in seiner Küche tat, um seiner Frau eine möglichst große Sauerei zu hinterlassen. Aber um sich zu erschießen, brauchte man eine Waffe, die ich in Belgien nicht bekommen würde. Wenigstens nicht, ohne zuvor eine ganze Weile Mitglied in einem Schützenverein zu sein. Also suchte ich nach der besten Alternative, die mir auf Anhieb durch den Kopf schoss – Wortspiel gewollt – und fand die beliebteste aller Selbstmordmethoden weltweit:

Galgen“ war mein erster Suchbegriff, das englische „gallows“ mein zweiter. „How to kill myself by drop hanging“ – mein Dank an die Bing-Vervollständigungstipps – brachte mich schließlich in ein Forum, in dem selbsternannte Experten bis ins Detail darüber diskutierten, wie man sich am besten erhängt. Ich fand sogar eine Galgenknüpferdiskussion in meiner Sprache.

Sich zu erhängen schien jedenfalls gar nicht so einfach: Knüpft man den Galgen falsch, führt man vielleicht sogar einen stundenlangen Erstickungskampf, bis man mühselig in die nächste Welt sickert. Angeblich gab es sogar Fälle, in denen ein Mensch gar nicht starb, sondern am Galgen gefangen war, bis er nach zwei Tagen verdurstete. Man muss den Galgen perfekt binden, nicht zu eng, nicht zu starr und nicht zu weit und aus der idealen Höhe springen, so dass man sich fast schmerzlos das Genick bricht. Wer sich wiederum zu tief fallen lässt, reißt sich sogar den Kopf ab. Die Wahl des Seils ist auch wichtig: Eine Plastikschnur, wie von einem Duschvorhang ist nur in Filmen geeignet und ein Leinenseil sollte nur von einem Experten benutzt werden. Sowieso sollte man zuvor mehrere Tests mit einem Objekt von gleichem Gewicht machen … oder besser, mit ein paar Menschen gleicher Größe und gleichen Gewichts.

Hinter der einfachen Idee, sich aufzuhängen, entdeckte ich eine ganze Wissenschaft mit Thesen, Antithesen und sogar moralischen Grundsätzen. Es gab tatsächlich ein Moraldenken des Selbsterhängens. Zum Beispiel, dass man zwei Tage lang nichts essen und möglichst wenig trinken sollte, bevor man mit Seilers Tochter tanzte. So entlud man sich danach, wenn alle Muskeln nachließen, nicht in die Hose. Außerdem sollte man sich eine Papiertüte aufsetzen und die Kleidung regelrecht in Parfüm baden. Denn ein guter, moralisch korrekter Selbstmörder muss auch an die denken, die ihn nach seinem Tod bergen müssen. Ach ja, und ein erstklassiger Galgentod sollte ungefähr wie das Zerbrechen eines Butterkekses klingen – so ein schnelles, krosses, überaus befriedigendes Kracks!.

Ich entdeckte sogar Mythen um das Galgenknüpfen, wie den legendären Gnadentöter – oder super snapper, wie man ihn in den Kill-yourself-Foren der USA nannte –, der jede Person mit gleich welchem Gewicht und welcher Größe auf der Stelle aus dem Leben knackte. Um allein dieses Thema fand ich mehr als ein Dutzend Diskussionen.

Und hielt inne.

Ich wollte sterben, verdammt, und keine Dissertation über die Kunst des Galgenbindens schreiben!

Genervt von meiner eigenen Neugier stürmte ich ins Bad, arbeitete die kleine, violette Plastikschnur aus dem Vorhang meiner Duschkabine und ging zurück in meine Wohnküche, um es jetzt endlich zu erledigen.      Ein Galgen-Tutorial war sofort gefunden, der Rest ging schnell: Ich band die Schnur an ein Vorderbein meines Schreibtisches, warf den fertigen Galgen über den Dachbalken, stellte mich auf den Stuhl, legte die Plastikschnur um den Hals und nahm Abschied, schnell und inhaltslos: Ich ließ mein Leben nicht Revue passieren und überlegte auch nicht, was ich hätte besser machen können oder was man über mich denken würde. Das interessierte mich alles nicht mehr. Es sollte einfach nur vorbei sein, auch mit allen Gedanken.

Mit einem einfachen Tritt löste ich mich vom Stuhl, der Galgen zog an und ich baumelte über dem Boden. Die Schnur grub sich in meine Kehle. Meine Beine tanzten in der Luft. Dunkle Wolken lagen vor dem Fenster. Und von irgendwo rief ein Kind.

Das war das Ende.

Mir scheißegal, ob sie meine Leiche mit vollgeschissener Hose und herausgequollenen Augen fanden.

***

Was ist schon das Leben, wenn nicht nur ein kurzer Augenblick? Milliarden Jahre existieren wir überhaupt nicht, bis dann die Kausalität die Materie korrekt zusammenschiebt, ganz zufällig, und uns, den eigentlich Nicht-Existierenden einen Moment, ein spontanes Aufblitzen aus Neuronenfeuer und chemischen Reizen gewährt, bevor alles wieder ins gewohnte Nichts zurückfällt. Eine mathematische Gerade aus schwarzer Existenzlosigkeit mit einem kurzen, bedeutungslosen Lichtblitz dazwischen – das sind wir.

Eigentlich ist das Ende des Lebens gar kein Ende. Es ist nur die Rückkehr in den Zustand, den wir die längste Zeit innehatten. Ich kehrte einfach nur zurück.

***

Oder hätte es zumindest sollen.

Denn genau das tat ich nicht.

Das Tischbein konnte mein Gewicht auf einmal nicht mehr tragen. Die Plastikschnur riss es aus der Fassung, es raste nach oben und ich als Gegengewicht wieder nach unten, zurück auf den Boden der Tatsachen, oder genauer gesagt, auf den Schreibtisch der Depressionen. Ich schlug in die Tastatur, so heftig, dass sie zerschmetterte und wirbelte zurück auf den Teppichboden. Der Schreibtisch kippte nach vorne um, mein Bildschirm und mein Drucker rutschen von der halbschrägen Tischplatte und schlossen meiner Reise zum Boden an.

Eine Sekunde später lag ich ächzend und stöhnend zwischen den Stuhlbeinen und herausgebrochenen Tasten. Um meinen Hals schnürte sich immer doch der Galgen und auf meinen Füßen hatten es sich der Flachbildschirm und der Drucker gemütlich gemacht. Alles stach und tat mir weh, aber ich war nicht tot.

Außerdem war mein Schreibtisch demoliert.

***

Ich räumte das Chaos auf und sammelte alle Tasten ein, die ich finden konnte. Als es mir sogar gelang, den Tisch wieder aufzustellen, beschloss ich erneut, den Schlussstrich zu ziehen. Diesmal absolut und endgültig.

Dafür kam mir auch die letzte und beste Idee. Es würde wehtun. Vielleicht dauerte es sogar zwanzig Minuten, bis ich an inneren Blutungen verendete. Aber es wäre ein Tod, der weder reißen, noch zu spät kommen, noch ausweichen, noch sonst etwas tun konnte. Ich musste nur noch einen Fußweg von vielleicht zwanzig Minuten hinter mich bringen. Zehn, wenn ich lief.

Also lief ich.

Ich hastete die Hauptstraße entlang, vorbei an dem Spielplatz, an dem seit zwei Jahrzehnten kein Kind mehr spielte; über den Parkplatz des Supermarktes, der dreimal die Marktkette, aber niemals sein Sortiment gewechselt hatte und durch den Hinterhof, wo sie seit Jahren immer wieder Ausländer fast tot prügelten. Dann kreuzte ich meinen alten Schulweg; die schmutzige, bald baufällige Kirche in der Ortsmitte und die Wäscherei, die nie Kunden zu haben schien, aber trotzdem jeden Tag geöffnet. Ohne es zu wollen passierte ich viele Etappen meiner sehr einsamen Kindheit.

Nach weniger als acht Minuten erreichte ich mein Ziel, den achtstöckigen, hässlichen Wohnblock, in dem meine Mutter ihre genauso sinnentleerte Zeit fristete. Mit ihrem Ersatzschlüssel – der immer an meinem Bund hing – konnte ich in den Hausflur. Ich kämpfte mich die Treppen empor, jetzt ziemlich außer Atem, vorbei an Wohnungstüren aus Sperrholz und bekannten und unbekannten Nachbarn, bis ins oberste Stockwerk. Dort angekommen öffnete ich die niemals abgeschlossene Sicherheitstür und stieg aufs Dach hinaus.

Hinter der weißlackierten Pforte begrüßten mich tote Dinge. Antennenmasten ragten wie verdorrte Äste aus dem Mörtel; verschimmelte Gartenmöbel sammelten zur Dachtür hin und ein toter Vogel vor meinen Füßen war zu seinem Skelett aus dünnen, dunklen Knochen verwest. Hier lebte nichts mehr, nicht einmal mehr die Gräser, die sich zwischen dem Kies hervorgekämpft hatten.

Von der Tür aus waren es kaum noch zwanzig Schritte, dann endete das Dach und es ging zehn, fünfzehn Meter hinab in die ungepflegte Wohnanlage. Viel war nun nicht mehr zu tun: Nur noch Anlauf nehmen und fallen.

Und genau das tat ich: Ich wollte zögern, vielleicht noch einmal richtig Abschied nehmen und die Welt dafür hassen, dass sie mich an diesen Punkt gebracht hatte – oder meine Eltern oder mich selbst –, aber sogar das gelang mir nicht. Ich trat in den Kies, lief und stürzte mich über die Kante.

Unter mir der Rasen und die Hecken wie ein trennender Wall aus hellem Laub. Über mir der Himmel. Hinter mir die nackte Betonwand. Sie raste an mir vorbei, als wäre sie ein weißes, flaches Land und ich ein Düsenjet. Und die Wiese vor mir wurde zu einer Mauer, gegen die ich gleich schmettern sollte.

Ende.

***

Sterben war wirklich so, wie es die Überlebenden beschrieben.

Die wichtigsten Momente meines Lebens zogen noch einmal vorüber. Es war, als würde ich alles, meine ganze Existenz noch einmal erleben, in Zeitraffer und mit hektischen Bildern und wilden Sprüngen zwischen den Szenen, aber trotzdem nur in der Zeitspanne von ein paar Sekunden.

Ich sah meine Mutter, wie sie geistesabwesend den Haushalt machte und manchmal plötzlich aufschrak, um laut zu plappern. Ich sah, wie sie jedes ihrer Kinder mit Liebesentzug bestrafte, wenn sie ihr nicht bei den impulsiven Monologen zuhörten. Und wie ihr kein Mann blieb. Am Ende schlief sie mit den haarigsten und fettesten und widerlichsten Exemplaren der Spezies Mann und sie blieben ihr trotzdem nicht.

Ich war wieder 13. Unsere neue Babysitterin trug ganz absichtlich ein enges Top, so dass wirklich niemand übersah, was ihr die Pubertät beschert hatte: Diese riesigen Brüste. Darauf war sie stolz. Ihre spitzen Brustwarzen stachen herrlich erkennbar durch jeden BH und jede Bluse. Nach einem halben Jahr fragte ich sie ganz schelmisch, ob ich nicht mit ihrem Busen spielen durfte. Als sie verstand, dass ich mich dafür an ihrer statt um meine Geschwister kümmern würde, ließ sie es zu. Ich spürte noch einmal, wie mir ein Speicheltropfen aus dem Mundwinkel tropfte, als ich meine Hand in dieses warme, weiche Fleisch unter ihrer Bluse versenkte.

Als nächstes war ich wieder in der Uni. Kalte Säle, Kopierer, Bücher mit den hässlichsten Einbänden, der Geruch von Kaffee, der Beigeschmack intellektueller Größe. Kosmopolit spielen, ohne zu wissen, was das Wort eigentlich bedeutet. Über die schrägen Angewohnheiten großer Philosophen diskutieren. Wildes Gehupe am Morgen ein Crescendo nennen. Weil man intellektuell ist und Intellektuelle das tun.

Vor meinen Augen erschienen meine Kommilitonen. Die meisten von ihnen studierten nicht Philosophie, um die Philosophie zu verstehen, sondern eher, um eine Antwort auf ihr sinnentleertes Leben zu finden. Psychologen, die sich selbst heilen wollen. Ich war nicht anders. Ich erzählte mir nur, dass ich es wäre. Was sie wahrscheinlich alle taten. Ein sinnloses Bestreben: Wir lernten, von wem welcher kluge Kopf inspiriert wurde, welches verrückte Leben er geführt und welche Aussagen er aufs Papier geschwulstet hatte und wann und wie er starb. Die vielen offenen Fragen, die uns alle so sehr auf dem Herzen lagen, blieben unbeantwortet. Dafür erfuhren wir, dass sich Arthur Schopenhauer regelmäßig die Augäpfel gewaschen und Karl Marx seine Haushälterin geschwängert hatte.

Es gab eine Menge an klugen, großen Sinnsuchern, die alle das Leben zu erklären versuchten, aber eines schien keinem einzigen gelungen zu sein: Glück zu finden. Keiner starb wohl als Buddha, eins mit der Welt und sich selbst. Nicht mal Buddha selbst hat das wohl geschafft. Das war meine letzte, große Erkenntnis vor dem Abschluss.

Dann war da mein Vater. Er saß immer in seinem Zimmer, immer im Carohemd und verschlissener Jeans, immer die dicke, rote Brille auf der Nase. Er brütete wieder über einem Buch. Das tat er oft. Eigentlich immer. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, verschwand er sofort in seine Kammer und las. Am Wochenende las er; wenn sich die Familie vor dem Fernseher versammelte oder schlafen ging; wenn unsere Mutter zum Essen rief. Sein ganzes Leben verbrachte er in der immer gleichen Kammer, die Nase in den immer gleichen Büchern. So tief, dass ihn keiner von uns je wirklich erreichen konnte. Irgendwann versuchte es auch niemand mehr. Kurz vor der Rente ließ er sich scheiden, zog nach Indonesien zog und hasste dort Moslems.

Da waren meine Geschwister, meine drei Schwestern und zwei Brüder. Alle wurden ähnlich passiv und eigenbrötlerisch wie ihr Erzeuger. Um meiner Mutter und ihren Phasen zu entkommen, floh jeder von uns in eine eigene Welt: Mein großer Bruder verliebte sich in technische Geräte. Er wurde Elektromeister, studierte Ingenieurswesen und zog sich in das logische, funktionale und menschenleere Universum der Maschinistik zurück. Mein kleiner Bruder suchte sich eine echte Mutter und heiratete mit zwanzig Jahren eine zwanzig Jahre ältere Frau. Meine Schwestern versuchten es mit Familien, Partys, Kunst und Drogen. Eine hatte Erfolg. Und ich fand eine Welt außerhalb der Welt, von der aus ich Erstere erforschen und analysieren konnte. Mein ganzes Leben lang gab es nur einen dünnen Faden, der mich und die Welt der Menschen zusammenhielt.

Zum Schluss sah ich mich, in vielen Spiegeln. Als Kind, als Jugendlicher, als Student, als Absolvent und jetzt, vor den Partys, nach den Partys, Zuhause und auf der Uni-Toilette, mit Nina, meinen Brüdern und allein.

***

Am Ende meiner letzten Reise, da unten am Boden, trennte eine übergroße Hecke den Rasen vom Asphalt. Das erkannte ich noch, bevor ich wie ein Stein in sie hineinraste.

Blätter, Äste, ein Maschendrahtzaun, der Boden, härter als jeder Stein. Es knackte, alles zerbrach und plötzlich lag ich auf dem Asphalt.

Ich schnappte nach Luft.

Über mir lagen die Wolken, immer noch dunkel und sperrig, wie eine Höhlendecke aus mattblauer Watte. Zu meiner Linken stand der Wohnblock, von dem ich gerade gesprungen war. Er blickte auf mich herab, als wäre er ein gelangweilter Riese. Wie ich eben noch auf den toten Vogel.

Das wäre ich auch gleich.

Der Tod würde von allein kommen. Meine Knochen waren mit Sicherheit zerschmettert, meine Organe zerfetzt und ich spürte nicht einmal Schmerzen. Es stach ein wenig in der Leistengegend und zwickte hier und da, aber die brüllenden Schmerzen, mit denen ich eigentlich gerechnet hatte, blieben aus.

Genauso wie der Tod.

Mir wurde nicht schwarz vor Augen. Es kam kein Blut aus meinem Mund. Ich konnte mich sogar noch problemlos bewegen. Als das Adrenalin nachließ, verstummte das Summen in meinen Ohren und der Boden fühlte sich hart, kalt und unangenehm an. Nicht mehr wie ein surrealer Flaum ohne eigene Temperatur.

Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag und auf das Ende wartete – vielleicht fünf oder zehn Minuten –, aber als mich jemand ansprach, wurde mir bewusst, dass es wohl nicht kam. „Warum liegen Sie da auf der Straße?“, fragte eine ältere, leicht dickliche Frau; das Musterbeispiel einer unheilbar Normalen, „Ist Ihnen schlecht?“

Sie hatte nicht gesehen, wie sich eine Mischung aus Kurt Cubain und Jesus vom Haus nebenan warf. Wahrscheinlich hatte das niemand gesehen. Das riesige Loch in der Hecke und die über den Asphalt verteilten Blätter und Äste schienen ihr auch nicht aufzufallen.

Ich räusperte mich, nahm alle Kraft zusammen und antwortete langsam und verstört – immerhin war ich gerade gestorben: „Sie sind nicht zufällig der Todesengel?“

„Haben Sie … Drogen genommen?“, erwiderte sie vorsichtig.

„Sehe ich so aus?“

Sie wägte ehrlich ab. „Ein bisschen.“

  ***

Was tust du, wenn du vom Blitz getroffen wirst und es keiner siehst? Erzählst du es deinen Pappenheimern, auch wenn sie dich für einen Lügner halten könnten oder behältst du die wahrscheinlich verrückteste Geschichte deines Lebens für dich? Ich hatte einen Sturz aus dreizehn Metern Höhe überlebt, aber glücklicherweise auch keine Freunde, denen ich es erzählen konnte. Ach ja, ein Tipp aber für den Fall eines Blitzeinschlags: Du solltest trotzdem zum Arzt gehen. Ich jedenfalls tat das.

Der Arzt, dem ich eine weniger selbstmörderische Version vom Treppensturz erzählte, erklärte mich für kerngesund und die Röntgenaufnahmen blieben genauso ergebnislos. Mir ging es bis auf einige Kratzer sehr gut. Ich hatte mir nicht einmal etwas gestaucht oder ausgerenkt.

Es gibt da diese Geschichte, diesen urbanen Mythos, von dem Mann, der aus dem siebten Stock stürzte und unverletzt blieb. Am Boden stand er erleichtert auf, stolperte aber über die Bordsteinkante und brach sich das Genick. So als hätten die Götter eben noch sein Schicksal auskorrigieren müssen. Weniger mythologisch war Juliane Koepcke, die aus einem zerbrechenden Flugzeug zwei Meilen in die Tiefe fiel und überlebte. Sie kämpfte sich danach sogar vierzig Tage durch die grüne Hölle von Peru und zurück in die Zivilisation, was man sogar verfilmte. Und einmal, da wollte sich ein arbeitsloser Philosoph umbringen.

Die Hecke und der Maschendrahtzaun mussten meinen Fall geradezu perfekt abgefangen haben – so perfekt, dass es an ein Wunder grenzte. Andere wären nun vermutlich gläubig geworden oder hätten sich für neugeboren gehalten – für mich genügte es zumindest, um meinen Todeswunsch noch einmal zu überdenken und mir Hilfe zu suchen. Professionelle und auch die von anderen genauso Verzweifelten.

„Und deshalb sitze ich hier“, erklärte ich dem Stuhlkreis. „Auch, wenn das wahrscheinlich keiner glauben wird. Ich tue es ja selbst nicht.“

Wir saßen heute im Hauptraum der Musikschule im Erdgeschoss, weil Rollenspieler unsere Kammer im Keller für sich beansprucht hatten. Sehr zu meinem Wohlbefinden: Die Musizierräume waren wunderbar lichtgeflutet, die Wände im hellen Pastellgelb gestrichen und die samtweißen Vorhänge schienen mehr Licht zu produzieren, als sie verschlangen.

„Ich wünsche mir inzwischen diese spießbürgerlichen Sargnägel“, verkündete ich. „Ich will sie. Ich kann nicht sagen, warum jetzt auf einmal doch, aber ich will eine mittelmäßige Ehe, nervige Kinder und ein Motorrad zur Midlife Crisis. Ich will eine miese Rente, Wurstsalat am See und jeden Abend einen Whiskey trinken. Ich mache mir keine Illusionen: Ich tauge nicht zum unheilbar normalen Menschen, aber vielleicht, mit etwas Anstrengung, ein bisschen Glück und ein paar Kompromissen, da könnte zumindest ein heilbar normaler werden.

Ich glaube, nein, ich weiß …

Ich könnte glücklich werden.“

— Maex, 2009

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