Als uns die Stimmen nicht mehr tragen wollten

Maximilian Wust - Als uns die Stimmen nicht mehr tragen wollten

Als und die Stimmen nicht mehr tragen wollten
Eine Erzählung von Maximilian Wust

MEIN GROSSVATER BEMERKTE es gleich nach dem Aufstehen.

Er konnte auf einmal nicht mehr sprechen. Seine Stimme war nicht zum heiseren Quietschen zusammengeschrumpft oder zum Krächzen verkümmert, sondern einfach weg. Er konnte sich nicht einmal mehr räuspern, geschweige dem auch nur ein ersticktes Wort zu sagen.

Dabei fühlte er sich weder heiser noch erkältet. Er hatte auch keinen so großen Stress gehabt oder psychische Probleme, dass er hätte stumm werden können.

Etwas besorgt lief er zu seinem Handy und schrieb seinem Arbeitskollegen per SMS, er würde etwas später kommen. Er könne gerade kaum sprechen – er log, gar nicht mehr hätte der Kollege nicht geglaubt – und würde vor der Arbeit noch kurz einen Arzt aufsuchen.

Die Antwort kam schnell. „du auch?“ Und weiter schrieb sein Kollege: „geht meiner familie nicht anders. das ist ja komisch.“ Aber selbst das kam meinem Großvater noch nicht seltsam vor. Zufälle gibt’s halt.

Immer noch darauf aus, den Tag halbwegs normal zu verbringen, weckte er seine Freundin; zuerst, um ihr mitzuteilen, dass er das Auto nehmen würde und sie mit dem Bus zur Arbeit fahren musste. Dass er ihr das gar nicht einfach so sagen konnte – er war ja stumm, warum auch immer – wurde ihm selbstverständlich erst nach dem Wecken bewusst. Wütend über sich selbst, dieses ganz offensichtliche Problem so schnell wieder vergessen zu haben, suchte er in seinem Arbeitszimmer nach Zettel und Stift.

Und kaum war mit beidem ins Schlafzimmer zurückgekehrt, saß seine Freundin bereits aufrecht im Bett, eine Hand sanft an ihrem Hals gelegt, während sie wieder und wieder versuchte, auch nur einen Laut hervorzubringen.

Sie war stumm.

Genauso wie er.

Wie der Arbeitskollege. Wie dessen Familie.

Wie alle Menschen auf der Welt.

***

Es geschah von einem Tag auf den anderen. Viele bemerkten es kurz nach dem Erwachen, bei allmorgendlichen Räuspern, andere erst auf dem Weg zur Arbeit oder spätestens, wenn sie jemand anderes trafen. Die, die Nacht wach verbracht hatten, erzählten später, dass ihre Stimmen zuerst immer leiser und krächzend wurden; dass sie gegen Ende nur noch mit Mühen wie heiser sprechen konnten und davon, wie sie vor dem ersten Sonnenstrahl des Morgens vollkommen verstummten.

Die Stimmen waren fort. Die ganze Welt war in einer einzigen Nacht verstummt.

***

Alles, was gerade eben noch selbstverständlich war, wurde mit einem Mal fast unmöglich. Jedes Gespräch konnte nur noch mit primitiven Versuchen einer Zeichensprache geführt werden – mit Händen und Füßen, wie es die Globetrotter oft beschrieben hatten. Telefonate und jede Diskussion, Konferenzen und Gipfeltreffen wurden zu unmöglichen Herausforderungen – wenn sie überhaupt noch stattfanden.  In einer Nacht reduzierte sich nahezu sämtliche Kommunikation auf Papier und SMS. Unnötig zu sagen, dass sämtliche Notizblöcke, Post-it-Zettel und Papierbögen sofort ausverkauft waren. Auf den Straßen sammelte sich weggeworfenes oder verlorenes Papier wie Laub im Herbst.

Die Fernsehsendungen dagegen waren in den ersten Tagen bizarr: Lauftexte und Warnmeldungen, die manchmal von Computerstimmen gesprochen wurden. Manche zeigten Notrufnummern, die sogar tatsächlich angerufen wurden, wo dann ein stummer Operator einen stummen Anrufer begrüßte. Dazwischen strahlte man Filme aus, als Zerstreuung und zur Beruhigung, wobei es heißt, dass den Adamsäpfels und Kehlköpfen der Schauspieler nie mehr soviel Aufmerksamkeit geschenkt wurde, wie an diesen Tagen.

Niemand wusste, wie man sich effektiv in dieser Krise zu helfen wusste, noch wie sie überhaupt entstanden war. Der Ungewissheit folgte Furcht und der Furcht die Panik. Der Planet erlebte ein Chaos, wie es kein Krieg, keine Hungersnot und keine Finanzkrise hätte schaffen können. Niemand starb; niemand wurde verletzt – die Menschen fanden sich nur plötzlich in einer völlig neuen Welt mit völlig anderen Gesetzen wieder.

Viele verzweifelten. Es konnte doch nicht sein, dass über Nacht wirklich jede Stimme erloschen war. Die Kinder waren besorgt und wandten sich an die Erwachsenen, die doch sonst alles wussten und konnten. Diese an die Politiker und diese wiederum an die Wissenschaftler, aber niemand hatte auch nur den Ansatz einer Lösung, sondern nur noch mehr Fragen.

Natürlich, flexibel wie die Menschen sind, entwickelten sie rasch wieder Tricks, um die plötzliche Krise zu überwinden: Das Fernsehen zeigte rund um die Uhr ausführlich illustrierte Leitfäden zum Erlernen der Gebärdensprache und Zeitungen gaben Tipps, wie man anderen Anweisungen und Warnungen ohne die Stimme geben kann. Per Flugzeug warfen die Regierungen Millionen von Infozetteln und Leitfäden ab. Der Unterricht setzte für mehr als einen Monat aus, um den Kindern die Grundlagen der Gebärdensprache einzuflößen. Von den Tausenden Eltern, die sich verzweifelt neben ihre Sprösslinge setzten, um mitzulernen, wollte später niemand reden. Um einen Zusammenbruch ihres Staates zu verhindern, verabschiedeten die verschiedenen Regierungen bald Pflichtkurse zum Erlernen der „Krisensprache“ oder „Übergangslösung“, wie man es vorerst nannte. „Ab jetzt Alltagssprache“ wäre ein besserer Name gewesen.

Die einzigen, die von der neuen Welt profitierten, waren die Taubstummen: Auf einmal sprach der ganze Planet eine Sprache, die sie verstehen konnten. Und die Welt der Blinden verkümmerte zur Unkenntlichkeit.

***

Waren die ersten Hürden überwunden, konzentrierte man sich auf die Suche nach dem Warum: Was hatte die Menschheit ihrer Stimmen beraubt? Und wie konnte man den Effekt umkehren? Millionen und Milliarden von Dollar und Dinaren, Rubel und Rupien, Yen und Yuan flossen in Forschungsprojekte, die dem Desaster auf den Grund gehen sollten. Das Phänomen der Spontanen Massenverstummung, mutitas populus – sobald es eine lateinische Bezeichnung hatte, würde man ihm schon auf den Grund gehen.

Man untersuchte die Luft – wenn etwas alle Menschen gleichzeitig die Stimme hatte nehmen können, dann muss es im Atemgas versteckt sein. Oder das Erdmagnetfeld! Das allgegenwärtige Magnetfeld, dem sich keiner entziehen konnte. Oder die Sonne! Eventuell hatten ihre Photonen eine seltsame Frequenz angenommen. Vielleicht das Wasser? Ja, vielleicht hatte sich etwas darin festgesetzt oder gebildet, war verdunstet und mit dem Regen zu jedem Ort des Planeten getragen worden. Der Übeltäter konnte sich bei so einer gewaltigen Tat nicht lange versteckt halten, so die Experten, und es wäre nur noch eine Frage der Zeit, bis man ihn finden und „überführen“ würde. Die Stimme, die man den Menschen so kaltherzig gestohlen hatte, würde man zurückholen. Das war keine Behauptung; das war ein Versprechen.

Das nie gehalten werden konnte.

Zu einem Ergebnis kam man nämlich nicht: Die Luft und das Magnetfeld, die Sonne und das Wasser, die Viren, die Mundflora und das menschliche Erbgut – alles war so, wie es schon immer gewesen ist. Außer die Menschen natürlich. Die waren offensichtlich verstummt.

Als diese schließlich erkannten, dass ihnen die Wissenschaft nicht die mehr als ersehnte Heilung bringen würde, wandten sie sich der Religion zu. Da gab es keine Empirie und keine Ausschlussverfahren, keine Monte-Carlo-Simulationen oder unangenehmen Fachwörter, sondern einfach nur Aussagen, die jeder verstehen konnte. Gott, behauptete so mancher Theologe des Abendlandes, habe den Menschen die Stimme, die sie nur zu Lüge und Schaden missbraucht hatten, einfach genommen. Als Strafe und als Prüfung. Selbstverständlich könne man sie auch zurückerhalten, wenn man nur wieder den einen wahren Pfad mit festem Glauben beschritt – was auch viele taten, auch wenn sie ihre Stimme trotzdem nie zurück bekamen. So oder so blieb es für die meisten ein Beweis für Gott oder wenigstens einen Gott, eben eine höhere Macht, die strafen kann.

Die Esoterik, die Religionsalternative aus Geisterbeschwörung, Aberglauben und Okkultem behauptete dagegen, der Mensch habe sich selbst die Stimme genommen und könne sie sich auch selbst wiedergeben, wenn man seine eigene Mitte fand. Natürlich konnte man diese Mitte nur finden, wenn man den Lehren der jeweiligen Esoteriker folgte … und wenn möglich, dafür Geld bezahlte. Es gab sogar diverse Bewegungen, die überzeugt erklärten, ihre Gründermitglieder könnten längst wieder sprechen, würden das allerdings nur vor dem Kern ihrer Anhängerschaft tun. Und natürlich auch nur diesem das Geheimnis anvertrauen.

Die tausendmal erzählte Geschichte erzählte sich einfach nur einmal mehr: Religionen behaupteten von sich, den Weg zur Erlösung zu kennen, auch wenn jetzt nicht mehr in den Himmel, sondern zur eigenen Stimme. Gerade einmal einige Zweige des Buddhismus überlegten aus ihrer Perspektive der Bescheidenheit, dass die Stimmen gegangen sein, da sie ohnehin nicht gebraucht worden waren. Aber das war eine Version, die keiner hören wollte.

Verschwörungstheorien machten die Runde: Im Internet ging man sogar einer neuartigen, amerikanischen Waffe aus, die Feindnationen stumm machen sollte, aber beim ersten Testlauf unterschätzt worden war. Eine Infraschallbombe mit ungeahnter Reichweite – so in der Art. Oder von einem Nanovirus, einem mikroskopisch kleinem Roboter, der irgendeinem Biotechnologiekonzern aus dem Labor entwischt war und sich in der Atmosphäre ungehemmt vermehrt hatte. Oder eine außerirdische Waffe; der erste, nahezu perfekte Schritt einer Invasion.

Selbstverständlich durften auch die Schuldzuweisungen nicht fehlen: Die Juden, das war das Werk der Juden und ihre Rache an der Welt, hieß aus der einen Ecke. Nein, die Amerikaner! Die sind die einzigen, die das Know-How dazu haben! Das waren die Japaner! Die Chinesen! Nur mit Hilfe der Russen! Wenn dann, die Moslems! Das sieht denen doch ähnlich! Und als jeder mit dem Finger auf jeden anderen zeigte, wurde der Welt bewusst, dass es keinen Täter zu finden gab; nur Opfer.

***

Anpassung folgte.

Zuerst veränderte sich das Wesen des Gesprächs an sich. Die Mensas, Cafés und Treffpunkte der Menschen wurden von einer unheimlichen Stille erfüllt, die nur von Stuhlrücken, Schritten oder Geräuschen von Geschirr unterbrochen werden konnte. Viele Details, die der Mensch sogar während einer Stille gewohnt war, verschwanden: Hustete jemand, so klang es eher wie ein Ringen um Luft, ein Räuspern gab es nicht mehr und ein Niesen hörte sich an, als würde jemand spucken und schnäuzen zugleich – so muss es sich anhören, wenn ein Lama zu früh kommt, witzelte ein Kabarettist.

Die Konferenzen wurden furchtbar still. Erzählte jemand, klebten alle Blicke an seinen Fingern. Interviews wurden im Fernsehen mit Untertiteln und Handzeichen geführt. Wo Menschen saßen, tauschte man Handzeichen aus. An öffentlichen Plätzen und Bahnen kam es regelrecht zu Bühnenspielen aus tanzenden Händen. Zum Schreien machte man das Handzeichen mit ausgestreckten Armen und wer flüstern wollte, tat es eher unmerklich oder halb aus dem Ärmel heraus. Kinder lernten ein simples Morsealphabet, um in der Schule tuscheln zu können. Eine Welt der Taubstummen sagte mein Großvater, als er mit ansehen musste, wie sich seine Kinder mit Handzeichen um ihr Erbe stritten.

Das Verständnis für Finger veränderte sich rasant: Sie wurden wichtig. Sie waren immer wichtig gewesen, aber jetzt wurden sie betrachtet, angestarrt und bewundert. Man pflegte sie, fast schon so, wie man früher seine Zähne gemacht hatte. Sogar für Männer galt es bald als unordentlich, wenn sie nicht wenigstens einen dezenten Nagellack für Kontrast verwendeten. Soziologen und Psychologen sprachen davon, wie die Finger den Mund in der sexuellen Symbolik ablösen würden. Es würde immer noch das Küssen geben, das laszive Lippenbeißen, allerdings könnten Begriffe wie ein sinnlicher Mund oder volle Lippen von einer grazilen Hand oder langen Fingern ersetzt werden. Eine sexuelle Revolution stünde an, warnten sie noch, bevor sie dann auch schon kam.

Was folgte, war die totale Transformation, eine vollständige Veränderung von von allem: Ohne Stimmen gab es keinen Gesang mehr, keine Vorlesungen, keine Hörspiele und auch keine Dialoge mehr im Film. Auf der Leinwand explodierten weiterhin Fahrzeuge und Schützengräben und Soldaten bewarfen sich weiterhin mit Feuerstößen und Granaten, schöne Frauen brachen in Tränen aus, doch alles geschah ohne das gesprochene Wort. Wo früher der Protagonist eine ausschweifende Mutrede vor seinen Männern gehalten hatte und der Romantiker der Angebetenen blumig seine Gefühle offenbarte, sprachen schon drei Jahre später die Hände hektische Zeichen.

Am schwersten traf es natürlich die Musik. Alle Sänger, ob jetzt Ikonen und Superstars, in kleinen Bands, Opern oder vor dem Badspiegel, waren verstummt. Viele verloren über Nacht ihre Lebensgrundlage, was so mancher mit der Theatralik beantwortete, die schon sein ganzes Leben ausgemacht hatte. Prominente Sänger begingen Selbstmord; zuerst aus Verzweiflung, später aus einem Art in Mode gekommenes Opfergeschenk an das Volk, Protest gegen den strafenden Gott oder wen auch immer. Am liebsten kollektiv mit Fans. Ein berühmter Gesellschaftskritiker schrieb dazu in seinem bissigem Stil: „Untalentierte, seelenlose Kommerzfiguren bringen sich reihenweise um und nehmen ihre Groupies gleich mit. Zu irgendetwas muss die Verstummung ja gut gewesen sein.

Die Musik veränderte sich jedoch so hastig und selbstverständlich wie ein Fluss, der durch einen aus Ästen gebauten Damm sickert. Der Gesang verschwand, während die Instrumente blieben und an Bedeutung gewannen. Innerhalb weniger Wochen nach der Verstummung wurden die Bands und Chöre zu kleinen Orchestern, die sich gegenseitig in der Zusammenstellung ihrer Ensembles überboten.

Die wildesten Kombinationen entstanden in dieser Zeit des Übergangs: Manche Gruppen vermischten Geigenklänge und Gitarrenlaute, erfolgreich, andere das Klavier und den Synthesizer, untermalt von Drumsticks; Kalypso und Jazz gaben sich die Hand, wie auch anderswo Trance und Rokoko. Was zuerst noch wie unidentifizierbarer Schlamm klang, kehrte bald als etwas Größeres, Schöneres zurück: Musik, die sich nur noch mit Klang erzählte. Liebe und Hass und die vielen anderen Momente des Lebens, die Musik zu interpretieren versucht hatte, wurden nun nicht mehr einfach ausgesprochen, sondern von Klängen in ihrer eigentlichen, ursprünglichen Natur interpretiert.

Ein großer Musiker der neuen Ära erzählte später einmal, dass die Verstummung den Menschen zwar geschadet, ihren Geschmack für Musik allerdings erweitert hätte. Es ist, als hätte man ihnen den Fernseher genommen, sagte er, und sie zum Buch zurückgezwungen.

Es brauchte nicht einmal ein Jahr, um die Musik wieder in Begriffen wie Mainstream, Underground und Alternative und Kommerz einzuordnen. Die Musiker blieben weiterhin Ikonen der jungen Generation oder Hassobjekte für besorgte Eltern. Sie trugen weiterhin ausgefallene oder ausgefallen provokante Kleidungen und hatten weiterhin ihre Skandale.

***

Zeit verging.

Ein Tag wurde zum anderen, ein Jahr zum nächsten und die Menschen passten sich an.

Sie lernten, mit ihrer Stummheit zu leben. Manche mühsamer als andere. Manche auch gar nicht. Depressionen, Panikattacken und Zusammenbrüche waren für viele ein Übergang in die neue Welt. Selbstmord ein Ausgang.

Zehn Jahre nach der Verstummung kehrten auch die Geräusche wieder in die Mensas und Hallen zurück. Es gab keine Wand aus Dutzenden gleichzeitig geführten Gesprächen mehr, dafür aber eine Kulisse aus Haut, die über Haut streicht, wenn Finger und Handflächen die neue Sprache der Welt sprachen. Die Diskussionen wurden genauso angeregt geführt, genauso fieberhaft, beleidigend und berührend und genauso häufig. An die Stille, die der Mensch sonst nur aus dem Schweigen kennt, gewöhnte man sich schnell. Und statt Lautsprechern und einem Mikrofon, installierte man einen riesigen Bildschirm auf dem die Hände des Sprechers in Überlebensgröße dargestellt wurden.

Nach zwanzig Jahren entwickelte sich in den Universitäten die Schule der Voxologie, eine Form der Philosophie, die sich ausschließlich mit dem Verschwinden der Stimme beschäftigte. Es gab für sie Lehrstühle und Professoren, Wissenschaftler und Studenten, die sich nur einschrieben, um an ein günstiges Monatsticket für die Bahn zu kommen, während sie tatsächlich schon arbeiteten. Aber so sehr dieser Wandel, der Tod des gesprochenen Wortes, die ganze Menschheit auch getroffen hatte, wurden diese Lehren dennoch schnell zu einem Orchideenfach, das mit jedem Jahr weniger Studenten fand.

Nach dreißig Jahren sprach man offiziell davon, sich sofort in ihre oder seine Hände verliebt zu haben. Die Hände verwandelten sich von wenig beachteten Manipulatororganen zu Symbolen der Seele und Sinnlichkeit, fast wie es die Augen sind und der Mund einmal gewesen waren. Zudem kristallisierte sich mehr und mehr eine Sexualpraktik heraus, die man den Manussex nannte – das Liebesspiel mit vor allem den Händen, das es zwar schon vor der Verstummung gab, aber nun einen ganz neuen Wert erlangte. Gleichzeitig erschienen die ersten Theorien von der Lüge der Stimme, die damals aber in etwa so ernst genommen wurden, wie die gefälschte Mondlandung.

Vierzig Jahre vergingen und die Filme mit Handzeichen verdrängten die letzten mit gesprochenen Worten auf die eher unbekannten Sender.

Die Verstummung lag auf einmal fünfzig Jahre zurück, dann sechzig, dann siebzig und mit einem Mal eine ganze Generation.

***

Erinnerungen verblassen, sagte mein Großvater einmal.

Es spielt keine Rolle, wie sehr etwas Erlebtes geschmerzt, beeindruckt oder fasziniert hat. Am Ende verblasst die Erinnerung, bis sie sich irgendwann völlig auflöst oder unförmig verschwommen wird.

So war es auch mit der Stimme. Wer das Sprechen noch gekannt hatte, wurde alt. Seine Kinder wurden mit der Gebärdensprache aufgezogen und erlernten sie als ganz normales Mittel der Kommunikation, das sie so auch an wieder ihre Kinder weitergaben. Für sie war der Mund nur ein Organ, mit man dem Körper Nahrung zuführen konnte. Mit dem man atmete, wenn die Nase verstopft war. Man konnte damit lächeln, schmecken, die Zähne fletschen oder sich küssen, aber alles in allem war er nur ein Aufnahmeorgan. Wenn jemand etwas zu sagen hatte, machte er das mit den Händen. Alles, was jemals aus einem Mund kam, waren Kohlendioxid, Rülpser und Erbrochenes.

Natürlich erzählten die Eltern und Großeltern noch oft von den Stimmen, aber für die kommenden Generationen war das eben wie ein Krieg, den man nie erlebt hatte – eine Geschichte, von der alle behaupteten, sie wäre wirklich passiert.

Als das wurde sie bald auch gesehen: Eine Geschichte, mit sehr zweifelhaftem Wahrheitsgehalt. In den Augen der neuen Ära hatten die Flusshändler in Babylon mit hektischen Handzeichen gefeilscht und die Pharaonen im alten Ägypten ihre Heere mit der Zeichensprache geführt. Warum, so behauptete eine Fernsehdoku einmal, sollten sie sonst diesen seltsamen Krummstab getragen haben, wenn nicht um ihre Heerscharen damit flexibel zu befehligen? Die Soldaten an der Normandie hatten sich nicht Klänge zugerülpst, sondern gezielt mit militärischen Handzeichen koordiniert, so wie die modernen Sonderkommandos bei der Polizei. Sowieso hätten sie unter dem Donner der Granaten kaum ein Wort verstehen können! Und Seneca hatte sich nicht mit Grunzlauten aus dem Mund vor Kaiser Nero gegen die Vorwürfe des Verrats verteidigt, sondern mit einem gut überlegten, anmutig geführten Handzeichentanz.

Solche Neuinterpretationen der Geschichte fanden sich über die Jahre oft: Das gesprochene Wort und ihr plötzliches, fast göttlich eingeleitetes Ende habe es nie gegeben. Sie sei ein Mythos, ein unbelegbarer Glaube, den eine moderne Gesellschaft ablegen muss wie die Religion.

Selbstverständlich glaubte man wie immer zuerst denen, die ihre Thesen mit den reißerischsten Worten und Kolumnen zu erzählen wussten, als den Historikern und ausgiebig recherchierten Quellen. Das ist eine typisch menschliche Eigenschaft, sagte Großvater gern: Der, der am meisten mit den Händen fuchtelt, hat Recht.

***

Alltag.

Direkt nach Feierabend. Und morgen ist Wochenende.

Im Fernsehen läuft ein aufgezeichnetes Interview mit einem Hetzredner des Nahen Ostens. Er zeichelt in seiner Sprache die üblichen Worte, die man schon oft genug gesehen hat: Der Westen sei dekadent und sündig. Er wird gereinigt werden, bla, bla, bla. Haltlose Drohungen und hirnlose Hasspredigen. Interessiert mich nicht. Hat es noch nie.

Ich schalte weiter. Eine Talkshow: Klischeegestalten der unteren Bildungsschicht bombardieren sich mit Vorwürfen oder Selbstbeweihräucherungen. Sie tauschen so wahnsinnig schnell ungeschickte Handzeichen aus, dass ich mich direkt wundere, wie sie den anderen noch verstehen können. Als ein Rentner und eine übergewichtige Teenagerin mit verstörtem Blick ihre gegenseitige Liebe vor dem entsetzen Publikum verteidigen, schalte ich aus.

Mit jedem Jahr, das ich älter werde, frage ich mich, warum ich überhaupt noch einen Fernseher besitze. Wenn ich die Nachrichten oder einen Spielfilm sehen will, schaue ich ihn mir im Internet an, ohne Werbepausen, und alles, was der Fernseher sonst bietet, ist kaum zu ertragen.

Jetzt jedenfalls habe ich etwas Zeit übrig und könnte weiter im Ratenvertrag für mein neues Auto lesen, den ich am besten bis Mittwoch unterschrieben haben sollte, aber dazu fehlt mir irgendwie gerade die Lust.

Ich nehme mir das Magazin vom Couchtisch. Darin steht nur wenig Interessantes: Ein Interview mit irgendeinem Prominenten, von dem ich noch nie gehört habe und ein Bericht über die Gewalt in China. Eine kurze Glosse über Sprechschmuck aus Birma. Werbung für Hautpflegeprodukte.

Eine Autorin schreibt über eine Doppelseite eine ganz interessante Kurzgeschichte: Ein Jugendlicher erfährt in einem Traum, eher in einer göttlichen Vision von einem einzigen Handzeichen, das andere Menschen sofort in gefügige Sklaven verwandelt. Er zeichelt es seiner Angebeteten, die ihm bisher nur Körbe gab und sie gehört ihm. Er zeichelt es seinen Feinden, bald auch seinen Freunden, seinen Eltern, den Lehrern und irgendwann jeder Person, die er trifft. Von der Herrschsucht angetrieben, sammelt er eine riesige Anhängerschar und dann, als ihm schließlich die ganze Welt gehört, erkennt er, dass der wahre Reiz an der Bewunderung darin liegt, dass man sie sich hart erarbeiten muss. Geschenkt schmeckt sie fad. Und noch bevor er diese Erkenntnis wirklich verstehen kann, wird er von den Blinden ermordet, die gegen sein Zeichen immun sind.

Die Moral der Geschichte ist mir zu weit hergeholt und zu naiv, aber mir gefällt der Gedanke von dem Handzeichen, das so mächtig ist, dass es Menschen sofort verändern kann. Ich weiß jetzt schon, dass ich mir darüber noch oft Gedanken machen werde. Und dass man mir sagen wird, dass ich mir nicht wegen jeder Kleinigkeit Gedanken machen soll.

Ich lege das Magazin gerade aus der Hand, um nach meinem Smartphone zu greifen, da klingelt es an der Tür.

***

Am Abend gehe ich mit meiner Freundin aus.

Oder darf ich sie überhaupt schon so nennen? Wir treffen uns regelmäßig, schlafen miteinander, treten gemeinsam vor Freunden auf, daten uns aber noch keine drei Monate. Und bis dahin soll man ja nicht von einer Beziehung sprechen, um sich nicht verletzbar zu machen oder was auch immer.

Heute erzählt sie mir von ihrer Woche in Erlangen. Ich mag es, wenn sie erzählt. Sie hat so eine sprühende Art, mit der sie so lebhaft und farbenfroh wie kaum eine andere Frau handzeicheln kann. Ganz besonders warte ich immer darauf, dass sie sarkastisch wird und alles nur noch aus einer überzogenen, spöttelnden Sichtweise erklärt. Ich muss dann oft grinsen … und daran denken, dass man früher angeblich laut lachen konnte.

Am Tag darauf gehen wir spazieren. Dabei zeicheln wir nur selten. Unser allwochenendlicher Spaziergang ist mehr so etwas wie Meditation: Jeder versinkt in seinen eigenen Gedanken, während wir schweigend Hand in Hand durch die herbstlichen Parks dieses doch recht warmen Oktobers wandern. Auch ein fester Teil unserer Vor-Beziehungs-Routine.

Doch diesmal treffen wir Rainer und seine ebenso neue Freundin Silke. Sie haben sich vor einigen Wochen einen Hund gekauft, einen fast schwarzen Rauhaardackel-Mischling, der anscheinend nur Bellen und Kacken kann. Und während er alle Befehle seiner Besitzer ignoriert und den Wegrand zuscheißt, kommen wir zwei Pärchen auf ein interessantes Zeichelthema: Wieso können Hunde bellen, Ziegen blöken und Vögel zwitschern, Menschen allerdings gar nichts in dieser Art?

Rainer, der gerne klüger ist als seine Mitmenschen, weiß eine Antwort. Hastig und ganz offen erfreut, dass er wieder einmal mehr weiß, als wir anderen zeichelt er: „Der Trick sind sogenannte Stimmbänder oder Stimmlippen, die im Hals oder in der Kehle sitzen. Das –

Die können Geräusche erzeugen“, unterbricht ihn meine Freundin, „Soviel weiß ich aus ´ner Doku, die vor ´nem guten Monat im Regionalen lief.

Der Mensch selbst hat auch Stimmbänder, nur sind seine derart verkümmert, dass sie zum letzten Mal vor vielen Jahrhunderttausenden, lange vor der Steinzeit, benutzt worden sind. Die Stimme des Menschen verschwand wahrscheinlich irgendwann im Laufe seiner Entwicklung – zum Überleben war sie ja dank der Handzeichensprache anscheinend nicht notwendig.

Und nun folgte wie immer die Moral seiner Geschichte: „Das ist es auch, was die Menschen und Tiere unterscheidet: Die einen rülpsen und singen sich Laute zu – die anderen haben dazu ihre Hände. Sowieso wär’s doch mit Rülpslauten gar nicht möglich, so komplexe Bedeutungen wiedergeben, die für Wörter und Sätze nötig sind.

Die Geschichte meines Großvaters verkneife ich mir. Damit würde ich nur maßregelnde Blicke ernten.

***

Ich weiß nicht, ob die Erzählung aus meiner Kindheit wahr ist. Immer wen ich ihn danach fragte, antwortete er entweder nicht oder sagte, ich müsse das für mich selbst entscheiden. Ein einziges Mal, wir waren beide älter und er durch Rückschläge und Krankheit zu einem resignierenden Schatten geworden, da sagte er, dass es doch keine Rolle spiele, ob sie wahr sei.

Und er hatte Recht.

Denn inzwischen war es so, als hätte es die Stimmen nie gegeben.

– Maex, 2006

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