Kaffee

Maximilian Wust - Kaffee

Kaffee
Ein Kurzkrimi von Maximilian Wust


Zwanzig Minuten pro Mord.

   Das war die Zeit, die man jedem Ermittler von Tihograd inoffiziell für einen Fall zur Verfügung stellte. Für mehr fehlte einfach das Personal.

   Im Falle dieser schwarzen Frau sollte sogar nur eine genügen. Die Unbekannte war um vier Uhr in der Früh scheinbar blindlings auf die Straße gelaufen und mit einem Transporter zusammengestoßen. Etwa sechzig Kilo menschliches Fleisch trafen auf drei Tonnen Aluminium und Stahl. Sie war sofort tot.

   „Da gibt’s nicht mehr viel zu sagen“, bemerkte der Ersthelfer mit antrainierter Gleichgültigkeit und ließ ihren Kopf zurück auf den Teer sinken. „Ich kann’s jetzt noch nicht bestätigen, aber Tod durch Ertrinken können Sie wohl ausschließen“, scherzte er, ohne witzig zu sein. „Die Karosserie hat ihr den Brustkorb zerschmettert und die Rippen wie ´ne Schrotladung durch die Lunge gejagt. Armes Ding, passiert aber jeden Tag.“

   Dragán trank seinen zweiten Kaffee aus und schraubte die Tasse wieder auf die Thermoskanne. Danach zog er sein Smartphone hervor, machte Fotos und nahm sich den Fahrer vor. Es war noch früh am Morgen, der Himmel begann gerade erst, sich blau zu färben und wirklich niemand wollte hier sein, ob nun der Fahrer, die Polizisten, die Ersthelfer oder Dragán selbst. Nicht einmal die Schaulustigen schienen sonderlich erpicht auf diese Art des frühmorgendlichen Tratschpotenzials.

   Straßenlaternen, das Dunstlicht der Kneipen und Autoscheinwerfer beleuchteten die betonierte Einöde Tihograds, der unfreiwilligen Landeshauptstadt. Die zerfressenen Wände wurden von der Nacht in ein verschlingendes Grau gefärbt und die Fenster wirkten wie schwarze, quadratische Abgründe im Beton. Die Patrioten der Rechten sprachen gern vom unbeugsamen Charme, wenn sie die Stadt beschrieben. Dragán nannte es eher unabwendbare Armut.

   „Dragán Vaskovic“, stellte sich der Ermittler dem Fahrer vor, einem schwer übergewichtigem Mann Mitte Vierzig, dem man die Begrenztheit seines Verstandes geradezu ansah. „Name und Beruf, bitte.“

   „Mladen Tonic. Bin Baupolier. Kann ich dann weiter?“

   Diese Aussage, die Gleichgültigkeit mit der er es abtat, eine Person tödlich angefahren zu haben, ließ Dragán inne halten. „An ihrem Auto klebt noch Blut, von der Delle ganz zu Schweigen.“

   „Mach ich selber weg. Muss arbeiten.“

   „Sind Sie Bosnier?“

   Mladen zögerte. „Ja. Woher wissen Sie das?“

   „Berufserfahrung“, war gelogen. „Können Sie mir noch einmal erzählen, was exakt passiert ist?“

   „Das hab’ ich doch schon Ihren Kollegen gesagt!“

   Dragán seufzte. „Sie sind auf dem Weg zur Arbeit gewesen, was für einen Baupolier um 4 Uhr Nachts ganz normal ist, als plötzlich diese Frau auf die Straße lief und gegen ihr Auto prallte.“

   „War halt besoffen, die Alte.“

   „Das entscheidet der Gerichtsmediziner. Ist Ihnen sonst irgendetwas aufgefallen?“

   „Sie meinen, ob sie jemand geschubst hat?“

   „Irgendetwas, das uns bei der Aufklärung dieser Situation helfen könnte.“

   Der Baupolier zuckte mit den Schultern und schüttelte schließlich den Kopf. „Sie war schwarz. Kann ich jetzt fahren?“

   „Nein“, erwiderte Dragán und wandte sich noch einmal dem Opfer zu.

   Die Farbige war auf gefährliche Art schön. Grazile Hände, die aber dennoch kräftig wirkten, ein selbstbewusstes Gesicht und die trainierten Schultern einer Schwimmerin. Sie hatte ihr ganzes Leben lang gewusst, wer sie war, was sie erwartete und wie das Beste daraus machen konnte. Sogar noch im Tod hatte sie etwas an sich, das Dragán nur als böses Feuer beschreiben konnte – die Erotik einer gefährlichen, freiheitsliebenden Frau. Für den Fall interessant waren jedoch ihre Kleider: Alles, was sie am Leib trug, war modisch und teuer, von der Naturjacke bis zu den Stiefeln aus Echtleder. Dass so jemand keinen Schmuck trug oder ein Handy, einen Schlüsselbund und einen Geldbeutel bei sich hatte, zeigte deutlich, dass sie nicht einfach bloß vor ein fahrendes Auto gelaufen war.

   „Vielleicht ist sie überfallen worden“, erklärte der Ersthelfer, der anscheinend seine Gedanken bemerkt hatte. „Die Typen haben sie ausgeraubt, wollten vielleicht Sie-wissen-schon, da hat sie sich befreit und ist auf die Straße gerannt. Da drüben in einer Gasse.“

   „Und warum sollte so jemand in diesem Viertel durch eine Gasse gehen?“, erwiderte Dragán.

   „Warum sollte überhaupt jemand in der Nacht allein in diesem Viertel unterwegs sein? Was weiß ich. Sie war ´ne Bohne. Die sind doch eh alle verrückt.“ Damit meinte er eine Kaffeebohne, die neue, von der Rechten geprägte Bezeichnung für farbige Afrikaner, die seit der Flüchtlingskrise im Land hängen geblieben waren.

   Obwohl es nichts nützte, sah Dragán dann doch in den Gassen nach. Und wie fast überall in der Stadt wirkten diese so, als wären dort jeden Tag ein Dutzend Menschen überfallen worden. Im Allgemeinen galt es als eine fatal dumme Idee, in Tihograd nachts allein unterwegs zu sein, noch dazu als Frau und Ausländerin.

   Wenn sich etwas falsch anfühlt, dann ist es das auch. Das war der antrainierte Leitsatz aller Nevaznier, die zu Stalins Zeiten nicht auf einer Liste landen wollten und bis heute tief in der soziologischen DNS des Volkes verankert. Und das hier, dieser vermeintliche Unfall, fühlte sich unglaublich falsch an.

   Dragán zückte noch einmal sein Handy, rief bei der Gerichtsmedizin an und bat Ruzdhi, seinen langjährigen Freund, Kollegen und ehemaligen Hehler, sich die Schwarze doch bitte genau anzusehen, bevor er sie ans Krematorium weiterschickte – gegen drei Stangen Marlboro selbstverständlich.

   Dann musste er weiter, gleich zum nächsten Toten.

***

Was man heute die Volksrepublik Nevaznien nannte, war nie ein großes oder bedeutendes Land gewesen. Schon vor den Russen hatten es alle nur passiert, um jemand anderen anzugreifen, von den Römern über die Byzantiner bis zu den Türken. Und selbst nach seiner Eingliederung in die glorreiche Union war es bestenfalls nur eine Ansammlung von Straßen gewesen, die man auf dem Weg woandershin befuhr. Als das Sowjetreich jedoch schließlich implodierte, ging es mit dem Staat nur noch mehr bergab. Die Mittel wurden von einem Monat auf den nächsten gestrichen und wer konnte, setzte sich ab. Die Kriminellen übernahmen rasch das Land – ob sie nun mit Messern die Straßenränder eroberten oder zu sich Staatsoberhäuptern wählen ließen. Und die Gelder fehlten bald für einfach alles. Sogar in den Schulen gingen Mitte der Neunziger die Kreiden zu Neige. Kartoffeln, Schnaps und schlechte Laune waren bis heute das größte Exportgut der kleinen Nation. Und dann kam die Flüchtlingskrise.

   „Dafür kannst du Frau Merkel danken“, bemerkte Adnan, die Kirchennase, und öffnete eine nach der anderen seiner vielen Schubladen. Dragán und er waren in seinem Büro, das wohl einmal ein Krankenzimmer gewesen war, bevor man das Krankenhaus zur Wache umfunktioniert hatte. Hässlich grüne Fließen bedeckten die Wände bis etwa Bauchhöhe und es hing sogar noch ein Putzfrauenregister von 1983 neben der Tür – als das Reinigungspersonal noch festhalten musste, dass es hier gewischt hatte. Dragán stand am Fenster und trank seinen vierten Kaffee, Nikolic rollte auf seinem Bürostuhl geschäftig von einer Ecke zur nächsten, um noch etwas unbedrucktes Druckerpapier zu finden.

   Adnan Nikolic – den man die Kirchennase nannte, weil er eine hatte – war der Sohn eines Ministers, den man auf den Posten eines Revierleiters abgeschoben hatte, damit er keinen größeren Schaden anrichtete. Was nicht fair war, wenn man bedachte, mit welcher Hingabe und Effizienz er diesen Job machte.

   Dragán bremste seinen Vorgesetzten schließlich auf seiner Jagd nach jungfräulichen Papierseiten. „Du meinst, dass sie sich umgebracht hat?“ Zu viele Flüchtlinge taten das, nachdem sie feststellen mussten, dass sie ihre korrupte Wüste aus Sand gegen eine aus Beton getauscht hatten.

   Adnan hielt inne. „Dragán, stell dich nicht dumm! Ich hab’ deinen Bericht schon gelesen: Keine Ringe, kein Handy, kein Geldbeutel – sie ist nicht nur wahrscheinlich, sondern mit Sicherheit überfallen worden.“

   „Sollten wir dann nicht nach den Gopniks Ausschau halten, die das gemacht haben?“ Als Gopniks oder Gopniki bezeichnete man Kleinkriminelle, die meist in weiß-gestreiften Adidas-Trainingsanzügen gekleidet und in fast ikonischer Sträflingshocke am Straßenrand herumlungerten – wie die aggressiven Affenrudel, die sie auch waren. Diese Kultur war eines der wunderbaren Importgüter der sowjetischen Transferunion.

   Dragáns Vorgesetzter sah ihn gleichgültig an. „Ja, sollten wir. Allerdings haben meine Ermittler Besseres zu tun, als den Unfalltod einer Bohne aufzuklären. Die Gopniks halten eh dicht. Falls sich die Typen nicht eh bei erster Gelegenheit ins Gefängnis klauen und falls es überhaupt welche waren. Das könnten genauso gut auch Nazis oder Russen gewesen sein.“

   „Was soll ich also tun? Jemanden mit einem Mord davonkommen lassen?“

   Adnan rollte entnervt mit den Augen. „Wie viele Fälle hast du gerade auf deinem Tisch?“

   „Müssen um die Achtzig sein.“

   „Und dann soll ich dich dazu abstellen, dass du dich durch die halbe Stadt arbeitest, um nach einer Bohne zu ermitteln, die vielleicht doch nur vor ein Auto gelaufen ist?  Frage dich durch die Flüchtlingsheime, finde heraus, wer sie war und wenn dann vielleicht herauskommt, dass sie sich mit einem Klan eingelassen hat, sehen wir weiter. Wenn du Detektiv spielen willst, schau dir diesen Siebzehnjährigen an, den man von der Hussarenbrücke geworfen hat! Den Fall habe ich vorhin auf deinen Schreibtisch gelegt. War der Sohn eines Nachtklubbesitzers.“ Also eines Einheimischen mit Geld und Einfluss.

   Dragán wollte gerade gehen, als ihn Adnan aufhielt. „Sag mal, bei all dem Kaffee, den du trinkst – ist da Alkohol drin?“

   „Ich wünschte, es wäre so.“

   Was der Wahrheit entsprach.

***  

Ruzdhi, sein Mann in der Leichenhalle, bestätigte das Offensichtliche.

   Dragán besaß keine der Fertigkeiten, die man guten Ermittlern nachsagt. Er konnte keine Menschen lesen und hatte auch keinen unnatürlich ausgeprägten Jagdinstinkt, ebenso wenig wahnhafte Beharrlichkeit oder ein Gespür für Details. Er war Ermittler geworden, weil das besser bezahlt wurde, man keine Streife mehr fahren musste … und sich ein Zubrot verdienen konnte, wenn man sich moralisch etwas flexibel zeigte.

   Die Wohnungen der Toten, wie einem alleinlebenden Rentner, der an Altersschwäche verstorben war oder einem vereinsamten Selbstmörder, konnten sich als wahre Schatzkammern entpuppen, wenn man nur wusste, wonach man zu suchen hatte, wie Router, alte Handys, Großmutters Silberbesteck oder ein nagelneuer Flachbildfernseher. Dragán hatte schon alles Mögliche verschwinden lassen und danach zusammen mit Ruzdhi versilbert, der sich nicht nur auf Leichen verstand, sondern auch darauf, wie man ihre Habe zu Geld machte. Bis sie beide um ein Haar erwischt wurden. Seitdem war Dragán wieder einfach nur Ermittler und Ruzdhi wieder Pathologe, ohne je Medizin studiert zu haben. Was aber den Regeln entsprach. Viele Pathologen des Landes waren lediglich ausgebildet worden – sie konnten ja niemanden mehr gefährden.

   „Du hattest nicht ganz Unrecht“, offenbarte Ruzdhi, der überaus attraktive Mann mit Mittelscheitel, während er sich auf einem Operationstisch setzte und mit seiner abgetrennten Radioantenne spielte. Sie zusammen- und wieder auseinanderzuziehen, hielt ihn davon ab, an den Nägeln zu kauen. „Oder bestand das Auto aus Menschenfleisch und Haaren?“

   Die beiden hatten sich in Ruzdhis steril-kaltem Refugium, der Leichenhalle unter der Universität, getroffen, und bei Dragáns fünftem Kaffee Geschichten über die alten Zeiten ausgetauscht, bevor sie schließlich zum Thema kamen.

   Dragán blickte zu den verchromten Leichenfächern und fragte sich, in welchem wohl das Opfer steckte. Und wer in den anderen. „Was meinst du damit?“, fragte er.

   „Also, wenn deine Bohne nicht von einem überdimensionalen Kopf auf Rädern überfahren wurde, hatte sie wenig zuvor einen Menschen zerfleischt. Unter ihren Fingernägeln und zwischen ihren Zähnen fand ich Hautreste und sogar eine Wimper. Zudem sind ihre Fingerknöchel abgeschürft.“

   „Sie hat also unmittelbar zuvor gegen jemanden gekämpft?“

   Ruzdhi grinste. „Sie hat gekratzt, geschlagen und gebissen, aber gekämpft? Wer immer von ihr filetiert wurde, scheint sich praktisch nicht dagegen gewehrt oder nicht damit gerechnet zu haben. Ihr linkes Handgelenk wurde gequetscht, aber ansonsten ist sie beinahe unversehrt. Oder war. Bevor sie einen auf Reh an der Landstraße gemacht hat, natürlich.“

   Dragán versuchte zu verstehen: „Jemand hat sie also für leichte Beute gehalten und ihr Handy, Geldbeutel und Schmuck abgenommen, während sie ihm das Gesicht zerrissen hat?“

   „Ersteres weiß ich nicht, aber ja, da draußen rennt irgendwo ein Gopnik herum, der so aussieht, als hätte er einen Tiger gevögelt. Das war deine Kleine doch auch in gewisser Weise, nicht wahr? Ein Tiger mit Titten. Ist schade um sie.“ Ruzdhi hatte schon lange verlernt, Pietät und Höflichkeit zu wahren.

   Dragán ignorierte ihn und dachte nach. Das ergab keinen Sinn. Die Straßenkriminellen waren dafür bekannt, jeden und alles zu verprügeln, der nicht sofort kapitulierte – auch Frauen und sogar schon dreijährige Kinder. Was Ruzdhi erklärte, klang mehr nach einer versuchten Entführung.

   „Darf ich dich eines fragen?“, fragte der Gerichtsmediziner, als Dragán gerade gehen wollte. „Würdest du dir diesen Aufwand auch machen, wenn es keine Frau wäre?“

***

Einen vermissten Flüchtling zu finden war, wie Dragán schon einmal hatte verstehen müssen, beinahe unmöglich, zumal die Vermissten nur selten tatsächlich vermisst wurden. Die meisten waren auf der Suche nach einem besseren Leben ins zentrale Europa weitergezogen oder geflohen, bevor man sie in ihr, als sicher befundenes Herkunftsland zurückbringen konnte – um dann nur zu oft an der kroatischen Grenze verprügelt und zurückgeschickt zu werden. Die Heimleiter meldeten zwar jeden Verschwundenen, oft aber mit solcher Gleichgültigkeit, dass man ihnen sogar bei der Polizei nur eine Zeile in der Akte widmete. Sollte sich doch Frau Merkel darum kümmern!

   Dragán telefonierte stundenlang mit den jeweiligen Heimen – und das während der Autofahrt oder sogar während der Arbeit. In Tihograd – der Stadt, die im Internet angeblich für den besten Half-Life 2-Flair gelobt wurde – lebten immer noch 1,3 Millionen Menschen. Jeden Tag wurde gestorben und das oft.

   Einem Witwer hatte beispielsweise auf dem Weg zur Toilette das Herz versagt. Er hatte eben noch sein Frühstück beendet, wohl Harndrang verspürt und den Klodeckel hochgeklappt, als Gott spontan beschloss, seine Geschichte jetzt zu beenden. Seine Vermieterin meldete noch in derselben Stunde den Tod und plünderte davor vermutlich seine Spardose, die Dragán seltsam leer auffand. Nicht einmal eine Zehn-Dinar-Münze war darin zu finden. Ansonsten gab es keinen Verdacht auf Einbruch oder Gewalt. Dragán klassifizierte es als natürliche Todesursache und rief auf der Treppe nach unten ein weiteres Flüchtlingsheim an.

   Noch in derselben Stunde war ein schon zuvor auffälliger Alkoholiker vom Dach eines Männerwohnheims gesprungen, in dem er auch als Hausmeister ausgeholfen hatte. „Ist wie ein Wasserballon zerplatzt“, scherzte der Ersthelfer und nichts deutete auf jemanden hin, der den Mann geschubst haben könnte. Als frisch geschiedener und gerade erst enteigneter Hausmeister hatte er ja sogar die Schlüssel zur Dachluke gehabt. Dragán klassifizierte auch ihn als natürliche Todesursache und wählte auf dem Weg zum Auto das nächste Heim an.

   Der dritte Fall ließ ihn damit jedoch inne halten. Ein vierjähriges Mädchen war gegen Mittag in die Tišina gefallen und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Ihr Onkel bestand darauf, dass sie ihr sechsjähriger Bruder aus Eifersucht ins Wasser geschubst hätte und als ihm Dragán nicht glauben wollte – zumal jener Bruder beinahe vor Tränen erstickte –, begann der Onkel, ihn anzuschreien. Er schien einer von den Menschen zu sein, die zu starke Trauer in Wut umwandeln. Das konnte der Ermittler nachvollziehen. Ohnmächtig ein Unglück ertragen zu müssen war das große Trauma des ganzen Landes. Dennoch hatte Dragán keine andere Wahl, als diese Sache als eine Tragödie abzutun, in der keine weiteren Ermittlungen notwendig wären. Er würde die Tage noch die Eltern befragen und mit dem Jungen sprechen, aber in diesem Fall gab es keine Täter – außer vielleicht Gott.

   Die Leiche des Mädchens wurde am nächsten Tag von einem Müller aus dem Wasser gefischt, dreißig Kilometer südlich der Stadt, bevor die Tišina, der Stille Fluss, in die Donau mündet.

***

Am späten Nachmittag wurde Dragán schließlich fündig.

   „Wir vermissen tatsächlich zwei Frauen“, erklärte ein Heimleiter mit sympathisch-unsympathischer Stimme. Die gezielte Art, wie er die Konsonanten erhärtete, aber dafür die Worte streckte, war nicht nur angewöhnt, um intellektuell zu wirken, sondern schien von Kindheit angelernt zu sein. Wer im Serbokroatisch kultiviert auftreten möchte, nimmt sich für die Sprache Zeit, die ohnehin schon für jedes Wort zu lange braucht. Ein slawischer Professor für Sprache, so sagt man, schläfert seine Studenten ein, bevor er sie überhaupt begrüßt hat. Und genau so sprach dieser Heimleiter am Telefon.

   Da kam Dragán ein Verdacht. „Würden Sie bitte noch einmal Ihren Namen wiederholen?“, fragte er und nahm eine Kurve in Richtung Stadtrand – schneller als erlaubt und mit dem Handy in der Hand.

   „Hans Feldser. Wieso?“ Der Mann war also ein Donauschwabe.

   „Weil ich ihn beim ersten Mal nicht gehört habe. Ich komme gleich mit ein paar Fotos zu Ihnen! Ich hoffe, Sie haben kein Problem damit, Leichen zu sehen.“

   „Mitnichten.“

   Sie verabschiedeten sich, Dragán legte auf und holte tief Luft. Die wenigen Donauschwaben, die heute noch in Nevaznien lebten, stammten aus Familien, die Vertreibung und Völkermord überstanden hatten. Sie waren also meist klug, stur und wohlhabend – die widerlichsten Eigenschaften, die ein Mensch miteinander kombinieren kann. Dragán hasste es, mit ihnen sprechen zu müssen.

***

Tihograd war eine durch und durch graue Stadt, schon immer gewesen. Graue Wohnblöcke, schwarzgraue Straßen, graue Mäntel, graue Winter. Verließ man das Betonlabyrinth jedoch nach Norden, wurde es schön. Die Betonbauten der Sowjetzeit wichen spätmittelalterlicher Ästhetik. Es gab Häuser im Fachwerkstil, mittelalterliche Wehranlagen, Kopfsteinpflaster und florierende Landwirtschaft. Die Luft schmeckte hier nach Hoffnung. Da war es nur wenig verwunderlich, dass man das eben erst eingerichtete Flüchtlingsheim wie einen Tumor betrachtete.

   Die ehemalige Sowjetkaserne, ein scheußlicher, umzäunter Quader aus Fenstern und Beton, wirkte nicht wie ein Ort, an den man fliehen wollte, besonders nicht durch kriegsverbrannte Länder, über das Mittelmeer und an türkischen Grenzpatrouillen vorbei. Seine Insassen, vor allem Männer, standen wie die Banden auf einem Gefängnishof in ihren jeweiligen Ecken.

   Die untersubventionierten, unterbesetzten Heime am Stadtrand waren vor allem damit beschäftigt, ihre Insassen voneinander zu trennen, bevor sie auch nur damit beginnen konnten, sie in die Gesellschaft zu integrieren. Schiiten mussten von Sunniten ferngehalten werden, Paschtunen von den Tadschiken, Moslems von den Orthodoxen und sowieso alle von den Schwarzen, den ab?d, die man gemeinhin als die niederste aller Menschenarten betrachtete. In den größeren Heimen schlichtete die Polizei täglich Streitigkeiten, die oft schon seit über eintausend Jahren geführt wurden.

   „Wissen Sie, warum das so ist?“, fragte der Heimleiter, um selbst die Antwort zu geben. Hans Feldser war ein blasser, kleinwüchsiger Mann mit Toupet, von dem jedoch eine Art Unbezwingbarkeit ausging. Er hatte sich vermutlich schon sein ganzes Leben lang durchgesetzt, ob nun gegen seine Eltern, seine Lehrer, Vorgesetzte und jetzt die Flüchtlinge.

   „Diese Menschen kommen hierher“, begann er und beobachtete die Grüppchen auf dem Hof, „und errichten sofort die gewohnten Strukturen. Es gibt Älteste, die das Sagen haben; Imame, die den Westen verfluchen, Kasten und Stände; Töchter werden versprochen und auf Geheiß ihrer Eltern verheiratet. Sie wünschen sich exakt diese Willkür, das gewohnte Feudalwesen, die gewohnten Theokratien, fünfhundert Jahre hinter dem Rest der Welt sein. Sie wollen nur nicht am unteren Ende sitzen.“ Er wandte sich nun wieder Dragán zu. „Diese Leute passen nicht zu uns. Das werden sie auch nicht. Ganz Europa ist nur zu faul geworden, um etwas dagegen zu unternehmen.“

   Dragán rollte innerlich mit den Augen. „Dann weiß ich schon einmal, wo Sie ihr Kreuz machen. Wie dem auch sei: Kannten Sie diese Frau?“, sagte er und zeigte ihm am Handy die Bilder der Leiche.

   Feldser ließ sich davon bedauerlicherweise nicht beeindrucken. „Sie ist also tot“, bemerkte er.

   Der Ermittler öffnete die Notiz-App. „Ich dachte mir schon, dass sie jemandem aufgefallen sein muss. Dann wüsste ich gerne den Namen besagter Person. Und alles, was Sie mir sonst noch über sie erzählen können.“

   „Sie hieß Akusoa, Akusoa Kebede.“

   „Aku-so-ah“, sprach Dragán nach und versuchte verzweifelt, den Namen in sein Handy zu füttern.

   „Akusoa. Das O und das A müssen als ein Vokal gesprochen werden.“

   „Noch mal der Nachname, bitte.“

   „Kebede – was in ihrer Heimat ein so häufiger Name ist, wie hier Nikolic oder Miller in den USA.“

   „Und diese Heimat heißt?“

   Feldser lächelte. Er hätte vermutlich ein Grinsen bevorzugt, um sich selbst für den folgenden Scherz zu gratulieren, erlaubte sich aber nur ein schmales Lächeln. „Diese Bohne – wie man sie heutzutage anscheinend nennt – stammte ganz ironisch tatsächlich aus dem Land, dem nicht nur der Mensch selbst, sondern auch Kaffeebohnen entsprungen sind, nämlich Äthiopien. Sie gehörte den Amhare an, was ein wenig seltsam ist.“

   „Inwiefern?“

   „Die Amhare herrschen in Äthiopien, sie stellen den größten Teil der Oberschicht, obwohl sie zum Beispiel den Omoro zahlenmäßig unterlegen sind. Man könnte sie mit den Alawiten in Syrien vergleichen.“

   „Oder mit den Donaudeutschen in Nevaznien“, warf Dragán ein. „Ich verstehe aber: Sie hatte aus Ihrer Sicht keinen Grund, hierher zu kommen.“

   „Was immer ihre Motive waren, sie hat hier sehr bald feststellen müssen, dass auch sie den inoffiziellen Regeln des Heims unterworfen ist.“

   „Die da wären?“

   Feldser drehte sich wieder zum Fenster. „Über neunzig Prozent unserer Bewohner sind männlich. Über die Hälfte von denen ist jung, voller Energie und sexuell frustriert. Jede Frau ohne einen Mann wird rasch belästigt, insbesondere, wenn sie so attraktiv ist, wie Akusoa es war. Manchmal kann ein Ältester noch eingreifen und ein Machtwort sprechen, aber für eine ab?d – also eine Schwarze, die bei den Arabvölkern schon fast als Tiere gelten – würde das keiner von denen tun. Sie hätte sich also rasch einen Beschützer suchen und schnell genug unseren Heimarzt davon überzeugen müssen, ihr die Pille zu verschreiben, denn Kondome benutzen diese Leute einfach nicht – ganz gleich, wie freigiebig wir sie verteilen.“

   „Fand sie einen?“, fragte Dragán, die Hände an die digitale Tastatur seines Smartphones gepresst.

   „Niemanden hier aus dem Heim. Sie war durchsetzungsfähig, das will ich ihr lassen. Ein paar Männer machten ihr Schwierigkeiten, die meisten konnte sie aber in Schach halten. Ich glaube, dass sie sogar den einen oder anderen gegeneinander ausgespielt hat. Dann begann sie, zu fehlen. Zuerst verschwand sie häufig für Stunden und kehrte mit schönen Kleidungsstücken oder einmal sogar mit dem neuesten iPhone zurück. Eines Tages, vor etwa fünf Monaten, wurde sie von einem BMW abgeholt, ein paar Tage später packte sie ihre Sachen mitsamt ihrer besten Freundin und beide kehrten nicht zurück.“

   „Haben Sie das gemeldet?“

   Der Heimleiter schnaubte. „Natürlich. Aber Ihre Kollegen wollten mir schon nach Wir vermissen zwei Frauen nicht weiter zuhören, haben auch die Namen als Bohnensprache! abgetan und mit Sicherheit nicht richtig aufgeschrieben. Ersparen Sie uns daher Ihre Vorwürfe!“

   Dragán seufzte. „Ich nehme einmal an, dass Sie keine Hinweise darauf haben, in welchen BMW sie gestiegen ist, noch wie das Kennzeichen war oder Informationen zu ihrem Gönner.“

   „Ich kenne nur den Namen Ihrer Freundin: Zala Kebede.“

   „Schwestern?“

   „Einfach nur ein häufiger Nachname.“

   „Gut, ich brauche alle Daten, Fotos, alles, was sie mir geben können! Zu beiden Frauen, mit wem sie verkehrten und all das.“

   Feldser nickte. „Selbstverständlich. Sie erhalten alles noch heute per E-Mail.“

   Der Ermittler steckte das Handy ein und wollte gerade gehen, da musste er einfach noch fragen: „Herr Feldser, haben Sie mit Akusoa geschlafen?“

   „Nein.“

   „Haben Sie sie umgebracht?“

***

Dragán besaß zwar keinen der Attribute, die oft den Kommissaren in Kriminalromanen zum Erfolg verhalfen, aber durchaus Erfahrung. Was er also als nächstes tat, hätte man in einem anderen Staat vermutlich als Willkür gedeutet. Er wusste, dass es nichts nützte, nach Akusoas iPhone zu suchen – es war sowieso auf ihren Gönner und nicht auf sie angemeldet. Ebenso wenig Ergebnis hätten Vermisstenplakate für die Freundin Zala erbracht, die die Stadt auch nicht für die Suche nach einer Bohne bezahlt hätte, die vielleicht eh schon nicht mehr innerhalb der Landesgrenzen zu finden war.

   Dragán suchte also das Personal auf, den Koch, die Pfleger, den Arzt, der einmal die Woche kam – und wurde beim Hausmeistergehilfen fündig. Manchen Menschen, so bösartig das klingt, kann man die kriminelle Ader ansehen, dieses Ehrlose, Verwegene, Falsche. Sie würden ihre Mütter verkaufen und haben diese wenigstens schon einmal bestohlen.

   Exakt so ließ sich der drahtige, unrasierte Mann Anfang Zwanzig beschreiben, den Dragán mit einem Laptop zwischen Leitungsrohren sitzend fand: rattenhaft. Der Ermittler zerrte ihn aus seinem Loch, setzte ihn auf den Klappstuhl vor dem Schreibtisch und gab ihm per Handzeichen zu verstehen, dass er dort zu bleiben hatte, während sich Dragán stehend vor ihn postierte.

   „Leutnant Dragán Vaskovic vom Morddezernat“, stellte er sich vor. „Und wie heißt du?“

   „Sie sind ein Leutnant?“, gab der Jungerwachsene immer noch überwältigt zurück. „Scheiße, Mann! Ich bin Antonije, also Tadiz. Antonjie Tadiz.“

   „Antonije, an wen hast du Akusoa verschachert?“

   „Was?“

   Dragán lehnte sich vor. „Irgendwer hält hier die Augen offen und sucht nach schönen Schwarzen für verwichste Weiße. Ich behaupte, das bist du. Also, an wen hast du sie verpfiffen?“

   „Was?“, winselte Tadiz. „An niemanden! Sind Sie wahnsinnig, Mann?“

   „Ich will nur den Namen! Dann lass ich dich ziehen.“

   Tadiz konnte sich nun wieder sammeln. „Es ist kein Verbrechen, jemandem zu sagen, dass es hier schöne Frauen gibt.“

   Dragán nickte. „Deswegen bin ich doch auch nicht hier. Deine Kollegen haben mir erzählt, dass du regelmäßig Gras rauchst und hier drin riecht es auch ziemlich danach.“

   „Wovon reden Sie, Mann?“

   „Weil du deinen Secret Agent – nicht Joint, denn als Polizist erkenne ich da den Unterschied – aber schon die Toilette runtergespült hast, muss ich dich mit aufs Revier nehmen. Dort können wir dich bis zu sieben Tage schmoren lassen und uns währenddessen durch deine Wohnung, deinen Laptop und dein Handy wühlen. Und ich bin mir ganz sicher, dass wir dort etwas finden werden. Vielleicht kein Gras, aber mehr Bargeld, als ein Hausmeisterhelfer wie du machen kann, eine Festplatte voller illegal heruntergeladener Filme oder ein paar Whatsapp-Nachrichten. Es reicht wahrscheinlich, um dich zu etwa hunderttausend Dinar zu verdonnern.“ Das war der handelsübliche Wert eines Mittzwanzigers. Fast jeder umgab sich mit genug illegalem Material, um ihn umgerechnet eintausend Euro Strafe zahlen zu lassen.

   Tadiz überlegte. „Scheiße. Und wenn ich rede, bin ich raus? Dann lassen Sie mich?“

   Treffer!

   „Du hast es doch schon selbst gesagt: Jemanden schön finden, ist kein Verbrechen.“

   Natürlich hätte Tadiz auch einfach nur ein hagerer Gehilfe mit hinterlistigem Blick sein können. Er hätte einen Anwalt zu Rate ziehen können und selbst wenn ihn Dragán mit auf die Wache nahm, so reichten die Indizien noch lange nicht für einen Durchsuchungsbeschluss oder eine Durchsuchung bei Gefahr im Verzug aus. Vielleicht wäre es Dragán sogar gelungen, Zweiteres zu erwirken, was jedoch den Aufwand niemals wert gewesen wäre. Ein Gopnik von der Straße hätte das gewusst. Aber das ist ja das Gute an den jungen Leuten: Sie glauben lediglich, alles zu wissen, bis sie es dann eines Tages müssen. Selbstbewusstsein ist ein trügerischer Freund, was auch für Antonije Tadiz galt.

   Dieser gab Dragán allerdings nicht nur einen, sondern gleich fast zwanzig Namen, von einem Kumpel, der es unbedingt mal mit einer Farbigen tun wollte, über einen Zuhälter bis hin zu jemandem, der wie der Sohn eines Politikers klang. Dragán überprüfte sie alle, noch bevor er beim neunten Kaffee ankam.

***

Eigentlich hätte er das alles gar nicht tun müssen. Schon der Dienst nach Vorschrift war mehr, als die meisten Ermittler schaffen konnten – und wollten. Entsprechend hätte es genügt, wenn er ein paar Zeugen vorgeladen, Namen notiert und sie in den patinagrünen Rollregalen im Keller verschwinden lassen hätte. Das war normalerweise auch Dragáns maximaler Aufwand.

   „Warum dann jetzt nicht?“, fragte er die Wand.

   Es war Nacht geworden, Dragán hatte sich in seine winzige Wohnung im sechsten Stock verzogen und dort den inzwischen zwölften Kaffee aufgesetzt und sich damit auf das Sofa gelegt, auf dem er meist auch schlief. Nur das Licht der Straßenlaternen erhellte die hohe Altbaudecke und dieses eine, einsame Foto an der sonst nackten Wand. Dragán starrte es an und stellte die halbleere Tasse auf den fleckigen Teppich – der dies genau deshalb war.

   Warum dann einfach jetzt nicht?, fragte er die Fenster in seinem Kopf.

   Die Antwort waren Dunkelheit, Kaffeegeruch und das noch warme Sofa, auf dem Dragán auch gleich darauf einschlief.

***

Der Sohn des Politikers entpuppte sich am nächsten Morgen als einfach nur ein Oberstmajor im Ruhestand, mit zu viel Geld und dem Wunsch nach einer kaffeehäutigen Geliebten, genauso wie die meisten anderen Namen auf Tadiz’ Liste. Diese bestand vor allem aus Rentnern oder ehemaligen Militärs, die den geflohenen Frauen etwas mehr zu bieten hatten, als ein Zimmer im Flüchtlingsheim und dafür genau dasselbe verlangten, wie die Männer von dort: nämlich totale Unterwerfung. Das war jedoch nichts Ungewöhnliches. Fast jedes Flüchtlingsheim kannte eine ganze Reihe an „Werbern“, wie man sie dort nannte. Manche Frauen gingen auf sie ein, ein paar lösten dafür sogar ihre Ehen, die im Auge der nevaznischen Gerichtsbarkeit ohnehin keine wirkliche Gültigkeit besaßen, was aber nicht für Akusoa galt: Sie war zu hübsch für einen Rentner, ihr Preis zu hoch. Zudem, hätte sie so ein Angebot angenommen, hätte sie keine teuren Markenkleider, sondern den Pseudoprotz der Unterschicht und Modeschmuck getragen.

    Der Einzige, der ihr das kaufen konnte, war David Brezancic, der Sohn eines Bauunternehmers aus Abenczá, der wohl vorübergehend in Tihograd lebte. Ihn zu überprüfen, stellte sich jedoch als ein Labyrinth heraus: Im Telefonbuch tauchte er nicht auf, das Einwohnermeldeamt hatte nie von ihm gehört. Nur auf Facebook – dem neuesten Religionsersatz des Landes – hatte er angegeben, vor drei Monaten noch in der Stadt gewohnt zu haben, bevor er anscheinend umzogen war … nach London, wo er nun Betriebswirtschaftslehre studierte.

   „Ist nichts Ungewöhnliches“, kommentierte Adnan, als er sich ebenso durch das Profil des reichen Söhnleins arbeitete. „In Abenczá gibt es keine Uni. Also ist er fürs Studium hierher gezogen, wahrscheinlich in eine von Papas Wohnungen, und hat es sich gleich mal erspart, sich umzumelden. Die fünf Minuten, die das braucht, investiert man in seinem Fall besser in Sliwowitz und billige Weiber. Glaubst du, er war die Sahne im Kaffee deiner Bohne?“

   Dragán zuckte mit den Schultern und ließ seinen Vorgesetzten eine ganze Reihe von Anfragen unterschreiben. Er brauchte die Nummer dieses 22-jährigen Berufssohns, vielleicht sogar Kontakt mit Europol, um ihn im Falle eines Mordes zu verhören, Zugang zu seinen Profilen in den Sozialen Medien und dabei auch noch gleich zu seinem Handy, Whatsapp und was noch alles. Zudem bräuchte er Auskunft über alle Wohnungen, die sein Vater in Tihograd mietete oder vermietete. Und Durchsuchungsbeschlüsse für sie.

   Von all diesen Informationen erhielt er bis zum Ende der Woche lediglich die Adressen der anscheinend nur drei Wohnungen. Der Rest wurde abgeschmettert. Es gäbe keinerlei handfeste Beweise, die eine derartige Zersetzung der Privatsphäre eines Staatsbürgers rechtfertigen würden.

   „Was erwartest du?“, entgegnete Adnan wütend. „Eine Bohne ist vor ein Auto gelaufen und du willst den halben Kontinent mobilisieren?“

***

Am Freitagabend besuchte Dragán die Appartements. Das Erste, das nur eine Bushaltestelle von der Universität entfernt lag, stand leer. Dragán überlegte, als er vor der schweren, opulent verzierten Tür stand, ob er nicht das Schloss knacken sollte, beschloss aber, dass es das Risiko nicht wert wäre. Ebenso wie den Aufwand, zu Ruzdhis Werkstatt zu fahren und ein Dietrichset zu holen.

   Die zweite Wohnung wurde von einer viel zu alten Mutter und ihrem vorlauten, viel zu jungen Sohn bewohnt. Er kam vollständig in Adidas gekleidet, in schwarzer Jacke und Hose, die weißen Streifen als Status, an die Tür, und zeigte deutlich, auf Gopnik-Art, was er von Bullen hielt – mit einer Selbstsicherheit, die jeden Mangel an Bildung wettmachen sollte. Das hier wäre sein Block, klar? Sein Viertel, klar? Er wäre hier der Boss, klar? Der Papieraufwand war alles, was ihn davon abhielt, sich eine Woche lang in Untersuchungshaft abzukühlen. Komm bloß nicht wieder, klar?

   Die dritte Wohnungstür wurde dagegen von einer Farbigen geöffnet, die Dragán sofort als Zala Kebede erkannte.

   „Leutnant Dragán Vaskovic vom Morddezernat“, war seine Antwort auf die Frage, woher er sie kannte.

   „Oh no“, lautete ihre Reaktion, bevor sie ihn in die kleine Wohnung einlud. „Akusoa ist tot, ist sie?“

   Was Dragán mit einem Nicken beantwortete. Dabei ertappte er sich, wie er beinahe auf die Lippe biss. Er war nicht nur auf der richtigen Spur, sondern auch fast an ihrem Ende!

   Zala war ein bezauberndes Wesen. Ihr fehlten das Feuer und der scharfsinnige Blick, die Akusoa sogar noch im Tod besessen hatte, dafür aber umgab sie sich mit einer Aura der Unschuld. Sie wirkte hilflos naiv, wie jemand, der nichts hinterfragte und genauso wenig wusste, aber mit gutem Aussehen durchs Leben gekommen war – wie leichte Beute für jeden, der ein wenig Geld und noch weniger Scham besaß.

   Die Wohnung, die sie bewohnte, gehörte offensichtlich jemand anderem. Es gab zwei Schlafzimmer, ein großes und ein winziges, in das kaum ein Bett und ein Schrank passten, und das von Zala bewohnt wurde. Im anderen hatte, wie erwartet, Akusoa geschlafen. Dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte, verwunderte Zala nur wenig. Wenn in Sidamo – ein Landstrich irgendwo im Süden Äthiopiens, woher sie beide stammten – jemand für eine Woche verschwand, dann tauchte er auch nicht mehr auf. Das galt offensichtlich auch für Europa.

   „Darf ich mir einen Kaffee machen?“, fragte Dragán, als er in der Küche einen Beutel äthiopischer Bohnen entdeckte. „Ich hätte da so einige Fragen an Sie!“

   „Ja, bitte. Fragen Sie!“, sagte sie mit der hilflosen Stimme eines jungen Katers. „Nur schicken mihe nihed heim! Ist nihed siher Herkunft-Land.“

   Dragán setzte den Kaffee auf. „Keine Sorge. Nevaznien ist eine post-sowjetische Bürokratiehölle. Sie könnten hier nicht einmal mehr weg, wenn Sie es wollten“, scherzte er. „Bitte verstehen Sie meine erste Frage nicht als Angriff, aber: Haben Sie mit David Brezancic oder seinem Vater geschlafen?“

   „Ge-schlafen?“, wiederholte sie so hilflos niedlich. „Nein, Bett zu klein.“

   „Ich meinte, hatten Sie Sex?“

   Das verstand sie. Sex, Handy und Geld waren die drei Worte, die jeder Flüchtling in ganz Europa sofort lernte und verstand – sogar noch, bevor er adäquat grüßen oder sich verabschieden konnte. Das Mama und Papa der Erwachsenen.

   „Nein, ihe nihed“, antwortete sie.

   Die Kaffeemaschine begann zu summen, das Mahlwerk zu schreien und schwarzes Lebenswasser ergoss sich in die gläserne Kanne. Das würde nun interessant werden.

***

Zala erzählte, gebrochen und indem sie erratisch von einer Geschichte zur nächsten und zurück sprang, aber so gut sie konnte. Dragán schrieb mit und sortierte später die vielen Stichpunkte.

   Akusoa war eine Kämpferin gewesen, nicht nur äußerlich, sondern auch durch Taten. Vor zwei Jahren war sie von ihrer armen Familie mit einem reichen, mehr als grausamen Mann vermählt worden, und nach einem Jahr aus Erniedrigung und Gewalt die Flucht nach Europa angetreten, allein, mittellos und ohne die sonst übliche Unterstützung durch die Familie. Sie kämpfte sich durch den Sudan, in dem man Schwarze manchmal sogar einfach erschoss, anstatt ihnen alle Papiere wegzunehmen und sie als Sklaven zu handeln, durch das syrische Kriegsgebiet, wo Daesh Menschen zum bloßen Vergnügen jagte, über die türkische Grenze, vorbei an Schleusern, Menschenhändlern, Stacheldraht und türkischen Militärs.

   Sie aß tote Hunde, kroch in Ruinenhaufen, um dort zu schlafen und wäre beinah unter einem ausgebrannten Panzer verdurstet, unter dem sie fast drei Tage ausharrte, weil Tag und Nacht Truppen daran vorbeizogen. Sie musste stehlen, betrügen und ausspielen – als sie zum Beispiel einen alten Opiumschmuggler überzeugte, sie für eintausend Euro über den Bosporus zu bringen, nur um am anderen Ufer vom Boot zu flüchten –, aber es gelang ihr, bis nach Europa vorzudringen, ohne sich einmal einen Mann hergeben zu müssen.

   Nur, um hier von einem Auto überfahren zu werden, war ein Gedanke, den Dragán für sich behielt. Viele der Flüchtlingsgeschichten waren beeindruckend, erschütternd und oft Verfilmungen wert. Und sie alle endeten immer mit der großen Entzauberung des gar nicht so großartigen Europas.

   Akusoa und Zala wurden sofort Freundinnen. Akusoa hatte ihren Ehemann hinter sich gelassen, Zala ihren auf dem Weg hierher verloren, was sie in Einsamkeit einte. Einen Monat lang hieß es, sie gegen den Rest der Welt, wobei Akusoa den Kampf und das Durchsetzen übernahm, während Zala einfach die kleine Schwester spielte, obwohl sie sogar drei Jahre mehr zählte. Dennoch hätten sie nicht ewig durchgehalten. „Es sind nicht die Erniedrigungen, mit denen ein Mensch gemartert wird oder der Schmerz, der ihn irgendwann brechen lassen. Es ist die Zeit, die seinen Willen abträgt, wie der Wind einen Berg“, hatte es Dragáns Mutter erklärt, als sein Vater schließlich aufgegeben hatte. Selbiges hätte auch für Akusoa und Zala gegolten. Beide wären wohl früher oder später mit Männern im Heim verheiratet worden, wäre nicht plötzlich David aufgetaucht.

   David Brezancic schien zuerst wirklich nur ein verwöhntes Kind mit Geld, gutem Aussehen und Appetit auf schwarze Frauen gewesen zu sein. Akusoa war ihm über einen Unbekannten – vermutlich Antonjie Tadiz – bekannt gemacht worden, sie hatte ihm gefallen und nach anscheinend ein oder zwei Treffen war der älteste Tausch der Welt vollzogen worden: Geld gegen Geschlechtsverkehr. Wobei Akusoa nicht einfach mit ihm ins Bett gegangen wäre, wie Zala mühsam zu erklären versuchte. Diese Kämpferin wusste, wie man verhandelt. Sie wusste, wie man mit Menschen umgeht und wie man Männer an der Angel hält. Allein dafür, ihm den Hosenstall zu öffnen und mit den Fingerspitzen hineinzufahren, ließ sie sich gut bezahlen, und wenn er mehr wollte – Akusoa machte ihm deutlich, dass sie keine schwarzhäutige Hure wäre, die man mit Sekt und einem iPhone ins Bett lockt, um damit vor den Freunden zu prahlen.

   „Am Ende war sie es doch“, kommentierte Dragán und sah sich in der Küche um. „Ihr Preis war nur höher.“

   Zala konnte nie erklären, wie Akusoa es angestellt hatte. Vielleicht war es die richtige Mischung aus Ablehnung und Annäherung, vielleicht hatte sie einfach ein Gespür für die Tasten der Menschmaschine, aber David schien ihr wohl verfallen zu sein. Sie bekam von ihm nicht nur Schmuck und kleine Aufmerksamkeiten, sondern bald auch noch diese kleine Wohnung hier und etwas Taschengeld. Dafür tauchte er fast jeden Tag vor ihrer Tür auf, um sie entweder abzuholen oder durch ihre Laken zu toben, während sich Zala Kopfhörer aufsetzte und durch das äthiopische Youtube arbeitete.

   Auch wenn sie es vielleicht nun gekonnt hätten, mahnte Akusoa, sich trotzdem nicht dem Müßiggang hinzugeben. Sie übte zusammen mit Zala das Serbokroatisch und parallel dazu Englisch, wobei ihre Fortschritte bald kaum noch einzuholen waren. Wenn es ihre Zeit zuließ, kämpfte sie sich durch Artikel über ein Asyl in einem EU-Land, wie man dort Ausbildungen machte und sich im sozialen Gefüge verankerte. Zala und sie, versprach sie mit beneidenswertem Eifer, würden eines Tages nach Frankreich gehen, französische Männer heiraten und französische Kinder gebären. Und sie würden in Frankreich sterben!

   Dann machte David Schluss.

   Er kam eines Tages an ihre Wohnungstür und erklärte Akusoa mit geballten Fäusten und Tränen in den Augen, dass sie sich von nun an nicht mehr sehen sollten. Die Wohnung und ihr Taschengeld würden für noch etwa ein Jahr weiterlaufen, danach mussten sie sich eine andere Bleibe suchen, notfalls zurück ins Heim. Wie auch immer er auf diesen Gedanken gekommen war, er hielt sich daran. Zala sah ihn nicht wieder.

   Dragán schenkte sich den vierten Kaffee ein. „Vielleicht hat seine Freundin davon Wind bekommen.“

   „David hat keine Frau hatte“, erwiderte Zala, im Kampf mit der serbokroatischen Grammatik.

   „Glauben Sie mir, diese Kerle haben immer eine Freundin oder Verlobte oder sogar Ehefrau. Erinnern Sie sich vielleicht an Wochenenden, an denen er mal nicht auf Akusoa geklettert ist? Das waren die Tage, an denen die Freundin aus Abenczá zu Besuch kam.“

   „Ihe weiß, was Sie meinen. Nein. Die hat es nihed gegeben. Er hatte keine Frau.“

   „Von mir aus. Wie hat es Akusoa aufgenommen?“

   „Auf-genommen?“, wiederholte sie. „Von Boden? Oder Tisch?“

   „Wie hat sie sich danach gefühlt? Wie ging es weiter?“

   Zala nickte. „Wissen Sie, in meiner Heimat, da gibt es eine Weisheit: Wenn du mit dem Teufel tanzt, dann wirst du ihn danach vermissen.“

   „Oh nein“, war nun Dragáns Reaktion.

   Akusoa betrauerte zuerst nur das Geld, das eines baldigen Tages ausbleiben würde, schließlich aber auch die Quelle selbst. Wie sich herausstellte, war diese nur kurz nach dem Ende ihrer Liebschaft in ein anderes Land gezogen – Großbritannien, wie Dragán wusste –, was jedoch jemanden wie Akusoa nicht davon abhielt, mit ihm in Kontakt zu treten. Sie skypten, wie sie es nannte, zuerst nur ein paar Minuten und schließlich sogar mehrere Stunden pro Tag. Einmal tanzte sie nackt vor ihrer Laptopkamera, an dessen anderem Ende David saß; ein anderes Mal sahen sie sich gemeinsam einen Film an, während sie immer noch durch mehrere Landesgrenzen getrennt wurden und sie lachten. Das hatten sie zuvor noch nie getan. Gestöhnt, geschrien, gestritten, aber nie gelacht.

   Bis dann vor einer Woche, als Akusoa plötzlich nicht mehr nach Hause kam.

   Erklärte Zala und erstarrte schweigend.

***

„Das ist ja alles spannend und interessant – und teilweise mit Sicherheit auch erlogen“, bemerkte Adnan und markierte mehrere E-Mails als ungelesen, damit er sich am Montag um sie kümmern konnte. „Aber was hat das mit dem Fall zu tun?“

   Dragán und er waren wieder in seinem Büro. Die Nacht hatte sich draußen über Tihograd gelegt, ein leichter Nieselregeln nässte die Glasscheiben und Adnan, der meist als Erster kam und auch als Letzter ging, traf noch einige Vorbereitungen, während er sich von Dragán die neuesten Erkenntnisse erzählen ließ.

   „Jemand, der vor Geilheit regelrecht vernarrt ist“, erklärte Dragán, „bricht nicht einfach so eine Beziehung ab, besonders nicht, um sie danach doppelt so intensiv auf Skype fortzuführen.“

   Adnan schloss sein Outlook, ebenso wie alle anderen Programme und befahl Windows, sich für heute herunterzufahren. „Das ist mir schon bewusst. Wahrscheinlich hat sein Herr Papa – ein Mann mit, sagen wir, eher konservativen Werten – diese Liebelei mitbekommen und kurzerhand den Riegel vorgeschoben.“

   „Das denke ich auch. Ich würde ihn daher gern –“

   Sein Vorgesetzter hob die Hand – eine unmissverständliche Gestik vom Ober an den Unter, auf dass dieser zu schweigen habe. „Wie viele Bauhöfe hat dieser Typ? Und wie viele Häuser?“

   „Durad Brezancic unterhält zweiundzwanzig Bauhöfe und besitzt vierunddreißig Gebäude im ganzen Land, darunter auch etwa einhundertzehn Wohnungen.“

   „Er ist also kein einfacher Bauunternehmer, sondern ein … Baulöwe? Er hat mit Sicherheit ein paar gute Anwälte und geht mit mehreren hohen Tieren am Wochenende jagen – ein paar gute Kumpels aus Unionszeiten –, wenn er nicht sogar selbst Parteifunktionär ist. Und so jemanden willst du vorladen, weil die Frau – eine Bohne! –, die sein Sohn gevögelt hat, vor ein Auto gelaufen ist?“ Adnan zog einen USB-Stick vom Computer, steckte ihn in die oberste Schublade und schloss diese ab, bevor er sich zu Dragán umwandte. „Bist du verrückt geworden?“

   „Es könnte immer noch –“

   „Auch wenn sie überfallen wurde, hat das nichts mit der Familie Brezancic zu tun, sondern eher damit, dass sie mit den Gopniks noch nicht ganz vertraut war! Ich habe keine Ahnung, warum du dich dermaßen in diesen Fall vernarrt hast, aber ich stelle ihn hiermit zurück. Schreib auf, was dafür relevant ist, schick es mir per E-Mail und dann kümmere dich um die zehn Dutzend anderen Fälle, die bis Jahresende noch reinkommen werden!“

   Damit war es vorbei.

***

Dragán verstand in der nächsten Woche einmal mehr zwei grundlegende Tatsachen moderner Polizeiarbeit. Zum einen können Ermittler nur in Filmen auf eigene Faust weitermachen. In der Realität, besonders im serbokroatischen Raum, hätte ihm das den Rang gekostet, wenn er überhaupt dazu die Zeit fand. Zehn oder sogar zwölf Stunden am Tag waren in Nevaznien und den Nachbarnationen gewöhnliche Arbeitszeiten, in denen man sich endlos und meist pausenlos durch menschliche Abgründe wühlen musste. Im Internet zu surfen, lange Raucherpausen und Kaffeeautomatentratsch gab es für die Ermittler nur, wenn sie auf den Ruhestand zusteuerten und nicht mehr zu viel Verantwortung übernehmen sollten. Wenn ein Fall also für beendet erklärt wurde, dann war er das auch.

   Ein anderer, mindestens genauso wichtiger Faktor war der Zufall. Einige der größten Fälle der Geschichte waren nicht durch Genialität, sondern durch bloßes Glück gelöst worden. Dragáns Zufall hieß Radomír Sledic.

   Radomír war ein alleinlebender Fernfahrer, der seine stetigen und einmal wieder bestätigten Misserfolge beim anderen Geschlecht in einem Irish Pub ertränken wollte. Dabei stieß er mit einem durchaus bei den Frauen erfolgreichem Mann namens Dabiziv Petrovic zusammen und wollte seinem Neid mit der Faust Ausdruck verleihen.

   Ein paar Bier mehr, einige unnötige Beleidigungen und einen einzigen Kinnhaken später befanden sich Sledic und Petrovic auf dem Weg zur Wache am Elfenplatz, wo Zweiterer dem zuständigen Polizisten auffiel, der ihn wiederum am Ende seiner Schicht an seinen Kollegen Leutnant Dragán Vaskovic weiterleitete.

   „Hey, du hast doch gemeint, dass wir nach jemandem Ausschau halten sollen, der aussieht, als hätte er einen Löwen geschmust?“, bemerkte der Polizist und erzählte ihm von dem Mann mit dem schulterlangem Haar und den furchtbaren, frischen Kratzspuren im Gesicht.

   „Dabiziv Petrovic“, fragte Dragán misstrauisch. „Was ist das für ein Name? Klingt wie aus einem Comicheft.“

   „Der Personalausweis war jedenfalls echt.“

   „Wo ist er jetzt?“

   „Zuhause, denke ich. Habe ihn heimgeschickt. Ist kein offizieller Mordverdacht rausgegeben worden, wie du wahrscheinlich weißt.“

   Dragán nickte. „Hast du seine Adresse?“

  ***

„Woher haben Sie die?“, frage Dragán, nachdem er sich vorgestellt hatte. „Die Narben meine ich.“

   Die Adresse führte in eines der schlimmsten Viertel der Stadt – das man auf der Wache Neu-Arabien nannte – zu einem der schlimmsten Blocks, wo sich eine ganze Etage Toilette und Dusche teilte. Verrostete Fahrräder, alte Kisten, Kinderwägen und ganze Generationen aus wahllos verteilten Fußmatten machten das Treppenhaus schwer passierbar. Aufgeplatzte Wände und herausgebrochener Putz erzählten von Jahrzehnten der Vernachlässigung und aufgegebener Hoffnung. Aus den Wohnungen brüllten abwechselnd streitende Mieter oder Fernsehapparate.

   Nur Säuglinge hörte man selten. Da hatte die Unterschicht längst ihre eigene Methodik entwickelt: Der arbeitsaufwendige Nachwuchs wurde einfach den ganzen Tag über in ein vollständig verdunkeltes Zimmer gelegt, damit sie die meiste Zeit verschliefen. Dieser ganze Ort war ein Gefängnis des sozialen Abstiegs. Wer in so einem Haus geboren wurde, starb auch in einem.

   Dabiziv Petrovic, ein muskulöser, grobschlächtiger Gopnik mit Blumenkohlohren, lebte in einer ihm angemessenen Wohnung, mit nikotinvergilbten Wänden, wuchtigen Teppichen aus Sowjetzeiten, endlosen Stickdeckchen von Muttern und einem Flachbildfernseher, der wie das größte Kleinod der Familie behandelt wurde – was er mit Sicherheit auch war.

   „Kurac!“, erwiderte der langhaarige, sichtlich im Gesicht verletzte Mann Mitte-Ende Vierzig, beleidigend im erlesenen Gossendialekt.

   Dragán fletschte die Zähne. „Ersparen wir uns das, einverstanden? Sie werden jetzt mit mir auf die Wache kommen, dann werden Sie an einem Wattestäbchen nuckeln und wenn sich darauf die DNS befindet, die wir unter den Fingernägeln einer Frau namens Akusoa Kebede gefunden haben, gehen Sie für den Rest Ihres Lebens ins Gefängnis. Wir erschießen Mörder leider nicht mehr, aber wir können dafür sorgen, dass sie den Rest ihrer Zeit Schwänze lutschen, damit sie ein paar Mal am vergorenen Birnenwasser nippen dürfen, das der Hausmeister im Dixi-Klo versteckt hat – denn Schnaps gibt es da drin nicht mehr!“

   „Kurac, gar nichts wird passieren!“, protestierte Petrovic. „Ich rufe meinen Anwalt! Davor geh’ ich nirgendwohin.“

   Da hatte Dragán schon die Handschellen gezogen. „Den können Sie auch vom Revier aus anrufen. Und jetzt die Hände hinter den Kopf und langsam zu mir umdrehen!“

   Und daraufhin verstand der Ermittler einmal mehr die dritte Regel der Polizeiarbeit. Drei Jahre der Ausbildung, sechs Monate Nahkampftraining und sogar eine Pistole sind wertlos, wenn der andere zuerst zuschlägt und dabei weiß, was er tut.

   Petrovic streckte ihn mit einem Fausthieb nieder. Dragán stolperte gegen die Wand, da folgten auch schon ein Fußtritt in die Rippen und noch einer gegen die Stirn. Er hörte Schreie und ein helles Summen, vor seinen Augen tanzten bunte Körnchen.

   Hände griffen nach ihm. Jemand nahm ihm den Geldbeutel ab, gleich darauf seine Pistole.

   „Was ist das denn für ein geiles Teil?“, fragte jemand, ein Fistelstimmchen, das kaum volljährig sein konnte.

   „Mein Onkel hat so eine! Die benutzen sie in der Spezialeinheit“, antwortete jemand anderes.

   Das war eine Heckler & Koch USP, wäre Dragán am liebsten losgeworden – warum auch immer. Er hatte sie von Adnan für zehn Jahre Dienst geschenkt bekommen und seitdem statt der polizeiüblichen Zastava im Jackenhalfter getragen.

   Da bemerkte er, dass er sich bewegte. Er wurde getragen, mit den Füßen voraus und Treppen hinauf. Sechs Männer schleppten ihn durch das ruinierte Treppenhaus, Stockwerk um Stockwerk nach oben.

   Petrovic’ Gesicht erschien plötzlich neben seinen. „Weißt du, kurac, die Bohnenfotze hätte gar nicht sterben müssen“, erklärte er. „Das alles hätte nur eine Warnung sein sollen. Man hat ihr gesagt, dass man ihr den Geldhahn zudrehen wird, wenn sie nicht aufhört, mit diesem reichen kurac zu telefonieren – das hat sie ignoriert. Man hat ihr gesagt, dass man sie anzeigen, ausweisen und zurück nach Kenia schicken wird, oder wo auch immer sie hergekommen ist – das hat sie auch ignoriert. Also hieß es: Schickt ihr ´ne Warnung wie es Gopniks machen würden!“

   „Mit dem Messer?“, fragte Dragán und staunte gar nicht mehr darüber, wie unbedarft er hier durch den Hausflur getragen werden konnte.

   „Nee, nur eine kleine Spritztour, nach Serbien oder Rumänien. Wir sollten sie nicht mal ficken! Wegen der DNS und so. Nur zeigen, dass wir sie so richtig fertig machen können und dann ohne Klamotten an der Grenze aussetzen. Tiefgehend demütigen, hat man uns gesagt. Weißt du, wie so eine Negermöse aussieht? Wie ein kalter Braten: Außen braun, innen rot. Wir sind ihr also nach, schnappen sie uns vor einer Bar und – kurac! – auf einmal kratzt und beißt die Schlampe, macht sich los und rennt ins erstbeste Auto, die blöde Bohnenfotze.“

   Dragán versuchte kurz, sich aufzubäumen, wurde aber von zwölf Händen daran erinnert, wie machtlos er tatsächlich war. „Ihr arbeitet also für Durad Brezancic!“, brüllte er, als würde das etwas ändern.

   „Wir arbeiten für niemanden! Jemand hat uns Geld geboten und ´nen Namen genannt, das ist alles. Hat nicht mal einen Namen genannt. Aber darüber kannste dir gleich allein Gedanken machen – acht Stockwerke lang“, bemerkte Petrovic kalt, bevor die Betondecke dem Himmel wich.

   Sie hatten ihn auf das Dach getragen, der dekorative Kies knirschte unter ihren Stiefeln, während Petrovic die Richtung angab. „Zur Straße! Nicht zum Spielplatz runter. Also dann, Leutnant Dragán Vaskovic, gute Reise“, sagte er, da waren sie kaum noch zwei Meter vom Rand des Flachdachs entfernt.

***

„Es gibt da diese Geschichte“, hatte Dragáns Mutter an dem Tag erzählt, als sein Vater schließlich zusammengebrochen war. „Ich weiß nicht, ob sie wahr ist und das spielt auch keine Rolle. Mitte-Ende der 1940er Jahre gab es in Tibet angeblich einen berühmten Guru. Also, es gab viele berühmte Gurus, aber dieser eine, nennen wir ihn Meister Berg, hatte einen ganz besonderen Sprung in der Schüssel. Meister Berg praktizierte nämlich eine sehr passive Form des Kung-Fu, die eher auf Meditation und Chakren basierte und glaubte sich als eins mit allen Energien des Universums. Um einen Beweis zu liefern, setzte er sich auf den Boden der Gebetshalle und befahl dem stärksten Mann des Landes, ihn hochzuheben oder zu verschieben – was diesem selbstverständlich nicht gelang. Denn, so erklärte der große Meister, er wäre eins mit einem Berg und nichts und niemand könne einen solchen bewegen. Diese Demonstration machte sein Kloster berühmt, zumindest in der unmittelbaren Umgebung … und natürlich reich.

   Im Oktober 1950 änderte sich die Lage im Land dramatisch. Tibet wurde von China annektiert. Die Roten Garden marschierten ein, töteten Tausende, zerstörten an die fünftausend Klöster und klopften natürlich auch bei Meister Berg an der Pforte. Er habe sich zu ergeben, erklärten ihm die ausländischen Soldaten, seine Besitztümer wären konfisziert, sein Orden aufgelöst – was der Meister verneinte. Vielleicht glaubte er, diese Fremden mit derselben Show überzeugen zu können oder vielleicht sogar schon selbst daran, aber er entgegnete ihnen mit demselben Gerede von Energie und Bergen. Ihre Waffen wären hier nutzlos, denn einen Berg könne man genauso wenig töten wie verschieben.

   Die Antwort der Chinesen kam schnell: Einer der Soldaten legte an und schoss ihm in den Kopf. Peng! Und der große Meister der Energien, der so mächtig und unbeweglich wie ein Berg gewesen sein soll, war ganz menschlich auf der Stelle tot.

   Was ich sagen will: Wenn es hart auf hart kommt, wenn alle Karten auf dem Tisch liegen, helfen dir kein Gott, kein Glaube und keine Zauberei! Dann zählt nur, was du bist und was du wirklich kannst!“

   Daran erinnerte sich Dragán plötzlich, bevor alles über ihn hereinbrach.

   Er blickte in den bewölkten Himmel und erkannte im Augenwinkel die Männer, Antennen, das Dach und dahinter die graue Wüste der Stadt. Er hörte Elstern und Amseln streiten. Er konnte riechen, was die Gopniks gerade noch zu sich genommen hatten – scharfe Kartoffelchips mit Paprika und widerliches Billigbier – und spürte, wie ihr gemeinsames Netzwerk aus Muskelfasern und Willenskraft auf ihn einwirkte, Zähnen gleich, die ein Objekt festhielten. Und wo dieses Zusammenspiel am schwächsten war.

   Der Jugendliche, ein schwarzhaariges, knochendünnes Kerlchen mit Damenbart, wollte all das gar nicht tun. Er war der lockere Zahn in diesem mörderischen Gebiss. Dragán sammelte alles, was von seinen Kräften noch verblieben war, holte tief Luft und konzentrierte es auf diesen einen, schwachen Punkt.

   Er trat aus, der Jugendliche stolperte zurück, taumelte und stolperte über den Rand. Alle erstarrten. Über dreißig Meter später schlug er auf, mit dem befriedigenden Laut von nassem Fleisch. Jemand schrie seinen Namen. Die Formation löste sich und Dragán war frei. Er griff nach dem erstbesten Gesicht und biss hinein, bis er ein Stück von dem, was wohl eine Wange war, herausriss. Sein Daumen zerdrückte irgendwo anders ein Auge. Es platzte auf. Warmer, weicher Pudding.

   „Der dreht komplett durch!“, schrie jemand.

   Ein anderer zog ein Messer.

   „Wo ist die Pistole?“

   „Unten. Auf der Straße! Kurac!

   Der Gopnik mit der Klinge stürzte auf Dragán zu, doch dieses Mal zeigte das Polizeitraining seine Wirkung. Dragán fing den Angriff mit dem Ellbogen ab, fixierte den Arm mit dem anderen und hebelte das Messer aus. Einen Moment später war es in seiner Hand, dann schlitzte er einem weiteren Angreifer den Arm auf. Dessen Pullover färbte sich in Sekunden rot.

   Die Männer wichen Dragán plötzlich aus. Die zwei Verletzen ergriffen die Flucht. Sie liefen zur Tür und hasteten das Treppenhaus hinab, ein weiterer folgte ihnen und nur einer blieb zurück, um Petrovic anzufeuern.

   „Der Wichser hat meinen Bruder umgebracht!“, kreischte er unter Tränen. „Mach ihn platt!“ Hielt sich aber sonst zurück.

   Petrovic hob die Fäuste in perfekter Verteidigungshaltung. Seine beachtlichen Muskelmassen arbeiteten sich wie Hydraulikmotoren an den Armen hinauf und herab, seine langen Haare tanzten mit jeder Bewegung. Wie er die Beine bewegte und wie er sich bereit machte, einen Schlag mit der Rechten anzudeuten, um dann mit der Linken aus voller Hüfte auszuholen, erzählte deutlich von jemandem, der das über Jahre gelernt hatte. „Nur du und ich, kurac!“, bemerkte der Boxer voller Eifer, so als würde er es genießen.

   „Es ist vorbei“, rief Dragán, den Mund voller Blut und das Messer in der Rechten.

   „Dann lass uns doch wenigstens noch ein bisschen Spaß haben“, scherzte sein Kontrahent.

   Einen Moment später brach er aus.

   Die Rechte angedeutet. Mit der Linken dabei Schwung geholt. Bevor sie wie ein Hammerschlag auf Dragán zuraste.

   Das war das Problem mit Boxern – sie werden vor allem dazu trainiert, gegen andere Boxer zu kämpfen. Sie machen sich natürlich alle möglichen Gedanken darüber, wie sie jemanden mit einem Messer besiegen würden, aber ganz zum Schluss, wenn es hart auf hart kommt und alle Karten auf dem Tisch liegen, haben sie meistens keine Ahnung.

   So auch Petrovic, dessen Blick von Kampfeslust zu Erschrecken wich, als auf einmal das Messer bis zum Anschlag in seinem Hals steckte. Er suchte Dragáns Blick, vielleicht um dort eine Antwort oder Gnade zu finden, stieß aber nur auf Gewissheit. Die Klinge, die Dragán mühelos in seine Kehle versenken konnte, hatte nicht nur die Hauptschlagader, sondern auch die Luftröhre geöffnet. Würde er sie herausziehen, wäre das Gehirn in Sekunden unterversorgt, was auch geschehen würde, wenn er sie darin stecken ließ, nur dass ihm noch etwa ein, zwei Minuten blieben. Dragán wusste das, Petrovic verstand es und so verharrten sie.

   „Du kannst dich jetzt hinsetzen und die Polizei rufen“, erklärte Dragán, mit der Hand am Messerknauf, dem anderen, der zur Bewegungsunfähigkeit erstarrt war. „Oder du kannst rennen, dann finden wir dich in ein paar Tagen, zusammen mit dem Rest von euch. Das ist die einzige Wahl, die du noch hast.“

   Der Gopnik entschied für eine dritte Option und sank weinend auf die Knie. Das tun sie oft, wenn sie verstehen, dass ihr Leben jetzt vorbei ist.

   Dragán wandte sich wieder Petrovic zu, der zuckend und zitternd auf ein Urteil wartete, das nicht kam. Dragán ließ ihn einfach stehen, die Klinge blieb in seinem Hals, er sank auf die Knie und danach auf den Kies.

***

Was folgte, waren Polizeisirenen, Festnahmen, ein Krankenhausbesuch, Gips, eine Kur aus Schmerztabletten und Zwiebelsuppe; ein Chaos aus Ordnung und Fragen. Es gab ein langes Gespräch mit den Vorgesetzten – denn Leutnant Vaskovic war immerhin ohne Erlaubnis oder Verstärkung losgezogen – und einen Artikel in der Zeitung, in dem er nicht einmal erwähnt wurde. In anderen Nationen, mehr zum EU-Zentrum hin, hätte man Dragán vermutlich nach all den Strapazen und dieser unglaublichen Nähe zum Tod an einen Therapeuten verwiesen oder für die Frührente vorgeschlagen, in Nevaznien hingegen vertraute man in dieser Hinsicht auf Lob, Gebete und Schnaps.

   Man steckte ihm einen Orden an, bot ihm ein paar zusätzliche Urlaubstage und erwartete ihn danach auch schon wieder zum Dienst.

   Zwei Wochen später, da hatte Dragán beinahe alle Dokumente fertiggestellt, um nun die Klage gegen den Mann hinter alledem fortzuführen, als ihn einer seiner Kollegen zum Chef rief. Als Dragán daraufhin das Büro betrat, wusste er, dass es nun vorbei war und das endgültig.

   Hinter dem Schreibtisch saß die Hakennase Adnan in gebückter Haltung, seltsam erstarrt, am Fenster stand ein hochgewachsener Mann im braunen Maßanzug. Er hatte volles, silbernes Haar und wirkte wie jemand, der sein ganzes Leben lang Befehle gegeben hatte, die nur selten hinterfragt worden waren.

   „Durad Brezancic, nehme ich an“, sagte Dragán und richtete seinen Blick auf seinen Vorgesetzten.

   „Der wird Ihnen jetzt nicht helfen können“, bemerkte Durad kalt und betonungslos. „Leutnant Vaskovic, reden wir! Lassen Sie uns dieses mehr als unnötige Dilemma beenden.“

   „Ich glaube nicht, dass Sie sich noch aus dieser Sache herauswinden können, Herr Brezancic.“

   Dieser zögerte, dann nickte er – verneinend. „Zugegeben, die Dinge sind leider aus dem Ruder gelaufen, drei Menschen sind tot, ein Ermittler wurde attackiert und selbstverständlich alles der Liebe wegen. Weil mein Sohn eine Frau heiraten wollte, die ihm den Kopf verdreht hat. Was für ein miserables Theaterstück. Meine, nennen wir sie, Dienstleister sind zu weit gegangen, zweimal und beide Male entgegen meiner Order. Als eine Geste des Entgegenkommens biete ich Ihnen das hier“, sagte er und zeigte auf einen dicken, beigefarbenen Umschlag auf Adnans Schreibtisch. „Das ist ihr vierfaches Bruttojahresgehalt. Sie werden es annehmen und Sie werden es genießen! Fahren Sie in den Urlaub, besuchen Sie Ihre Schwester in Rogoznica oder lernen Sie Ihren Großcousin in Abenczá kennen, der dort als Bühnenschauspieler um seine Existenz kämpft – falls Sie überhaupt wussten, dass es ihn gibt.“

   Dragán schnaubte. „Sie haben einen guten Privatdetektiv.“

   „Um das herauszufinden, reicht bereits ein Anwalt. Wie dem auch sei: Frau Akusoa Kebede wurde von Herrn Dabiziv Petrovic und Herrn SrDan Ilic überfallen,“ – Zweiterer war der Jugendliche, den Dragán vom Dach gestoßen hatte – „konnte sich aber befreien und stieß auf der Flucht mit einem fahrenden Auto zusammen. Leutnant Dragán Vaskovic, von der Wache am Elfenplatz, gelang es jedoch, die beiden ausfindig zu machen. Leider widersetzen sie sich mit Gewalt der Festnahme und wurden im Zuge der Selbstverteidigung von besagtem Leutnant getötet. So wird es auch in Ihrem Bericht stehen und die Verbrecher bekamen, was sie verdienten.“

   „Bis auf der, von dem alles ausging“, erwiderte Dragán kalt. „Wenn ich mich also weigere?“

   „Was sie nicht werden. Denn dann stünde der Staatsanwaltschaft nicht nur ein langer, mühseliger Prozess gegen eine Gruppe Gopniki bevor – so nennen Sie sie doch, nicht wahr? –, die alle für sich nur bestätigen werden, was ich gerade gesagt habe, sondern zudem ein Verfahren gegen Leutnant Dragán Vaskovic selbst. Während der Aufklärung des Falls wird auch er die Aufmerksamkeit der Ermittler auf sich ziehen, was eine ganze Reihe an Delikten zu Tage bringt: Beleidigung eines Vorgesetzten, Insubordination, Diebstahl, Hehlerei und so manche andere kleine Sünden. Sein Vorgesetzter, Oberst Adnan Nikolic, zudem der Sohn eines guten Freundes meinerseits, wird dies vor Gericht bestätigen können.“

   Adnan atmete schwer und presste die Lippen zusammen.

   „Sie werden genügen, um eine Entlassung zu erwirken, wenn sie ihn nicht sogar selbst ins Gefängnis bringen.“ Durad nahm den Paketbeutel vom Tisch, kam damit an Dragán heran und hielt ihm diesen entgegen. „Aber all das wird nicht geschehen. Sie werden schweigen. Und Sie werden es genießen, der Held der Stunde zu sein.“

   Dragán stockte. Er wusste, dass jetzt der Augenblick war, in dem in Filmen noch in letzter Minute der Held hereinplatzt und den wirklichen Bösewicht mit einem einzigen Schuss niederstreckt. Im Schlepptau die Ermittler, die diesen heißen Tipp in letzter Minute erhalten hatten und, die gefeit waren gegen die Maschinerie der Bestechung und des Machtmissbrauchs. Aber das hier war kein Film und er war kein Held, wenn es überhaupt welche gab.

   Seine Finger legten sich wie in Zeitlupe um den dicken Umschlag, bevor er langsam und schweigend das Zimmer verließ, um sich nach nun Wochen wieder einen Kaffee zu machen.

***

„Sie war nur eine Bohne“, bemerkte Ruzdhi gleichgültig, fast amüsiert, und nahm noch einen genussvollen Zug von seiner Marlboro. Genießen war eines seiner markantesten Talente. Das konnte er wie kein Zweiter.

   „Hast du sie noch alle?“, erwiderte Dragán.

   Die beiden hatten sich wieder in der Leichenhalle unter der Universität getroffen, wo Ruzdhi seine Antenne gegen Zigaretten tauschte, und Dragán seinen Eifer gegen Kaffee. Er saß wieder auf einem Operationstisch, Dragán lehnte sich an den gegenüber, beide im letzten Licht der untergehenden Sonne.

   „Ich verstehe dich“, erklärte Ruzdhi. „Das tue ich wirklich. Du hast das Richtige getan, bis du gegen den Prellbock der Realität gefahren bist – und das wurmt dich jetzt. Aber: Sie war nur eine Bohne, eine schwarze Afrikanerin!“

   „Ist das dein Ernst?“

   Der Pathologe drückte die Zigarette in der Mitte aus. „Hör auf, dich als strahlenden Ritter darzustellen, denn das bist du nicht! Alle, die südlich der Mittelmeerstaaten leben, sind Gottes Kauspielzeug und sonst nichts. Sie vermehren sich wie die Fliegen und genauso sterben sie – ob nun an AIDS, sogar noch an Typhus, in den endlosen Bürgerkriegen oder an Quecksilber. Und es interessiert absolut niemanden! Auch dich nicht! Diese Akusoa kam weiter als viele andere, aber am Ende ist sie auch nur eine Bohne gewesen. Und genauso viel wert.“

   Dragán zögerte. Es war immer noch einer seiner zwei besten Freunde, mit dem er da sprach. „Willst du damit sagen, dass Durad mehr wert ist als die Frau, die er im Endeffekt vor das Auto geschickt hat?“

   „Nein, aber du. Du bist mehr wert als sie“, wiederholte Ruzdhi, ließ sich vom Tisch und erklärte sich mit unangenehmer Gelassenheit: „Dieser Durad kommt davon. Selbst wenn es die Staatsanwaltschaft irgendwie hinbekommt, ihn für alle Punkte zu verurteilen und du nur gefeuert wirst – er wird keinen Tag einsitzen, du aber verlierst mindestens zwanzig Jahre an den Stress.

   Sehen wir es mal ganz nüchtern: Sagen wir, Gott stellt dich vor die Wahl. Er hat einen seiner sadistischen Donnerstage und lässt dich entscheiden: Wie viele Schwarze sind einen Moslem wert? Wie viele Moslems einen Europäer? Wie viele gewöhnliche Arbeiter einen Einstein oder eine Mutter Theresa? Und: Wäre es das wirklich wert, einen guten Ermittler für einen Flüchtling zu riskieren, der sowieso schon tot ist?“

   Dragán stockte. „Das ist der Schwachsinn, den die Rechten jeden Tag von sich geben.“

   „Aber leider die Realität, jeden Tag und überall“, sagte der Pathologe und kam an ihn heran. „Dragán, mach es, wie wir früher, wie die Deutschen in der Nazi-Zeit und die Serben im letzten Krieg! Mach es, wie ein Jugendlicher, der sein neues iPhone auspackt, das immerhin unter mehr als menschenunwürdigen Umständen hergestellt wurde! Mach es, wie jeder, der spontan einhundertzwanzigtausend Euro geschenkt bekommt und wie der ganze Rest der Welt!“ Er stand nun direkt vor ihm. „Denk nicht dran und genieß die Fahrt!“

 

 

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