Xenóphobie Go

Maximilian Wust - Xenophobie Go

Xenóphobie Go
Ein Blitzblog von Maximilian Wust

ICH WOLLTE SCHON immer mal einen Blitzblog versuchen – also einen Blog, den man einfach mal unverdaut in den Computer füttert und danach auch nicht besonders korrigiert. Es gibt, denke ich, keine bessere Art, um authentisch zu wirken.

In diesem Sinne also …

Es ist Samstag, der 9. Juli 2016, 13.43 Uhr. In etwa dreißig Minuten werde ich mein Mittagessen zubereiten (damit meine ich, Mikrowellenfraß in den Ofen schieben) und seit ungefähr zehn Uhr in der Früh beleidigt mein Nachbar, ein Kugelbauch-Adonis aus der ehemaligen DDR, an seinem Garten vorbeiziehende Passanten. Warum? Nun, diese „Tiefflieger“ (wie er sie nennt) sind Teil des Hypes um Pokémon GO, den er mehr als nur lächerlich findet … was er der ganzen Welt mitteilen muss. Allein während ich diesen Absatz schrieb, fiel schon wieder sein Lieblingsdiss: „Ey! Ey! Meister Pokémon! Schon was gefangen? Hähä!

Und während ich nun hoffe, dass er bald dem Falschen seine Meinung geigt und dieser seine Zähne in Sternschnuppen verwandelt, öffne ich nun Photoshop und Word und schreibe diesen Blog, ganz roh und überlegt. Mal schauen, wo die Reise hingeht …

Bild: T-800 Endoskelett mit Mint-Effekt
Willst du schon wieder die Welt zerstören? Aus! Böser Computer!


Der schöne Traum von Skynet
Beim Computer durfte ich es als Erstes erleben.

Ende der 80er, Anfang der 90er, ich war kaum eingeschult, da arbeitete er sich Stück für Stück ins alltägliche Leben vor, dieser weiße, knisternde Kasten mit summendem Bildschirm und einer irgendwie immer verdreckten Tastatur, und bedrohte uns. Anders lässt es sich nicht beschreiben.

Für viele, vom KFZ-Mechaniker mit Vokuhila bis zum studierten Intellektuellen mit Hornbrille, hatte der Computer etwas von einem einfallenden Heer: Artikel und Karikaturen stellten ihn als seelenloses Maschinenmonster dar, das unseren way of life ernsthaft gefährdet, in 2001 – Odyssee im Weltraum ermordete er die Crew eines Raumschiffs, in Wargames plante er dasselbe mit der ganzen Welt und in Terminator gelang es ihm. Da löschte er als Skynet endlich die Menschheit aus, einfach weil er ein seelenloser Computer ist und ein seelenloser Computer das tun. Seelenlos war der Attribut, mit dem er gern dämonisiert wurde – von den Büroleuten, die lieber an der genauso seelenlosen Schreibmaschine arbeiteten bis Künstlern, die sich von Coral Draw ernstlich bedroht sahen.

Heute erscheint mir dieser ganze Hass wie der Hilferuf einer Generation, die sich einer neuen, weltverändernden Technologie gegenüber sah und wieder einmal die Angst vor dem Unbekannten mit Feindseligkeit kompensierte. Oder, um es in einem Wort zusammenzufassen: mit Xenophobie.

Der Computer kam trotzdem. Er eroberte die Büros, ging in die Kunst, in die Haushalte und sogar in die Autos. Er lenkte Flugzeuge, U-Bahnen, Drohnen und schließlich sogar ganze Staaten. Wer ging, waren die Xenophobiker.

Was aber nicht heißt, dass sie nicht trotzdem ein neues Ziel fanden: 1996 herum wurde das Handy allmählich für den Durchschnittsbürger erschwinglich. 1998 konnte er es sogar seiner Tochter kaufen und die Debatte ging von vorne los: Hatte man sich eben noch daran gewöhnt, Rechnungen nicht mehr mit einem Keil in nassen Ton zu drücken, sondern mit Tasten in einem Computer zu schreiben, sollte nun der „Gesprächsknochen“ (wie man das Handy gern schimpfnannte) und seine ominöse Handystrahlung den Untergang des Abendlandes einleiten. Auf es folgten das Internet, World of Warcraft, Lokalisten und Facebook, Online-Dating, Youtuber und nun zuletzt auch Pokémon GO.

Seit ich denken kann, erscheint alle fünf Jahre ein potenzieller Weltenzerstörer aus dem Reich der Trends. Das war angeblich schon immer so: So sagte man schon der Elektrizität, den Zeitungen und dem Fernsehen viele üble Dinge nach, als sie so allmählich ins Licht der Öffentlichkeit rückten. Das tat man im 17. Jh. sogar mit dem Humanismus.

(Seltsamerweise aber wurden und werden rechtsradikale oder islamistische Bewegungen sowie der Klimawandel, also Geschichten, die tatsächlich böse enden können, stets billigend hingenommen.)

Bild: Pokéarth

Pokémon GO – Rausgehen aus den falschen Gründen
Die letzten zwei Jahrzehnte des Medienzeitalters bekamen die jungen Generationen vor allem einen Vorwurf zu hören: Sie gehe nicht mehr raus, zu wenig und überhaupt – und das gern von Leuten, die jede Woche mindestens eine Schachtel Zigaretten vernichten und ihr Übergewicht als Wohlstandsbäuchlein loben.

Jetzt tut die Jugend genau das: Rausgehen. Ein guter Pokémon-Trainer marschiert statistisch an die sechs bis zehn Kilometer am Tag, nicht nur auf der Jagd nach neuen Taschenmonstern, sondern auch, um neue auszubrüten – Pokémon-Eier schlüpfen nämlich nur, wenn sich der Besitzer bewegt. Was tun die besorgten Eltern? Sie formulieren den Vorwurf einfach um: Die Jugend gehe aus dem falschen Grund raus. Wie bitte? Was ist denn der Richtige? Wenn wir in Paris einmarschieren?

Noch schlimmer ist, wer sich da zu den Poké-Kritikern zählt: Leute aus den 60ern, 70ern und 80ern, die ihren Eltern per Eric Clapton und Bob Dylan erklärten, dass sich die Welt nun mal gewandelt hat und die Erwachsenen bitte beiseite treten wollen. Leute, die alle möglichen Drogen im Namen der Erleuchtung versuchten und glaubten, die Welt mit Rock’n’Roll retten zu können. Daneben auch noch die Menschen aus „meiner Zeit“, die Generation Y, die Handyrechnungen von mehreren Hundert D-Mark produzierte, weil man stundenlang mit Freundinnen über die Backstreet Boys ratschen musste. Die trauerten, weil sie ihre Tamagotchis fahrlässig verhungern ließen. Die mit Yomega-Jojos über die Pausenhöfe zogen. Die sich im Aldi auf den letzten PC warfen und ihn unter Einsatz ihres Leben bewachten, bis endlich Mama mit der Kohle und 12 Monaten Taschengeldvorschuss anrückte.

Diese Leute stehen nun am Straßenrand und schütteln den Kopf, wenn sie eine Gruppe Jugendlicher vorbeiziehen sehen, die halt auf Pokémonjagd gehen. Die Toleranz, die sie zehn oder zwanzig Jahre zuvor selbst von den Erwachsenen verlangten, scheint vergessen. Genauso wie der Kampf, den sie selbst gegen genau diese Form der Xenophobie führte.

Bild: Polizei-Dalek
Der Dalek – eine fahrende Killercomputer-Mülltonne mit passendem Pömpel und Plastikeimer-Look. Was zum Geier hat das mit dem Thema zu tun? Nicht einmal ich kann das erklären und dabei hab‘ ich diese Grafik gebastelt.


Diese Sache mit der Ignoranz
Eine Anekdote, weil ich so gern anekdiere (dieses Wort gibt es nicht):

Es war so gegen Ende des Jahres 2005. Mama und Papa Müller wollten ihrem Sohn zu Weihnachten ein Computerspiel schenken. Ihr Spross war ein Vollblut-Computerspieler von der Blasshaut-Fraktion, brachte aber gute Noten nach Hause – warum ihm also kein Spiel gönnen? Dachten sie sich wohl, und fragten im nächsten Videospielladen nach dem besten PC-Game, das aktuell auf dem Markt wäre. Der Verkäufer empfahl wohl wahrheitsgemäß World of Warcraft … und aus dem Sohn, einem guten Gymnasiasten wurde übernacht ein mieser Realschüler.

World of Warcraft war ein Phänomen. Ganz gezielt stillte es beim Spieler die genau richtig die Bedürfnisse aus Belohnen, Fordern und Beeindrucken und machte ihn im Regelfall sofort süchtig. Ich kenne keine Statistiken, aber das MMORPG muss für ein, zwei Jahre weltweit sichtbar den Notenschnitt und die Arbeitsleistung gedrückt haben. Die Suchtstellen beschwerten sich sogar beim SPIEGEL, dass fast nur noch besorgte Eltern wegen World of Warcraft anriefen.

Aber das war Weihnachten 2005 kein Geheimnis mehr. Wer nur den Begriff „Warcraft“ in die Suchmaschinen fütterte, bekam gleich auf dritter oder vierter Stelle Suchtwarnungen, von endlosen Artikeln in allen Magazinen und Zeitungen ganz zu Schweigen. Sich darüber schlau zu machen, hätte im besten Fall eine halbe Stunde gekostet.

Die Eltern des besagten Jugendlichen gingen also, mal in Gleichnissen gesprochen, in einen Laden für Drogen und sagten: „Hey, unser Sohn raucht gern hier und da eine. Jetzt wollen wir ihm was gönnen! Was ist denn die härteste Droge, die ihr habt?“

„Heroin.“

„Alles klar, das nehmen wir. Ein Monatspaket bitte!“

Gut, das Beispiel ist übertrieben, zeigt aber wunderbar, wohin Desinteresse und Ablehnung neuer Medien und Technologien führen können. Aus aufgeklärten, erwachsenen Menschen wurde auf einmal das Klischee eines Kindes, das sich unwissend mit Papas Pistole das Hirn aus dem Schädel pustet.

Jenen Jugendlichen hat es übrigens wirklich gegeben. Er war der Sohn einer befreundeten Familie und verspielte mit World of Warcraft fast seine Jugend mitsamt schulischer Laufbahn. Seine Geschichte ging trotzdem gut aus: Inzwischen nahm er den langen Weg zum Studium – über Mittlere Reife, Ausbildung und BOS – und hat wohl schon seit einer ganzen Weile den Master in der Tasche.

Aber dass es so kommen musste, ist aus meiner Sicht einer ganz typischen Erwachsenendenke geschuldet: Das Neue als unwichtig zu verurteilen und bequem zu ignorieren.


Verschleißerscheinungen
Ich frage mich oft, ob ich irgendwann genauso werde. Ob ich eines Tages VR-Studios verachte und zynische Artikel über selbstfahrende Autos schreibe, Flüchtlinge auf den Grund des Mittelmeers verdamme und alles mit Misstrauen beäuge, was nicht aus meiner Zeit stammt. Ist das normal, wenn man älter wird? So eine Art menschliche Verschleißerscheinung?

Viele, die von sich behaupteten, immer weltoffen zu bleiben, schütteln heute bei der Idee des HTC Vive den Kopf, lachen über Pokémon GO und finden Erwachsene furchtbar, die sich Zeichentrickserien wie Rick & Morty reinziehen – während sie selbst pünktlich jeden Montagabend auf die neue, traurig lacherfreie Folge der Simpsons warten. Weil das ist ja noch cool. Das letzte Gute aus einer besseren Zeit, die leider die Dreistigkeit besaß, zu Ende zu gehen.

Dabei ist Rick & Morty wirklich gut, wenigstens im englischen Original. Man sollte halt mal eine Folge versuchen.

Der Trend um Pokémon GO wird jedenfalls sein Ende finden. Er wird sterben, so wie irgendwann das Tamagotchi von der Bildfläche und das Jojo aus den Pausenhöfen verschwanden und eines Tages niemand mehr über World of Warcraft sprach. Er wird sich Lokalisten anschließen, die beinah Facebook Konkurrenz gemacht hätten (zumindest im deutschen Raum) und nun auch ihre Tore schließen.

Aber die Xenophobie wird bleiben. Spätestens in fünf Jahren, beim nächsten, großen Trend, werden wir sie wiedersehen. Und viele, die dann noch gegen sie waren, werden auf ihre Seite wechseln.

Hoffentlich nicht ich.

– Maximilian, 09.07.2016

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