Das sind die Guten

Maximilian Wust - Das sind die Guten

Das sind die Guten
Ein Science-fiction-Drama von Maximilian Wust



Fast jeder kennt mindestens einen Song, meistens relativ berühmt, der ihm eigentlich nur noch auf den Zeiger geht. Der Mambo No. 5 soll in dieser erlesenen Disziplin ein Spitzenkandidat sein, gefolgt von Who Let The Dogs Out und natürlich der fliegenden Schniedel-Ikone Crazy Frog – also laut der offiziellen Statistik halbseriöser Musikblogs. Dennoch: Praktisch jeder Mensch kann mindestens einen Song benennen, den er / sie / es gern und für immer aus allen Playlists dieser Welt entfernen würde. Das jedenfalls ist meiner:


ER ERWACHTE WACH.

Anders ließ es sich nicht beschrieben. Taschta wachte nicht auf, so wie sonst immer – er verstand einfach nur mehr und mehr, dass er schon seit einer ganzen Weile wach lag. Eigentlich konnte er sich gar nicht daran erinnern, überhaupt geschlafen zu haben.

Wie auch? Heute war es soweit! Heute war der wichtigste Tag seines Lebens. Heute wurde Taschta ein Mann. Jeder Zwölfjährige wurde heute einer und ganz sicher hatte keiner seiner Freunde diese Nacht auch nur ein Auge zubekommen. Sogar Ba-ba hatte das damals nicht geschafft, als er zum Mann wurde! Taschta grinste, wälzte sich ein letztes Mal und beschloss, dass es jetzt spät genug war, um mit dem Mann-werden anzufangen.

Der Morgen war noch früh, falls man ihn überhaupt schon einen Morgen nennen konnte. Bläuliche, mystische Dunkelheit erfüllte das Kinderzimmer. Die anderen, seine Geschwister und Vettern, schliefen noch. Am liebsten hätte er sie alle geweckt, damit sie mit ihm feierten, aber das hätte ihm nur Ärger eingebracht – ganz besonders mit Tante Naru. Er verabschiedete sich also nur von Miritt, seiner liebsten Schwester, und auch nur mit einem Schlaf-weiter-Kuss auf die Wange und wollte sich gerade wegschleichen, als sie etwas flüsterte. „Du hast geschlafen“, erklärte sie, als hätte sie schon wieder seine Gedanken gelesen. „Keine Sorge. Ich hab’ dich schnarchen hören.“

Nein, hatte er nicht! Das hätte er ja wohl gemerkt!, antwortete er in Gedanken und huschte nach draußen auf den Flur.

Dort löste ein wenig Licht die Dunkelheit. Es fiel, wenn auch nur spärlich, aus der Werkstatt am Ende des Ganges und legte sich als goldener Schimmer auf die Oberflächen, die das Haus zu bieten hatte – wie dem körnigen Beton, das flachsige Wellblech und die samtene Gummiummantelung der Kabel an der Decke. Taschta fühlte sein Herz lachen, was dann auch die Lippen nachtaten – er wusste ganz genau, wer da schon so früh an der Werkbank arbeitete.

Ba-ba – wer auch sonst? – saß unter dem Licht der elektrischen Lampe und bürstete noch einmal Taschtas Rüstung mit Lederwichse. Zwei Rucksäcke standen gepackt unter dem Tisch und die Waffen lagen poliert und geladen darauf. Alles schien für die Reise bereit, ganz besonders natürlich Ba-Ba, so in voller Rüstmontur. Er war ein Mann, wie Taschta auch einmal einer werden wollte: Mit schwarzem, vollem Bart, Armen wie Kranseile und vielen Haaren auf der stahlharten Brust. Und einer Haut, so rau wie Basalt.

„Wasser heute“, begrüßte ihn der Vater lächelnd.

„Wasser morgen“, erwiderte der Sohn grinsend.

Der Vater legte die Bürste zur Seite, richtete sich groß und breit auf und kam auf ihn zu. „Eine Stunde hätte ich dir mindestens noch gegönnt. Aber du gehörst wohl auch zu der Sorte, die sich lieber wach freuen, als zu schlafend zu warten, was?“, scherzte er. „Wie der Vater so der Sohn.“

Dieser rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er hatte wohl doch welchen gehabt. Danach mahnte er: „Ba-ba, die Ersten Worte!“

„Natürlich: Taschta, Sohn der Tanenat“, verkündete er mit tiefer Stimme, leicht übertrieben tief. „Ahn von Aakrama, der vom Himmel kam und sich bewährte, aber auch der Sohn von Kememn, also mein Sohn und ein neugieriger, kleiner Besserwisser: Heute, am 248. Tag der Ernte, wirst du ein Mann der Tiefe von Kuluk sein.“ Als ob Taschta jede Stunde eines jeden Tages der letzten Wochen daran gedacht hätte! „Ab morgen sollst du ehelich erklärt werden. Du wirst eine Frau heiraten und deine Pflicht erfüllen. Du wirst unsere Tiefe bereichern, mit jeder deiner Taten, und jeden Tropfen Wasser sollst du uns vierfach vergelten, mit deinem Eifer, deinem Blut und deinem Verstand. So, und jetzt wasch dich! Mama motzt sonst wieder.“

Taschta umarmte Ba-ba mit aller Kraft – um ihm zu beweisen, wie stark er doch geworden war – und ging ins Bad. Sein Vater hatte gestern noch etwas Blaugranulat zu Staub zermahlen, der sich jetzt einladend und bläulich glitzernd in einer Schüssel neben der Duschkabine sammelte. Taschta drehte das Licht schwach auf und legte die Lumpen ab, um das türkisblaue Pulver über Haut und Haare zu verstreichen. Es kribbelte, angenehm und entspannend, wie tausend kleine Nadelstiche. Mit etwas Wasser hätte es sogar geknistert und geschäumt, aber das war diesen Monat selten.

Die dämliche Aufseherin Kalelat und oberste Maschinistin der Pumpenarbeiter war nämlich vorletzte Woche gestorben, nachdem sie sich jahrelang erfolgreich geweigert hatte, eine Nachfolgerin auszubilden. Weil man nur stirbt, wenn man sich darauf einstellt, hatte sie geglaubt. Und oft genug behauptet. Und war dann trotzdem gestorben, mit dem Gesicht in der Morgensuppe. Was für eine blöde Rohrschluckerin! Jetzt musste man ihre Aufzeichnungen und Erzählungen vergleichen, um die Pumpe wieder auf volle Leistung zu bringen, was – so erklärte Ba-ba – wohl noch einige Wochen dauern würde. Schon davor hatten sich nur die Aufseherinnen und ihre Günstlinge, eben auch Taschtas Vater, mit Wasser waschen gedurft und jetzt sogar nicht einmal mehr die. Von der Brandgefahr mal ganz zu Schweigen, so ohne Löschwasser. Das war blöd, aber heute einfach mal egal. „Heute werde ich ein Mann!“, verkündete Taschta nur für sich selbst.

„Oder auch nicht!“, spottete Rin.

Taschta schlug die Augen auf. Rin, seine ältere und bösartige Schwester hatte sich wohl hereingeschlichen und stand plötzlich vor ihm. Sie war groß, größer als Papa, mit ihrem komisch langen Gesicht hässlich, und vor allem und zuerst ein blödes Stück Scheiße.

„Du willst ein Mann sein?“, fragte sie böse lachend und begann nebenher ihr Schlafkleid zu lösen. Nacktheit unter Familienmitgliedern war in der Tiefe nicht ungewöhnlich. Man lebte einfach zu eng zusammen. „Ein Mann ist man erst, wenn da untenrum was wächst! Und bei dir sehe ich da nur Flachland und einen toten Wurm.“

Taschta drehte sich weg und wischte hastig den blauen Staub vom Körper. Dieser hatte inzwischen alles Fett aus den Haaren gezogen und den Schmutz der letzten Tage zu einer Kruste gebunden, die wie von selbst vom Körper flockte. Er musste hier raus, weg von dieser dummen Rohrschluckerin!

Diese grinste. Wie immer war es ihr noch nicht genug und sie spottete weiter: „Ja schau mal, sogar ich bin mehr Mann als du!“ Dabei präsentierte sie das schwarze Dreieck zwischen ihren Beinen.

„Aber zur Frau fehlt dir noch der Busen!“, konterte Taschta. „Ich seh‘ da nur Flachland und zwei rote Flecken! Und mehr kommt da auch nicht mehr, sagt Mama, weil du schon blutest! Ja schau mal, sogar ich bin mehr Frau als du!“ Dabei streichelte er über seine durchaus muskulöse Brust.

Rin starrte ihn einen Moment einfach nur an, mit offenem Mund, bevor sie explodierte. „Du verschissener Pimmelküsser!“, kreischte sie. „Raus! Verpiss dich! Raus!“ Dabei schlug sie wild auf ihn ein und jagte ihn aus dem Bad.

Ihm blieb nicht viel mehr übrig, als im dunklen Flur die Fäuste zu ballen, ihr Weinen zu genießen – denn immer, wenn es um ihre Brüste ging, weinte sie – und sich in der Werkstatt anzuziehen. Das besserte auch sofort seine Laune, denn statt dem dünnen Gewand trug er heute zum ersten Mal die Rüstung eines Haldenwanderers. Dass sie zerkratzt, mehrfach geflickt und schon von mindestens zehn anderen am Manntag getragen worden war, störte Taschta kein bisschen. Diese Rüstung, diese braun-graue Brustplatte, die Sturmbrille, die Armschienen aus Aramidgewebe und die Ais‘Hoki-Beinschoner aus Panzerplastik, dazu der dreischüssige Revolver – das machte ihn zu einem Mann! Da konnte die rohrschluckende Rin sagen, was sie wollte!

***

So, als stolzer Haldenritter, trat er in die Küche – einem runden Raum aus Beton und früher angeblich ein Schützenbunker, den sich Taschtas Verwandtschaft schon vor seiner Geburt mit drei anderen, den Aufseherinnen direkt unterstellten Familien teilte. Elektrische Grubenlampen beleuchteten die Kammer, aus dem Plattenspieler summte sanft Mamas Lieblingsmusik und der Geruch von gebratenem Insekt lag in der Luft. Mama ließ einige Fingerbeißer in der Pfanne brutzeln, mit Koriander, Kümmel und viel Pfeffer – ganz so, wie es Taschta liebte. Was sie wusste.

Natürlich musste sie trotzdem noch ein paar herablassende Worte loswerden. Die große, breite Frau begann einfach damit, als ihr Kriegersohn zur Schleuse hereinkam: „Wasser heut, Taschta. Deine Rüstung ist zu groß“, bemerkte sie kalt. „Die Schultern hängen zu locker.“ Er konnte sich nicht erinnern, dass Mama jemals viel Mitgefühl gezeigt hatte.

Taschta versuchte, den Harnisch etwas mehr festzuziehen, erfolglos. „Wasser morgen, Mama. Wir dürfen die Rüstung nicht noch weiter anpassen, hat Ba-ba gesagt. Wegen den Männern nach mir.“

„Das ist mir bewusst. So ist sie halt nicht besonders kampftauglich, aber das ist deine Sache. Du musst entscheiden, ob du damit zur Ernte gehen willst.“

Ihr Sohn verharrte an der Schleuse und schwieg. Es spielte keine Rolle, was er darauf antwortete – Mama würde es sowieso einfach abschmettern, kalt und im gedämpften Ton.

„Hat Ba-ba dir erklärt, was übermorgen auf dich zukommt?“, fragte sie als nächstes.

„Zuerst müssen wir zu Aufseherin Nakanatan. Sie muss sagen, ob unsere Sklaven was taugen.“

Falls ihr überhaupt einen Sklaven mitbringt.“

Taschta ignorierte die Bemerkung. „Danach gehen wir zu Aufseherin Anuscheh. Sie nimmt mir einen Tropfen Blut ab und stellt mir viele Fragen, die ich alle ehrlich beantworten muss. Sogar wenn ich gegen die Gesetze verstoßen habe. Sie wird aber keinem was erzählen, niemals, trotzdem aber alles an den Großen Monitor weitergeben. Der sagt dann, welche Frau am besten zu mir passt und die werde ich heiraten. Also, wenn ich älter bin.“

„Klingt so, als hättest du Angst, morgen gleich verheiratet zu werden.“

„Hab‘ ich keine. Das dauert ja auch. Rin wartet ja auch noch auf ihren Mann.“

Mama schüttelte den Kopf, ohne sich von der Pfanne abzuwenden. „Rin wartet, weil sie hässlich ist und der Große Monitor erst jemanden finden muss, der die Hochzeitsnacht übersteht, ohne sich zu würgen. Bei dir ist das aber anders: Du bist wie meine Brüder – ein Trottel, aber hübsch genug, um noch vor deiner Hochzeit ein dummes Gör hinter der Pumpenanlage zu schwängern. Sowas verheiratet der Monitor gern sofort. Kann also gut sein, dass es bei dir genauso so schnell geht, wie bei diesem Hohlkopf Nolumnesasi und du schon nächste Woche verheiratet bist.“

„Das ist aber selten“, protestierte Taschta vorsichtig. „Und komisch ist es auch. Warum hat der Große Monitor gewollt, dass er eine so alte Frau heiratet?“

„Weil er es für richtig gehalten hat. Und mehr braucht dich nicht zu interessieren! Nur die Erste Aufseherin geht es was an, warum der Große Monitor so denkt, wie er denkt. Bist du die Erste Aufseherin?“

Ba-ba schaltete sich nun ein, endlich: „Mak ist nicht alt“, erklärte er und meinte damit Nolumnesasis Ehefrau. „Sie ist nur zu alt um Kinder zu kriegen und im Bett angeblich so gierig wie ein Fünfzehnjähriger. Bei Nolumnesasi dagegen liegt eine seltene Krankheit im Blut. Deshalb hat der Große Monitor einen Kompromiss geschlossen: Er liegt bei einer Frau, was man in seinem Alter oft tun will – glaub’ mir das! – kann aber sein krankes Blut nicht an Kinder weitergeben.“

„Ah“, seufzte Mama spöttisch, „Zwei Erste Aufseherinnen! Und das unter meinem Dach! Aber wo wir gerade dabei sind: Taschta, hast du schon einen Meister, bei dem du dich dann vorstellen willst? Also, außer der Ersten Aufseherin natürlich.“

Der Sohn wurde kleinlaut. „Nein.“

„Immer noch nicht? Hat Meister Tabbas keine Anstellung für dich?“

„Ich will nicht im Lager arbeiten …“

„Sondern wirklich Aufseherin werden?“

„Nein. Aber ich kann lesen.“

Mama zuckte mit den Schultern. „Das heißt? Willst du im Wörterhaus arbeiten und Briefe für die Händler schreiben? Was du nur lernen durftest, weil du zwei erwachsene Schwestern hast! Die Schreiberinnen wissen das! Ich würde nicht darauf wetten, dass sie dich aufnehmen.“

„Ba-ba könnte mit Meister Ruzdhi reden. Vielleicht kann ich auch ein Vollstrecker werden.“

Nun grinste Mama sogar, mit dieser gewohnt herablassenden Mischung aus Mitleid und Verachtung. „Du kannst kaum deine Pistole halten und dann ein Gewehr?“

„Ich hab‘ beim Raufen fast immer gewonnen. Und auch beim Wettrennen!“

„Und damit taugst zu … was? Einem Protektor? Von denen haben wir im Moment mehr, als jeder Feind erschießen könnte. Du hast außerdem von einem Vollstrecker gesprochen: Könntest du deinen besten Freund hinrichten, zum Beispiel Linnarak, dieses Suppenhirn, wenn es dir die Aufseherinnen befehlen? Oder mit den Altweltlern um Frieden verhandeln? Oder eine andere Tiefe davon überzeugen, einen ihrer Leute auszuliefern, damit wir ihn öffentlich pulverisieren? Das muss ein Vollstrecker nämlich können.“

Ba-Ba unterbrach sie schließlich: „Tano, ist jetzt gut! Es ist sein Manntag!“

„Was macht das für einen Unterschied? Er wird nicht morgen plötzlich als Mann aufwachen, mit Bart und voll ausgebildet. Auch wenn er heute Abend die Öffnung miterlebt und ernten geht, er bleibt ein kleiner Junge. Das weißt du besser als die meisten anderen.“

„Könntest du wenigstens so tun, als würdest du ihn mögen?“

Mama holte tief Luft, legte das Bratbesteck beiseite und wandte sich zu Ehemann und Sohn um. „Ich liebe ihn, wie es eine Mutter tun sollte. Aber das ändert nichts an seiner Situation und irgendjemand muss ihm das erklären! Wenn er wertlose Lobhudelei braucht, soll er zur Männermacherin gehen und sich danach erzählen lassen, was für ein toller, großer Kerl er doch geworden ist. Wenn er sie bezahlen kann, so ohne Punkte.“

Sie seufzte, entnervt. „Und jetzt bin ich wieder die Böse. Taschta, halte dich heute Abend an deinen Vater!“, sagte sie in einem weniger schmälernden Ton, was ihr offensichtlich Mühe bereitete. „Wenn jemand jedes Jahr zur Ernte geht, dann sollte er zumindest ein wenig Erfahrung mit den Abläufen haben. Und wenn du unserer Familie ein paar schöne Geschenke mitbringst – vielleicht etwas Papier für Rin, damit sie endlich wieder zeichnen kann – dann spreche ich mit Aufseherin Kaalam.“ – Ihrer Cousine – „Für einen Arbeiter bist du, dank deinem Vater, zu verwöhnt, und für einen Vollstrecker fehlt dir die Dreistigkeit, mit der ein Mann sogar seiner Frau widerspricht. Also wäre es vielleicht das Beste, wenn du als Nachtschwester endlos Bücher und Dateien nach brauchbaren Informationen durchpflügst. Im Archiv lernst du vielleicht auch endlich mal, richtig zu lesen.“

Taschta konnte nicht anders, als wieder zu grinsen.

„Nachtschwestern grinsen nicht!“, fauchte Mama.

Also lächelte er nur noch – so breit, dass man es fast ein Grinsen nennen konnte.

Eine Nachtschwester zu sein hatte eigentlich nichts als Vorteile: Man wurde in verbotenes Wissen eingeweiht, man bekam die elektrische Brille eines Aufsehers, wenn auch nur über ein paar Stunden pro Woche, das gute Essen, sauberes Wasser – darum würden ihn noch die Kinder seiner Kinder beneiden. Und dazu war der Posten auch noch gut bezahlt. Nur ein Vollstrecker verdiente mehr Punkte.

„Ihr Männer“, bemerkte Mama und schüttelte den Kopf. „Ihr wollt hart und unverletzbar sein, dabei braucht ihr immer Anerkennung. Und wenn’s nur dafür ist, dass ihr euch mal ohne fremde Hilfe gewaschen habt.“

***

Wie die meisten Menschen der Silbersandwüste, so war auch Taschta in einer Tiefe aufgewachsen. Diese „Löcher im Land“, wie man sie auch nannte, entstanden angeblich vor vierhundert Jahren, im großen Gegenkrieg. Als er endete – oder vielleicht war es auch, wodurch er endete –, stürzten Säulen aus alles vernichtendem Licht vom Himmel und brannten zylinderförmige Gruben in den Boden, zweihundert Meter breit und einhundert tief. Den Chronistinnen nach wurden damit keine Festungen oder Waffen zerstört, nicht mehr, sondern nur noch die letzten Herren hingerichtet. Sie flohen wohl über den silbergrauen Sand, abgerissen, verzweifelt und ohne Ziel, während einer nach dem anderen ins Licht zerfloss. Was von ihnen übrig blieb, diente heute ihrer früheren Beute als Unterschlupf vor den Stürmen.

Die Tiefe Kuluk jedenfalls, Taschtas Heimatort, lag an einem guten Ort, zwischen der Wüste und den Halden, umgeben von fruchtbaren Böden und nur eine halbe Tagesreise vom Turm entfernt. Das hatte sie schon vor langer Zeit reich gemacht, zuerst an Habe, dann an Bewohnern. Der Grubenboden war längst bis zum letzten Handbreit Fläche verbaut worden, weshalb die Hütten schon seit Generationen auch an den Wänden emporwuchsen. Wie in jeder Tiefe bestanden die Häuser aus allem, was die Welt so hergab: Lehm, Wellblech, Autoteile, Stahl und Beton – wer reich war, lebte in Beton –, zusammengehalten durch Tausende Nietenbolzen, noch mehr Beton und Kabel, überall Kabel, die bei Regen zischten. Wer auffallen wollte, kletterte an ihnen hinauf, anstatt die Treppen zu benutzen. Oder den Lift.

Als Taschta und Ba-ba vom eben diesem am Grubenrand abgesetzt wurden, war es noch wirklich früh am Morgen. Das Morgenglühen kündigte sich als ein sanfter Streifen aus Türkis am Horizont an. Erst in Stunden würde die Linie-aus-Licht – angeblich ein Ring, der einmal um die ganze Welt verlief – auch nur in ihrer Nähe sein. Das war ein gutes Zeichen: Sie würden rechtzeitig ankommen; mehr als pünktlich.

Zusammen mit dreißig anderen, zehn freien Vätern, zehn Söhnen, fünf ausgewiesenen Raubsammlern und fünf bewaffneten Kampfsklaven, zogen sie in die Halden hinaus. Die Sklavenarbeiter an den Windfänger-Turbinen hatten sich zum Abschied auf dem Dach des höchsten Zylinders gesammelt und wünschten ihnen viel Glück und Erfolg, indem sie ihre Hemden auszogen und damit in die Luft peitschten. Für symbolischen Rückenwind, wie Ba-ba erklärte.

„Bringt uns ein paar neue Brüder mit!“, riefen sie. „Und schöne Frauen!“ Verständlicherweise, denn jeder neue Sklave bedeutete, dass alle älteren einen Rang aufstiegen, vom herumgeschubsten Nichts zum rumschubsenden Niemand.

Taschta ließ sich von ihrer Stimmung mitreißen. „Mehr als wir ernähren können!“, versprach er ihnen und blickte nach vorn.

Die Außenwelt erwartete sie. Dünen aus silbergrauem Sand bildeten erstarrte Wellen, als würden sie mit dem Wind fließen und doch auch nicht. Große Objekte wie Steine oder Ruinen der Herren wurden von ihnen wie Wasser umspielt, das in der Zeit eingefroren war. Glitzernde Gespenster tanzen im sanften Wind. Darüber verdichteten sich die dunkelblauen Wolken zu einer Höhlendecke. Die Silbersandwüste war so trist und so schön wie immer.

***

Nach zehn Minuten passierte die Gruppe die Gewächshäuser. Ihre zerkratzten Dächer ragten zur Hälfte aus dem Silbersand, als würden sie darin versinken. Das hätten sie auch schon lange getan, würde man sie nicht jeden Morgen freischaufeln. Taschta wusste als einziger, der heute zum Mann wurde, wie man die reinen Pflanzenhäuser von den Zuchtanlagen für Speiseinsekten unterscheiden konnte und dass man seit diesem Frühjahr auch wieder Pilze und Grünzeug für die Heiler züchtete. Also, endlich wieder, nach fast dreißig Jahren. Der verräterische und einzige, jemals männliche Aufseher Matrinoch hatte damals das Wissen darum nicht nur mit sich in die Pulverschüssel genommen, sondern auch zuvor aus dem Archiv gelöscht. Das hatte man leider erst bemerkt, nachdem von ihm nur noch ein rosarotes Häufchen übrig war. So hatte es Taschtas Lieblings-Chronistin erklärt und so erklärte er es auch seinem Ba-ba, der lächelnd zuhörte. „Mama hat schon Recht: Du bist jetzt schon fast eine Chronistin“, sagte er, ohne den Blick vom Weg abzuwenden.

Nach einer Stunde kamen sie weiter, als Taschta jemals gegangen war: Die Riesenschaufel war das Ende seiner bisher bekannten Welt. Eigentlich war sie auch keine Riesenschaufel, wie ihm seine Lieblings-Chronistin einmal erklärt hatte, sondern ein Schiff, also eine Art Transporter, der früher über Gewässer fuhr, deren Ufer Tage voneinander entfernt liegen. Als er sich das nicht vorstellen konnte, zeigte sie ihm ein Foto von Wasser und zwar unendlich viel davon. Es reichte von einem Bildrand zum nächsten und vom Fotograf bis zum Horizont. Es gab wohl tatsächlich Orte mit so viel Wasser.

Nach drei Stunden rasteten sie kurz unter einem Zahn, so groß wie ein Haus. Er gehörte zum Gebiss eines Wesens, das Städte fraß – oder es getan hätte, wenn sie unter Wasser liegen würden. Denn nur dort konnte dieses Untier angeblich leben, ohne von sich selbst erdrückt zu werden. Im Innern, in Höhlenkammern aus brüchigem Zahnschmelz, wuchs Moos, durch das kleine Felltropfen mit nackten Schwänzen huschten. Sie hießen Mäuse, erklärten die Väter ihren Söhnen und dürften niemals, niemals mit nach Kuluk gebracht werden. Jede Tiefe, in die sich bisher eine Maus verirrte, hatte bald Millionen davon und genauso keine Nahrung mehr. Taschta studierte neugierig die kleinen Tierchen mit den hervorstehenden Kulleraugen und empfand viel Mitleid für sie, als die Väter in den Zahnhöhlen Brandsätze legten. Feuerzungen fauchten aus den Rissen. Alles darin verbrannte – Fell, Schwänze und Kulleraugen.

„Wir erwischen sie nie alle“, versicherte Ba-ba, der die Gefühle seines Sohnes durchschaut hatte. „Bis zur nächsten Ernte haben sie sich wieder vermehrt.“ Nachdem sie die Ausrüstung nach überlebenden Felltropfen-Mäusen durchsucht hatten, zogen sie weiter.

***

Nach vier Stunden durchquerten sie das Feld der Diesen, einen Friedhof der Herren. Hunderte zylinderförmiger Pfeiler aus glattem, schwarzem Stein ragten fast zwei Mann hoch aus der seltsam flachen Ebene. An ihrer Spitze umklammerte sie beinah krallenartig einen Stein aus türkisfarbenem, trüben Glas, das manchmal noch schwach glühte. In Kuluk hieß es, dass angeblich die Seelen der Herren darin ruhten, um vielleicht eines Tages von ihren Schwestern und Brüdern geborgen und in neue Körper gesteckt zu werden. Sie warteten aber anscheinend vergeblich. Das Glühen im Kristall zeigte, ob darin noch eine Seele lebte und die meisten waren erloschen.

Zwischen den sterbenden Geistern bat Taschta seinen Vater um eine Frage-ohne-Ohren – was bedeutete, dass man sie am besten so stellte, dass niemand mitbekam, dass sie überhaupt gestellt worden war. Also trennten sich Ba-ba und Sohn von den anderen, indem sie etwas vorangingen.

„Du weißt, dass ich nicht über meine Aufgaben sprechen darf“, warnte der Vater.

„Weiß ich“, Taschta suchte die richtigen Worte. „Ich will deinen Trick wissen. Also, wie hast du so lange überlebt hast.“

„Wie meinst du das?“

„Im Unterricht haben wir gelernt, dass fast alle Vollstrecker nach zehn Jahren tot sind. Der Beruf ist einfach zu gefährlich und deswegen kriegen die Frauen von Vollstreckern auch noch seinen Lohn, wenn er tot ist. Du bist aber schon zwanzig Jahre lang einer. Also, wie machst du das?“

Sein Vater seufzte. Er hatte wohl schon früher oder später mit dieser Frage gerechnet. „Indem ich kein Held bin“, antwortete er.

„Linnarak meint, dass du ein Feigling bist.“

Ba-ba erwiderte mit grimmigem Blick: „Taschta, wenn du etwas zu sagen hast, dann sag es und schieb keine anderen vor! Der-und-der hat gesagt lässt dich so wirken, als hättest du kein Vertrauen in dich selbst. Also sei der Mann, der du heute Abend wirst und sprich es aus: Denkst du, dass ich ein Feigling bin?“

Taschta zögerte, zu lange, und schüttelte schließlich den Kopf – so unecht, dass er es selbst nicht glaubte. „Woher soll ich das wissen? Die Chronistinnen meinen, dass du dich immer bei unseren Nachbarn einschleimst. Und dass du Angst hast, getötet zu werden und jetzt die anderen Tiefen denken, wir wären alle Schwächlinge.“

Ba-ba lachte zischend durch die Nase. „Sagen das die Chronistinnen oder deine Chronistin?“

„Ich meine das ernst, Ba-ba.“

„Also gut, es stimmt. Alles! Ich habe Angst und ich bin ein Schleimer. Und das ist gut so. Schau, normale Vollstrecker verlassen sich immer auf ihre Waffe und ihre Rüstung. Ich verstehe auch, warum“, sagte er und zog sein Gewehr vom Rücken. Es bestand aus einem wunderschönen Holzgriff, die in eine Eisenspange überging, die wiederum drei schwarze Kristallzylinder trug. „Der Lauf ist ein Plasmawerfer der Herren – ein Schuss durchdringt jede Panzerweste und zehn normale Mauern – und in meinem Harnisch ist ein dünnes Geflecht aus lebendigen Schutzkristallen der Herren – da kommt kein Messer durch und sogar kleine Patronen prallen dran ab. Klingt mächtig, oder?“

Taschta schnaubte. „Ich weiß, was Vollstrecker für Zeug haben!“ Jeder wusste das und jeder sprach von nichts anderem, wenn es um Kämpfe ging. „Das Beste vom Besten.“

„Ja, aber es ist umso dümmer, wenn sie sich darauf verlassen. Schau, wenn die meisten Vollstrecker was erreichen wollen, dann drohen sie einfach. Wenn ihr nicht macht, was ich sage, dann bringe ich euch alle um! So in etwa. Und oft funktioniert das. Die meisten Menschen haben große Angst vor Leuten wie mir. Aber früher oder später geraten sie an jemanden, der sich davon nicht überzeugen lässt. Klar, den erschießen sie dann, genauso wie den nächsten, vielleicht auch noch den übernächsten und dann nochmal so viele, wie sie Finger an den Händen haben. Aber dann hat das Glück irgendwann ein Ende.

Haben dir diese Schwätzer auch erzählt, wie mein Meister ums Leben kam? Er hat mit den Altweltlern verhandelt. Mal wieder. Als sie ihm nicht nachgeben wollten und auch noch laut wurden, hat er sein Gewehr gezogen und ihre Anführerin bedroht. Der lenkte dann erst recht nicht mehr ein und mein Lehrer hat seine Drohung wahr gemacht. Am nächsten Morgen mussten die Altweltler eine neue Aufseherin wählen und sechs Männer begraben, hatten aber auch eine Vollstrecker-Waffe mehr in ihrem Besitz und ich keinen Meister mehr. Das war in seinem achten Jahr.“

Taschta wollte etwas sagen, Ba-ba sprach jedoch einfach weiter: „Sein Meister wiederum starb, als er eine Karawane beschützte. Die Räuber – ich glaube, Verbannte der Tiefe Niram – wollten den Treck ausplündern, da stellte er sich ihnen in den Weg und machte ihnen klar, dass sie zu verschwinden hätten – entweder weg von der Straße oder unter den Sand. Er hat wohl über die Hälfte getötet, bevor ihn ein Wurfmesser ins Auge traf.“

„Aber er ist ehrenvoll gestorben. Was hättest denn du gemacht?“

„Kompromisse geschlossen. Schau, bevor ich mit anderen Tiefen verhandle, lasse ich mein Gewehr in einem Versteck zurück. Wenn sie mich töten wollen, werden sie es sowieso tun, auch wenn ich davor zehn von ihnen in zwei Hälften zerschmelze. Und die meisten Anführer und Aufseherinnen sehen das sogar echt als guten Willen, wenn ich unbewaffnet eintreffe. Ja, manchmal gehe ich leer aus, aber dafür gehe ich.

Was den Meister meines Meisters betrifft: Ich wurde noch nicht überfallen, aber ich glaube, dass man sogar das regeln kann. Die meisten Wüstenräuber sind verzweifelt. Sie brauchen Essen oder Material, aber sie wollen auch nicht sterben. Also würde ich ihnen einen gerechten Teil der Waren anbieten und ihnen klar machen, dass die andere Möglichkeit ein Kampf wäre, der ihnen viele Freunde kosten wird. Die meisten werden mein Angebot annehmen.“

Taschta hörte zu und überlegte. „Aber sie kommen dann ungeschoren davon und machen sogar Beute.“

„Nein, alle kommen ungeschoren davon. Es gibt keine Toten, keine Trauernden, keine hungernden Kinder und keine Schwüre von Blutrache, sondern nur ein paar reiche Händler, die sowieso damit rechnen, dass hier und da eine Karawane verschwindet.“

Taschtas Blick schweifte über die Kristallenden an den Pfeilern. Einen Moment lang fragte er sich, was die Seelen darin fühlten oder sahen. Konnten sie das überhaupt? Konnten sie vielleicht sogar hören, was man in ihrer Nähe besprach? Oder waren sie in dem milchigen Kristall gefangen, ohne Augen und Ohren und andere Herren, wo nichts anderes taten, außer die Tage zu zählen, während sie schwächer und schwächer wurden und sich auflösten?

„Es gibt da so ein Gerücht“, erwiderte der Sohn schließlich vorsichtig. „Ein paar andere haben gesagt, dass du bei einer Karawane aus Sinjen dabei warst und dass du dich aus dem Staub gemacht hast, als sie angegriffen wurde. Keiner hat überlebt. Außer dir.“

„Sagt man das?“

„Die Sklaven, die die Aufseherinnen letztes Jahr aus Malamtem gekauft haben, haben dich angeblich gesehen, wie du bei ihnen mitgegangen bist. Darf ich wissen, was wirklich passiert ist?“

„Behältst du es für dich, bis dein Gesicht ins Buch der Väter kommt?“

Taschta öffnete schon den Mund, wurde aber jäh abgeschnitten: „Versprich es nur, wenn du es auch wirklich halten kannst!“, forderte Ba-ba. „Solltest du dich jemals verplappern, werden die Aufseherinnen nicht nur dich, sondern unsere ganze Familie pulverisieren lassen. Und das wahrscheinlich von mir. Was ich dir sage, darf – wenn überhaupt – nur Aufseherin Anuscheh hören. Und sonst niemand. Nicht einmal deine Chronistin!“

„Ich – ja, ich schwöre es. Nicht einmal meine …“ Das letzte Wort blieb unausgesprochen.

„Also gut: Dieses … Karawanenunglück war ein Auftrag. Ich sollte mich nämlich bei ihnen einschleichen. Schau, diese angeblichen Basalthändler haben Menschen gejagt und in Sinjen oder noch weiter weg als Sklaven verkauft und das seit Jahren. Sie wurden auch nicht von Räubern niedergemacht – dazu waren sie  zu gut organisiert und viel zu gut bewaffnet –, sondern von einer Erntemaschine der Nicht-Gesichter eingesammelt. Wie sie herausstellte, hatten sie ein verbotenes Herren-Artefakt dabeigehabt.“

Taschta kannte die Erntemaschinen nur aus Geschichten: Die Vollstrecker der Nicht-Gesicht-Priester waren halb-lebendige Flugmaschinen, schnell und erbittert, der Rücken aus Stahl, am Bauch eine Maulschleuse und hundert Meter lange Fangarme. Damit zogen sie ihre Beute sogar noch aus einem Minenschacht.

„Aber wie bist du rechtzeitig weggekommen?“, fragte der Sohn den Vater.

Der zögerte, während sich sein Gesicht verhärtete. „Ich wusste, dass sie einen verbotenen Gegenstand besaßen.“

„Woher?“

„Weil ich es bei ihnen versteckt habe.“

   ***

Nach fünf Stunden erkannten sie in der Ferne die schwarzen Tempel der Herren. Nach sechs gingen sie zwischen ihnen hindurch. Die viereckigen, scharfkantigen Giganten aus schwarzem, glattem Stein warfen dunkle Schatten. Aus manchen Bauwerken wuchsen sich lange, gequält-verkrümmte Dornen gen Himmel, andere schienen kein Dach zu haben, sondern sich nach oben hin zu öffnen, dafür besaßen wieder andere nichts, was einem Eingang oder einer Tür ähnelte. Fenster gab es keine, an keinem der Gebäude.

Einer der Väter deutete auf ein schwarzes Portal und warnte: „Geht da niemals rein! Die Herr’n sin’ noch da drin!“

„Ach so. Sin’ se zurückgekommen, um nach dem Rechten zu sehen?“, scherzte sein Sohn. „Wenn’s noch einen Herren gäb’, gäb’s keine Ohne-Gesichter, Ba-ba.“

„Halt dein blödes Maul, Bramh! Da drin is’, was von den Herr’n übrig is’ und das läss’ von niemandem was übrig, der so blöd is’, da rein zu gehen! Kanns’ dich gern überzeugen! Wär‘ nicht schad’ um dich!“

Die beiden waren ungebildete Arbeiter aus der Schmelze oder dem Klärwerk. Dass die Bauwerke der Herren nicht betreten werden durften, wusste sonst jeder, der bei den Chronistinnen Unterricht bekam.

Taschta ignorierte die beiden und bemerkte dabei etwas anderes: Im Schatten dieser Mauern war es seltsam still. Es ging auch kein Wind, so als würden ihn die Häuser der Herren verschlucken. Das hätte zumindest erklärt, warum sie nicht längst im Sand versunken waren.

***

Nach sieben Stunden erreichte die Gruppe die Eine Straße, die genauso wenig vom Silbersand begraben werden konnte: Fahrzeuge der Herren lagen auf ihr verstreut, alle schon vor Generationen aufgebrochen, geplündert und nochmals geplündert worden, bis wirklich nur noch die dunklen Schalen übrig geblieben waren. Niemand in Kuluk wusste, wo die Straße eigentlich begann oder wo sie endete. Folgte man ihr nach Norden, kam man nach einigen Tagen in Sinjen an, aber sogar dort konnte man nicht sagen, was an ihrem Ende lag.

Nach acht Stunden wurden die Wanderer von der Linie-aus-Licht erfasst. Sie war warm, überaus entspannend und hell und ließ den kalten Boden dampfen. Nur wenig später trafen sie andere Gruppen und schlossen sich ihnen an. Marschierten da erst noch dreißig Männer, waren es bald sechzig, dann hundert und mehr. Taschta erkannte einige Schrottsammler aus der Haldentiefe Malatem, außerdem in Kabel gekleidete Elektromanten aus der Tiefe Kjaschtam und Plastikschmelzer aus der übervölkerten, lauten, immer beleuchteten Tiefe Nura-Nol –  in die einfach jeder Mensch einmal reisen sollte, wie Ba-ba immer bestimmte, allein schon weil es dort unglaublich köstliche, gekochte Teigwürmer gab, die man Nudeln nannte.

Ein paar Männer trugen jedoch auch rote Lederwesten, die Taschta sofort aus den Geschichten seines Vaters erkannte: Das waren die berühmten Altweltler. Sie stammten aus der Gruft von Schatnar, also keiner Tiefe, sondern einer mit Tunnels durchzogenen Klippe und hatten sich mit allen umliegenden Tiefen verfeindet. Normalerweise hätte man sie sofort erschießen müssen, also schon beim bloßen Sichtkontakt, aber am Tag der Ernte durfte man sich nicht bekämpfen. So bestimmten es die Aufseherinnen aller Lager, Tiefen und Stämme, sogar die demukrawisch – oder so – gewählten Anführerinnen von Schatnar. Seltsamerweise wirkten die Altwelter überhaupt nicht bösartig, sondern eher freundlich und offen. Sie hörten jedem zu, der etwas zu sagen hatte und gaben ihm kluge Ratschläge, wenn er sie wollte. Taschta ertappte sich dabei, wie er sie auch etwas fragen wollte.

Nach neun Stunden sprach man viel miteinander, ob man nun verbündet oder verfeindet war. Mit jeder Gruppe wurde der Wortwechsel mehr und lauter. Die einen tauschten Kochrezepte aus, die anderen prophezeiten sich gegenseitig den Untergang. „Irgendwann schicken sie Bomben zurück“, verkündete ein älterer Altweltler seinen Zuhörern. „So war’s auch bei den Herren. Was wir tun, hat ihnen am Ende den Gegenkrieg gebracht.“

Ein Kampfsklave schaltete sich dazu ein: „Braucht ihr euch keine Sorgen machen“, versicherte er mürrisch. „Weiß ja noch nicht mal jemand, dass es euch gibt. Die Kein-Gesichter sind da schlauer, als die Herren.“

Sein Besitzer verpasste ihm selbstverständlich sofort einen Elektroschock.

Wieder andere erklärten ihren Söhnen das Schwarze Dazwischen. Ein Mann, der die schwarze Lederrobe einer Chronistin trug, erzählte stockend: „Sie glauben, dass sie nur ein paar Sekunden durch ein ewiges Schwarz fallen, aber in Wirklichkeit können dabei Monate vergehen. Sie denken halt, dass nur ein Moment vergangen ist, versteht ihr? Für manche isses das ja auch. Erst bei der Öffnung werden sie dann alle gleichzeitig aus dem Schwarzen Dazwischen gezogen. Oder Geworfen? Entlassen? So in der Art. Auch wenn manche Monate drin waren und andere nur ein paar Minuten vielleicht. Aber allen kommt’s nur wie ´ne Minute vor. Versteht ihr das?“

Wo sie sich jedoch alle zustimmten, war ein Wesen namens Katze und wie toll und nützlich es doch wäre. Die Menschen der Tiefe Niram boten anscheinend ein Vermögen dafür. „Sie brauchen sie dringend. Eigentlich braucht sie jeder!“

***

Nach zehn Stunden begann der Wind auf einmal seltsam zu heulen – unnatürlich monoton, ohne höher und tiefer zu werden. Gleichzeitig wurden die Männer unruhig. Sie ahnten etwas.

Ba-ba schien es dagegen schon zu wissen. Er schloss die Augen und seine Gesichtszüge erstarrten. Sie versteinerten nicht oder verfinsterten sich, sondern schienen vielmehr im Moment der Erkenntnis einzufrieren, bevor es flüsternd aussprach: „Eine Wand.“

„Eine Wand!“, schrie einer der Kampfsklaven.

„Eine Wand!“, bestätigte man laut aus vielen Kehlen. „Eine Wand!“

Da war eine. Taschta konnte sie am Horizont erkennen: Eine unnatürliche Fläche aus türkisfarbenem Licht, die über den silbergrauen Sand zu fahren schien. Wäre sie ein Segel gewesen, hätte sie geflattert; Sand hätte sich zerstäubt, aber sie blieb unverändert glatt und eben eine Wand. Als das wanderte auf den ersten Blick ziellos umher, mal links, dann rechts, dann wieder nach links und schien sich ihnen doch zu nähern. Taschta wusste, dass es jetzt kein Entkommen mehr gab. Wenn man eine Wand sieht, wird man von ihr eingeholt, unausweichlich. Sie folgen der Elektrizität, hatte seine Lieblings-Chronistin einmal erklärt, „die in eurer Ausrüstung oder die in den eurem Körper“.

Die Männer schrien durcheinander. Einige fesselten ihren Söhnen und sich die Beine, andere rollten Schlafsäcke aus und verkrochen sich darin, aber alle, wirklich fast alle entluden ihre Waffen und versteckten die Patronen vor sich selbst – in Stiefeln, Kästchen oder in hastig gebuddelten Löchern.

Taschta wandte sich an seinen Vater: „Ba-ba, wollen wir nichts tun?“

Dieser nahm ihm die Munition ab und steckte sie in das Futteral seiner gepanzerten Hose. „Das ist das Einzige, was wir tun können. Reminiszenzen sind harmlos, wenn man weiß, wie man mit ihnen umzugehen hat.“

„Es sterben aber jedes Mal welche in ihnen!“, protestierte Taschta verzweifelt.

„Und das wird auch jetzt gleich passieren, wenn auch wieder nur die Alten. Taschta, setz dich hin, im Schneidersitz und bleib so! Und zwar die ganze Zeit! Weißt du, was dich hinter der Mauer erwartet?“

„Die Toten … angeblich“, antwortete sein Sohn und setzte sich in den Staub.

Ba-ba nickte. „Wenn du hindurch bist, darfst du schreien, dich aber auf keinen Fall bewegen! Fass nichts an und versuch gar nicht erst die Augen zu schließen! Wer immer zu dir kommt, wird sie dir sowieso wieder öffnen. Wenn du kannst, versuch es zu genießen!“

„Das – ist das ein Witz?“

„Sie kommt!“, warnte Vater, der einfach stehen blieb, als einer von wenigen. Es war also wirklich, wie man immer sagte: Händler und Vollstrecker bleiben bei einer Wand stehen, mit geladener Waffe. „Entspann dich jetzt“, waren seine letzten Worte.

Bevor die Wand sie alle verschlang.

Es fühlte sich an, als würde man in eine Wanne voller Watte fallen.

Sein Mauseloch.

Tief in einem Wohnblock, zwischen einer Straße, die die Zeit vergessen hat und einem Park, den die Stadt am liebsten vergessen wollte, hinter in einer Sperrholzplatte von Tür liegt Taschtas Mauseloch. So nennt er seine Wohnung gern.

Kleidung verteilt sich darin wie nach einem Sturm, vor allem Socken, die auf den ersten Blick so wirken, als wären es totgeschlagene Ratten. Auf dem Fernsehtisch steht sichtbehindernd eine Bong. Sie ist schmutzig, die Mische daneben satt – was bedeutet, dass mit mehr Gras als Tabak gemischt worden ist. Bücherregale nehmen fast jede Wand in Beschlag. In sie zwängen sich alle Arten von Literatur, alt oder neu, Bestseller oder Underdog, ob jetzt gestapelt, geordnet, horizontal oder senkrecht. Im Zentrum postiert sich ein Schreibtisch wie ein hässlicher Altar, alt, darauf ein kleiner Mäusekäfig. Tierschützer würden ihn hassen. Er ist viel klein. Seine Bewohner schlafen jetzt noch. Daneben steht ein Laptop mit angeschlossener Tastatur und Zweitbildschirm. Daneben benutzte Gläser, selten weniger als fünf, leere Plastikflaschen und grün-schwarze RAM-Riegel. Es gibt noch einen schmalen Sessel mit modischem Strichelbezug, für die absolute Ausnahme eines Besuchs. Nun aber hat ihn auch die herumliegende Kleidung für sich beansprucht.

Was nach dem Startpaket eines zwanzigjährigen Studenten klingt, ist in Wirklichkeit der Elfenbeinturm eines dreißigjährigen Nicht-Autoren. Mit seinen Augenringen, dem ungewaschenen Haar, dem Bart und der schlaksigen Gestalt wirkt Taschta wie der Typ, der im ersten Alien-Film mit einem Flammenwerfer durch die Lüftungsschächte kriecht, der Captain. Ist Taschta jedoch nicht. Also weder Raumschiffkapitän, noch mit einem Flammenwerfer bewaffnet, sondern einer von den Menschen, die sich solche Menschen ausdenken.

Und das mit ganzer Seele.

So hätte Taschta gerne die Frage beantwortet, ob er ein Autor ist, hätte ihn auch nur ein Mensch danach gefragt. Er ist ja auch Autor, nicht mit Erfolg, aber eben mit ganzer Seele. Wenn auch wahrscheinlich nicht mehr lang.

Jeden Abend kommt er aus seinem wenig befriedigenden Job in seine einsame, kleine Wohnung gekrochen, sein Mauseloch, lässt sich in seinen Bürostuhl fallen und den Computer hochfahren, um lustlos weitere Zeilen in die Buchstabensammlung zu hauen, die mit Sicherheit auch wieder von keinem Verlag angenommen werden wird. Das ist sein Leben. Seine erbärmliche Existenz. Früher hatte er sich noch für eine Rakete gehalten, die eines Tages abheben würde – inzwischen ahnt er jedoch, nur eine Mülltonne zu sein, die einfach nur zu groß geträumt hat.

Seine Finger verlieren sich im Bart, da spürt er wieder diese schmerzende Leere. Sie ist schwer zu beschreiben: Ein Verlangen, mehr eine Empfehlung, ausgestellt vom gesunden Menschenverstand, doch bitte seine Träume endlich aufzugeben. Wie viele Jahre will er denn noch so zubringen? Zehn, zwanzig, die er zwecklos vor seinen Romanen verbringt, bevor er es irgendwann einsieht? Mehr? Den Rest seines Lebens?

Das hier ist das Digitalzeitalter, das Zeitalter der vielen Autoren. Jeder will einer werden. Jeder glaubt, dass ein halbherzig zusammengeschusterter, nebenher runtergetippter Roman schon zum Weltbestseller reicht. Schließlich hat er selbst es ja geschrieben. Und wenn das mal kein Qualitätssiegel ist! Die USA wurden unter Manuskripten geradezu begraben, mit jedem Jahr mehr. Taschtas Sublustrum wäre nur eines davon. Und vielleicht noch nicht einmal besser.

Er hält inne. Die wachsenden Zeilen, schwarze Buchstabenschlangen halten inne. Am Ende pulsiert der schwarze Balken stehend im Schreibprogramm vor einem unfertigen Satz. Ein ungutes Gefühl überkommt ihn. Er glaubt noch, erbrechen zu müssen … bis er plötzlich fällt. Im wörtlichen Sinne, durch den Boden, gefolgt von seinem Schreibtisch, dem Laptop, den RAM-Riegeln, den Plastikflaschen, den Mäusen und dem halbfertigen Roman, hinein in ein endloses Schwarz.

Taschta schreit. Er schreit und schreit.

Todesangst überkommt ihn. Wie ein Stromstoß jagt sie durch alle Winkel seiner Gedanken. Ich will nicht sterben!

Was passiert hier?

Ich will nicht sterben!

Genieß es, mahnte plötzlich Ba-ba aus seinem Hinterkopf. Was er immer das bedeuten sollte – Taschta wollte es versuchen. Weil er wusste, dass sein Vater immer Recht hatte. Und deshalb fiel er auch nicht mehr, sondern flog einfach durch die Dunkelheit. Er stellte sich vor, ein Flugzeug zu sein, wie aus den Geschichten, und durch die Nacht zu fliegen. Wer da schwerelos zappelte, stürzte und schrie, war schließlich auch nicht Taschta. Er hieß ja sogar anders. Das war ein Mann mit dreißig Jahren und Bart und sein Name lautete –

Ein Schuss donnerte auf einmal durch die Dunkelheit. Schreie umgaben ihn. Jemand brüllte entsetzlich, andere riefen sich Dinge zu.

„John Lasseter“, würgte Taschta noch hervor und öffnete die Augen.

Er saß nicht mehr, sondern hatte sich wohl zu Boden geworfen. Seine Lippen klebten am silbergrauen Sand. Ba-ba dagegen stand noch – mit geschlossenen Augen und ruhigem Atem. Die meisten anderen liefen durcheinander und schrien. Jemand hatte sich anscheinend ins Bein geschlossen.

„War das sein Name?“, fragte Ba-ba nach einigen Momenten, ohne die Augen zu öffnen.

„Ich … weiß nicht. Ich glaube schon. Er hieß John Lasseter und war ein Geschichtenerzähler.“

„Hat er an den Tag gedacht?“

Taschta schüttelte den Kopf.

„Dann ist er vor über zweihundert Jahren gestorben. Du hattest eine gute Begegnung.“

Taschta schüttelte die Benommenheit ab. Oder versuchte es wenigstens. Er war wieder hier, ebenso wie fast alle anderen. Fast. Ein alter Mann schien wohl nicht zurückgekehrt zu sein. Seine Leiche lag seltsam verrenkt im Sand – was bedeutete, dass er jetzt noch in der Wand sein musste. Und ein Junge, auf dem Weg zum Mann, hatte sich ins Bein geschossen.

Ba-ba griff nach Taschta und hob ihn auf die Beine. „Mein Sohn, du kannst jetzt wirklich stolz auf dich sein“, erklärte er und klopfte ihm den Sand von der Rüstung. „Nicht nur, dass du eine Wand überstanden hast, sondern auch wie: Kaum Geschrei, keine Verletzung und du hast dir sogar deinen Namen merken können. Jetzt bist du mehr Mann, als die allermeisten! Die nächste Wand kann dich in den schlimmsten Alptraum stecken, den sie findet und wird dich nicht kleinkriegen.“

Taschta durchsuchte sein Gedächtnis nach allem, was er über die Wände wusste. „Hattest – hattest du keine Angst, dass ich in meine eigenen Gedanken sehe? Oder deine?“

„Selbst wenn! Dann hätte ich dich nach Hause getragen und wir wären nächstes Jahr wiedergekommen. Den beiden da hinten ist das anscheinend passiert. Sie haben sich wohl in den Armen gehalten – ganz miese Idee!“

Taschta entdeckte sie: Zwei mit Schrott bedeckte Bewohner der Haldentiefe Malamtem – jung und alt, wahrscheinlich Vater und Sohn – waren wohl „gespiegelt“ worden. Sie lagen in Stabiler Seitenlage am Rand der Gruppen. Die nächsten drei Tage würden sie kein Wort und keine Regung mehr von sich geben und selbst danach, würde es Wochen oder Monate dauern, bis sie wieder sie selbst waren. In der Zeit mussten von Freunden ernährt werden. Wenn sich jemand dazu bereit erklärte.

„Ich zähle“, zählte Ba-ba, „einen, nein, zwei Tote, zwei Verletzte und zwei Idioten. Das sind normale Zahlen. Und anscheinend vermissen die Altweltler zwei Sklaven“, bemerkte er schmunzelnd.

Taschta holte tief Luft. „Was wird jetzt?“

„Wir ziehen weiter. Unsere Zeit drängt und sie kannten das Risiko.“

So kam es auch. In wenigen Minuten hatte auch der Letzte die Visionen abgeschüttelt, die Ausrüstung geprüft und die Waffen nachgeladen, um sofort weiter zu marschieren. Die Toten, die Verletzten und die zwei Gespiegelten blieben zurück, mit nur sehr wenigen Freunden. Die Ernte wollte niemand gern verpassen.

***

Zwei Stunden später, zwölf Stunden nach ihrem Aufbruch von Kuluk erreichten sie endlich den Geschenkten Berg. Alle Väter nahmen nun ihre Söhne oder Sklaven mit sich und trennten sich von den anderen. Der Pulk aus über zweihundert Wanderern und Freunden zersetzte sich ganz selbstverständlich in kleine Pärchen, die alle an ihren vorbestimmten Platz am Kraterrand gingen.

In dessen Mitte türmte sich riesig der Berg auf – wie dieses zylinderförmige Ding in einem Megaphon. Nur größer und gewaltig und furchterregend. Der Berg war dreimal so breit wie eine Tiefe, fast genauso hoch wie eine tief und bestand aus so unendlich vielen Trümmern und Knochen! So viel Schrott und so viele Dinge! Die Erzeugnisse und blutigen Überreste ganzer Völker lagen hier aufgeschichtet in dem Krater. Damit hätte man Kuluk fünfmal füllen können. Ganze Wolken aus Fliegen pulsierten darüber, ein Bett aus buntem Schimmel und wilder Pflanzen füllte den tiefsten Boden des Kraters.

Taschta staunte.

Und er hatte noch endlos weiterstaunen wollen, bis es plötzlich noch mehr zu entdecken gab: Zu seiner Linken beratschlagte sich eine Gruppe aus seltsamen, schwarz-gekleideten Männern. Schläuche fielen aus ihren Mündern, als wären sie menschliche Tintenfische und ihre Haut – oder was sie davon zeigten – war grau und mit Wundschorf übersäht. Manche hatten nur noch ein Auge, zwei waren blind und bei einem schien es, als würde ihm ein drittes aus der Stirn wachsen.

Jetzt sah er sie also endlich: Die Nicht-Gesichter, die heimlichen und bescheidenen Herrscher der Silbersandwüste. Sie waren Mischwesen aus Menschen und den alten Herren und als einzige dazu fähig, ihre Technologie ein- und auszuschalten und so zu bedienen, wie sie es gerade wollten. Auch wenn kaum einer von ihnen vierzig Jahre alt wurde. Die Verschmelzung – mehr eine Art Umwandlung, die schon mit drei Jahren begann – zerfraß in spätestens zwanzig ein lebenswichtiges Organ. Damit sie überhaupt so lange durchhielten, ersetzten sie schon davor Teile ihres Fleisches durch Maschinen: Augen, Lungen, Nieren, Mägen, mit jedem Jahr etwas mehr –  bis die Qualen zu groß oder die Operationen zu teuer wurden. Manchen, so sagte man, würde vielleicht sogar der Aufstieg zum einem Herren gelingen, aber davor wurden sie stets von ihren Brüdern getötet. Taschta zählte heute zwanzig dieser grotesken Maschinenmenschen.

Hinter ihnen marschiertem noch einmal, zuckend und wimmernd, zwanzig grausige, lederhäutige Gestalten ohne Augen und Mund: die Drohnen. Wer sich gegen die Nicht-Gesichter versündigte, endete in einer ihrer Erntemaschinen und schließlich als Drohne – ohne Gesicht, mit gegerbter Haut und genug restlichem Geist, um einfache Befehle auszuführen. Obwohl diese Kreaturen bestenfalls nur noch Kleidungsfetzen am Leib trugen, konnte man noch sehr gut erkennen, wer aus welcher Tiefe stammte. Die Nicht-Gesichter sorgten dafür.

Diese mutierten Priester und ihre unheimlichen Diener sammelten sich vor einem schwarzen, mit Dornen bedeckten Turm, nämlich dem Turm! Die Pforte, der Rufer, der Tyrann oder der Seelenräuber, Irostas, Turembur oder Dhuus … jede Kaste in jeder Tiefe hatte dafür einen eigenen Namen, auch wenn man sich untereinander auf „den Turm“ geeinigt hatte. Wie ein schwarzer Stachel bohrte er sich in den Himmel und überragte alle bekannten Herren-Tempel, war aber genauso schwarz und unheimlich. Angeblich lauerten auch darin Leichen in Unsterblichen Anzügen, sogar noch mehr als anderswo, weshalb man ihn nur von außen bediente.

„Wozu war er früher gut?“, fragte Taschta seinen Ba-ba.

Der überblickte gerade die anderen Anwesenden. Einer stand wohl auf seiner Liste. „Was meinst du?“, fragte er gedankenverloren. „Der Turm?“

„Alles, was wir von den Herren benutzen, war doch früher für was anderes gut. Das sagen die Chronistinnen immer! Wie die vielen Maschinenarme, mit denen der Fleischer die Tiere kleinmacht – angeblich haben die Herren damit ihre Wunden geheilt. Oder die Maschine, mit der letztes Jahr dieser Mann pulverisiert wurde –“

„Ein Träumer“, fügte der Vater an. „Und keiner von denen, die mal was Großes erreichen wollen. Schau, er hat Menschen die Erinnerungen gestohlen und sie zu geistigen Krüppeln gemacht. Und das in über fünf Tiefen! Sogar die Pulverisierung war noch zu gnädig.“

„Weiß ich. Aber die Maschine, auf der du ihn befestigt hast, diese Platte, die war vor dem Gegenkrieg dazu da, um giftige Luft aus den Häusern der Herren zu saugen – oder so. Genauso wie die Maschine, mit der er Erinnerungen gestohlen hat – die soll Seelenheilern der Herren geholfen haben, andere von schlimmen Gefühlen und Traurigkeit zu heilen. Also, was hat man mit dem Turm gemacht? Wenn es einer weiß, dann du, Ba-ba!“

Dieser seufzte. „Du weißt, dass die Herren vor dem Gegenkrieg selbst so einige Kriege geführt haben, um irgendwann einen Gegenkrieg abzukommen, oder?“

„Sagen auch die Chronistinnen.“ Seine Lieblings-Chronistin und eigentlich auch die einzige Chronistin, mit der er zu tun hatte.

„Das hier, also der Turm, war wohl so eine Art Angriffsmaschine – eine von wahrscheinlich mehreren, obwohl nur noch die hier funktioniert. Truppen wurden mit ihr an einen Ort ihrer Wahl gebracht, haben dort alles kurz und klein geschossen und dann man sie wieder zurückgeholt, mitsamt der Beute. Und das bevor es brenzlig wurde. Angeblich, großes Angeblich. Die Nicht-Gesichter hüten ja alle Geheimnisse um den Turm, so gut sie nur können.“

Taschta nickte. „Weil, wenn das mit dem Truppenversetzer wahr wäre, könnte man damit auch von diesem Ort weg kommen“, kombinierte er. „Vielleicht sogar zur Heimat unserer Vorfahren. Da soll es Böden geben, die komplett mit Gras und Pflanzen bedeckt sind.“

Ba-ba lächelte und nickte. „Mama hat schon Recht: Du wärst eine gute Nachtschwester. Wie auch immer …“, er setzte sich hin und öffnete seinen Rucksack. „Bereite dich vor! Geh noch mal alle Übungen durch, dann schluck deine Amphetamine! In weniger als dreißig Minuten beginnt der Login.“

***

Und in einer Stunde öffnete sich der Himmel.

Zuerst arbeiteten die Nicht-Gesichter am Turm. Sie aktivierten ihn, erfassten wohl die besten Ziele und wenig später gingen die Ausrufer ans Werk. „Sind alle bereit? Macht euch bereit!“, verkündeten sie aus ihren Lautsprecher-Rucksäcken. „Alle jetzt! Macht euch sofort bereit!“

Damit begann es. Der Turm zischte – wie in den Geschichten. Ein leises Heulen zog durch die wartenden Männer und arbeite sich gen Himmel, um lauter und dröhnend zu werden. Kleine Steine am Boden begannen zu zittern, Staub zu schweben – zuerst auf Hüfthöhe, dann über die Menschen hinaus, wo er sich in der Luft zerstreute. Es donnerte. Ein berstender, monotoner Krach, der plötzlich verstummte, von einem Wimpernschlag zum nächsten!

Wie Ba-ba es angekündigt hatte, folgten darauf die Schreie. Sie waren zuerst nur leise, ein Säuseln im Wind, bevor sie lauter wurden, lauter und stärker, und das mit jedem Wimpernschlag. Zuletzt erschienen die Menschen. Von einem Moment auf den nächsten fielen sie zu Hunderten aus dem Nichts, dreihundert Meter über dem Geschenkten Berg. Männer, Frauen, Kleinere, mit Sicherheit Kinder. Einige strampelten, manche stürzten regungslos, andere hielten sich an anderen fest, aber alle schrien. Dazwischen waren Dinge: Taschta erkannte eine Sitzbank, Bäume, Tiere, die er noch nie gesehen hatte, Stühle und Tische, Gehstöcke und Rucksäcke. Einen Laptop! So wie John Lasseter einen gehabt hatte. Ein Auto! Zwei! Drei! Inmitten eines schreienden Regensturzes aus Menschen der Heimat.

Die Nicht-Gesichter hatte sie mit Hilfe des Turms geholt. Sie aus ihren Wohnungen und Betten gezogen, von den Straßen oder ihren Arbeitsplätzen gestohlen oder direkt aus einem Gespräch oder Gebet gerissen – immer nur ein paar pro Tag und aus ganz verschiedenen Teilen der Welt, so dass es dort nicht auffiel. Danach wurden sie für Monate im Schwarzen Dazwischen gefangen gehalten und nun hier, alle in nur einer Minute, vom Himmel ausgespuckt.

Als sie auf den Leichen und Trümmern vom letzten Jahr aufschlugen, klang es wie Mais in der Pfanne. Ploppen, Platzen, hundertmal in einer Sekunde. Manche Körper zerbarsten, andere stießen tief in den Berg hinein, ein paar wenige schlugen einfach nur auf. Eine große Frau, so groß wie Rin, überlebte wohl, aber nur, um unter den nächsten Hundert Herabstürzenden begraben zu werden. Schreie und Aufschlagen übertönten einander. Klatschen und Platzen und Ploppen.

Erst jetzt bemerkte Taschta, wie sehr er sich auf die Ernte gefreut hatte. Er biss sich auf die Lippen, ohne es zu spüren und sein Penis bohrte sich steinhart gegen den Hosenstall. In ein paar Minuten würde er zwischen den Leichen nach Geschenken suchen, nach Erdenmaschinen oder Medikamenten, Papier und Plastik, wertvolle Artefakte und vielleicht sogar über den einen oder anderen Überlebenden stolpern. Ein Guter, stark und jung. Er würde dann ihm gehören. Und selbst wenn er keinen fand: Taschta war jetzt ein Mann.

Und es regnete.

Es regnete Menschen.

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