Der Sukkubus

Maximilian Wust - Der Sukkubus

Der Sukkubus
Eine Erotik-Studie von Maximilian Wust



Der Sukkubus ist meine allererste, selbstgeschriebene Sexszene. Zu Papier gebrachte Kopulation, nach Möglichkeit auch noch genießbar, gehörte schon immer zu meinen absoluten Schwachpunkten, so dass ich sie stets von einer Freundin schreiben ließ, einer außerordentlich begabten Drama- und Romantik-Autorin, plus mehrfache Wettbewerbsgewinnerin. Erst 2006 wagte ich mich wieder daran, das Thema Sex einmal selbst in Worte zu fassen. Woran es bei mir bis heute scheitert, kann man in folgendem Text vermutlich ganz gut erkennen: Ich würde sogar versuchen, einen Porno mit einer Prämisse auszustopfen.


SIE WAR ZU schön.

Rotes, wallendes Haar, das wie flüssiges Kupfer von ihren Schultern fiel, blasse Haut und die schönsten Augen, türkisblau wie ein wolkenfreier Himmel, in die Ernest je geblickt hatte. Ihr Körper wirkte sogar noch unter dem dicken Regenmantel berauschend und über alle Maßen reizvoll. Ernest brauchte ihn nur anzusehen und seine Gedanken kreisten nur noch darum, wie er wohl enthüllt aussah und wie es wohl wäre, sich mit seinem daraufzulegen. Sie war viel zu schön für einen unscheinbares Muttersöhnchen wie ihn. Das verstand er schon im allerersten Augenblick.

Es war einer von diesen Herbsttagen, typisch für Leicester, die den Sommer mit endlosen Regenfällen beweinen. Die Wassermassen verwandelten das rostrote Laubgestöber auf den Straßen in bräunlichen Matsch und gaben den Städtern nur noch einen Grund mehr, wieder mürrisch zu sein. An so einem Tag wäre Ernest eigentlich daheim geblieben, wie bei jedem Wetter und hätte weiter an seinen Fliegermodellen gebaut, hätte ihn nicht tatsächlich seine Mutter aus seiner Wohnung gejagt. Ein Mann Ende Dreißig solle gefälligst nicht nur herumsitzen, schimpfte sie, stopfte seine Wäsche in die Waschmaschine und schickte ihn durch das Unwetter in den nächsten Pub.

Dort plante Ernest sich in eine Ecke zu setzen, Nachos mit Käse und ein Bier zu bestellen und sein Buch zu lesen, bis seine Mutter die Wäsche und sich aus dem Staub gemacht hätte. Eine Stunde vielleicht, dann wäre Ernest wieder zurück an seinen Stukas, Spitfires, Lockheeds und Hellcats. So traurig es klingt, das war nicht nur sein Plan für den Abend, sondern eigentlich für das nächste Jahrzehnt – bis sein ganzes Arbeitszimmers wie ein Luftkampf vor der französischen Küste gewirkt hätte. Hätte sich nicht diese betäubend schöne Frau ihm gegenüber gesetzt.

„Ein neues Gesicht“, bemerkte sie mit der Art schöner Frauen, die sich ihrem Aussehen mehr als bewusst sind. „Sie sehen mir so aus, als könnten Sie Gesellschaft gebrauchen.“

Ernest schnaubte. Die Jahre der weiblichen Ablehnung hatten ihn nicht nur misstrauisch gemacht, sondern auch noch darin bestätigt. Er musterte noch einmal die Frau, die er unter keinen Umständen haben würde, sammelte sich und sagte das eine Wort, das er im Leben viel zu selten von sich gegeben hatte: „Nein.“

Sie sah auf.

„Nein, ich werde Ihnen keinen Drink spendieren. Ich weiß nicht, was Sie beweisen wollen, ob Sie eine Wette verloren haben, neugierig sind, wie der hässliche Einzelgänger da reagiert oder mit einer Freundin ein Spielchen spielen. Es interessiert mich auch nicht! Also nein, ich werde Ihnen keinen Drink spendieren!“

Die Schönheit nickte. „Das sind Sie also: Jemand, der ans Leben keine Anforderungen hatte und trotzdem enttäuscht wurde. Darf ich Ihnen denn einen Drink spendieren?“

„Gehen Sie einfach!“

„Was ist, wenn ich Ihnen sage, dass ich weiß, was mich bei jedem Mann hier erwartet, außer eben bei Ihnen?“

Ernest seufzte.

Die Schönheit begann zu erklären: „Die Männer da am Stammtisch sind allesamt verheiratet, aber schon lange nicht mehr glücklich. Jeder würde mich für eine Nacht oder gleich für immer als Geliebte nehmen. Schlimmer noch: Drei Pints und sie würden mich darum anflehen, sie mit Sex oder per Blitzhochzeit aus ihrer sinnentleerten Existenz zu befreien! Dann der Typ da an der Bar, die Schmalzlocke mit der Lederjacke: Er sieht sich selbst als Frauenheld und hat wahrscheinlich schon so einige Dummerchen in die Horizontale gebracht. Würde ich auf ihn zugehen, wäre er zuerst eingeschüchtert, bevor er es einmal mehr mit seiner Masche versucht – weil er schon gar nicht mehr weiß, wie man sonst mit Frauen spricht. Der Student da ganz hinten würde versuchen, mich mit augenscheinlichen Errungenschaften zu beeindrucken, mit Weltgewandtheit, dass er zum Beispiel auf dem Machu Picchu war oder ein Praktikum in einer Agentur in New York gemacht hat, während er mir Photos von sich und seinem besten Freund zeigt, wie sie in den Pyrenäen Downhill gefahren sind. Habe ich alles schon gesehen, gehört und erlebt und das sehr oft. Ganz im Gegensatz –“

„Worauf wollen Sie hinaus?“

„Ganz im Gegensatz“, wiederholte die Schönheit und fuhr unvermittelt fort, „zu Ihnen. Ihr Carostreifenhemd und dazu diese Strickweste beweisen mir, dass Sie wirklich niemanden mehr beeindrucken wollen. Nicht einmal mehr sich selbst. Also ja, ich bin neugierig geworden, wer sich dahinter verbirgt.“

Ernest war beinah versucht, das Buch beiseite zu legen. Er behielt es aber trotzdem aufgeschlagen in den Händen, wie einen Schild, hinter dem er sich vor der Welt verstecken konnte. „Dann will ich Sie mal enttäuschen: Ich bin hier, weil mich meine Mutter – die für mich immer noch die Wäsche macht – aus meiner eigenen Wohnung geworfen hat, damit ich nicht nur drinnen an meinen Spielzeugmodellen herumsitze. Ich mache keinen Sport, verreise nie und meine letzte Beziehungspartnerin verließ mich vor acht Jahren, da ich – Originalzitat – über kein bisschen Persönlichkeit verfüge und in meiner sonstigen Freizeit lese ich Lektüre, die sogar die größten Langweiler als langweilig empfinden.“

Sie lächelte. Ein unglaublich sympathisches, reizvolles Lächeln, das sie auf Titelseiten namhafter Magazine hätte bringen können. Sie sagte: „Aber ein – lassen Sie mich raten – Programmierer wie Sie sollte doch ausreichend verdienen, um ein wenig attraktiv sein zu können.“

„Ich programmiere Assembler. Das wird Ihnen nichts sagen, aber damit lassen sich garantiert keine Juwelen oder schönen Reisen finanzieren, falls Sie auf jemanden mit Geld gehofft haben.“

„Die Sprache hinter allen Sprachen.“

Ernest zögerte. „Wie meinen?“

„Assembler ist die Ursprache der Programmierer, der früheste aller Codes auf dem alle höheren Programmiersprachen aufbauen. Es gäbe kein C++, kein PHP und kein … Lisp ohne Assembler. Bildlich gesprochen würde ich es mit Stimmbändern vergleichen. Worte, Sätze und Dialoge sind nur Erzeugnisse, die ohne nicht möglich wären. Habe ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit?“

„Lisp kennt eigentlich niemand …“, bemerkte Ernest mehr für sich selbst. „Was wollen Sie von mir?“

Sie lehnte sich zu ihm herüber. Ihre Haare, makelloses Kupfer, umspielten ihr Gesicht, ihre Augen schienen beinah zu glühen und der Mantel wie von selbst einen Ausschnitt zu öffnen. Perfekte, weiße Brüste wölbten sich Ernest entgegen. „Ich will Sex“, verkündete sie. „Nicht mit einem Familienvater vom Stammtisch, dessen Ehe ich damit in Gefahr bringe und auch nicht mit einem Aufreißer in Lederjacke auf Trophäenjagd, sondern ehrlichen, dankbaren Sex mit einem Mann wie Ihnen. Ich brauche niemanden, der mich als Selbstbestätigung sieht, sondern – und ja, da plane ich wirklich, Sie auszunutzen – jemanden, der durch und durch dankbar ist und gar nicht erst versucht, mich in irgendeinster Weise zu beeindrucken. Jemand, der jede meiner Berührung wie das Geschenk von einer Göttin sieht. Das ist mein kranker Fetisch, wenn Sie so wollen.“

Ernests Lippen bebten. In ihm herrschte zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder Chaos. Das mit dem Sex meinte sie wirklich ernst, das wusste er, aber trotzdem konnte er nicht einfach so Ja sagen. Schlimmer noch, aus der Tiefe seiner Instinkte warnte auf einmal etwas vor einer dringenden Gefahr. „Was wollen Sie von mir?“, fragte der schüchterne Programmierer noch einmal und schluckte.

Anima – so stellte sie sich später vor: als Anima Comedentis, Ex-Frau eines griechischen Yachthändlers, daher der Name – antwortete nicht mit Worten. Sie schenkte ihm ein verschmitztes Grinsen, lehnte sich vor und gab Ernest einen tiefen Einblick. Unter dem Mantel verbarg sich nur eine dünne Bluse und darunter gab es nichts, keinen BH, außer schmiedeeisernen Brüsten. Rosenfarbene Knospen auf weißem Gebirge.

***

Ernests Mutter hatte sich glücklicherweise wieder verzogen und die nasse Wäsche auf dem Wäscheständer auf dem Balkon hinterlassen, da stolperten Ernest und Anima die Schöne küssend in seine kleine Altbauwohnung. Hier gab es keine Deko und sowieso keinerlei weiblichen Einfluss. Alles, von der Matratze über dem Schreibtisch bis zu den beigefarbenen Vorhängen im Fernsehzimmer, war ausschließlich zweckmäßig.

Und das einzig schöne hier war nun Anima mit der kupferfarbenen Mähne. Ernest küsste sie so heftig und stürmisch, als könne sie sich jeden Augenblick auflösen, ertastete jeden Zentimeter ihres Körpers, den er durch den Regenmantel hindurch spüren konnte und verhielt sich ohnehin, wie der ausgehungerte Jugendliche, der er auch war.

Schließlich drückte sie ihn sanft von sich weg, öffnete ihren Mantel und war nackt. Von einem Moment auf den nächsten. Ernest schien es, als würde sie gleich dazu mit unsichtbaren Händen die Bluse und die enge Hose abstreifen. Was da plötzlich vor ihm stand, war ein weißer Engel der Ekstase. Das perfekte Gesicht, markant und bildhübsch, der perfekte Körper mit außergewöhnlichen Kurven, fast schneeweiße Haut, kupferfarbenes Haar; perfekte, weiße Brüste mit rosenrotem Gehöft und ein rotblondes Dreieck zwischen Tänzerinnenbeinen aus Elfenbein – Anima war die schönste Frau, die Ernest je gesehen hatte. Ihr Äußeres stellte jeden Filmstar, jedes Supermodel und jedes Promiluder in den Schatten. Vor noch tausend Jahren hätte man um ihretwillen Kriege geführt …

Es dauerte kaum einen Atemzug, bis sich Ernest auch aus seinen Sachen gekämpft hatte. Sie waren jetzt überflüssig. Alles, was nicht mit dieser Frau zu tun hatte, war überflüssig.

Er stürzte sich auf sie. Seine Hände tasteten über und griffen gierig nach ihrem Körper, der wie aus weißem Glas geschmiedet schien. Sie wanderten über perfekte Proportionen, während er sie auf sein kleines Bett legte, über einem endlosen Busen, in dem seine Finger regelrecht versinken konnten, an einem stählernen Becken entlang und hinab in den einladend feuchten Schoß. Schon im nächsten Moment drang er in sie ein. Langsam und schüchtern, aber trotzdem gierig und unaufhaltsam fuhr er in diese Fleisch gewordene Göttin. Bis zum Anschlag. Bis der allerletzte Millimeter in dieser feuchten, warmen, wundersamen Höhle verschwunden war.

Bevor sein letztes Bisschen Verstand in einem Feuerwerk verschwand.

Martha, Ernests erste, richtige, richtig weil mit Sex Freundin war dick gewesen – dick und unzufrieden mit sich selbst. Sie versteckte sich vor ihm, sogar während er mit ihr schlief und machte das Liebesspiel zu einem bizarren Kampf. Sylvia, seine zweite und letzte Beziehung, zeigte sich dagegen vertrocknet. Im Bett war sie frigide, ein Stück Treibholz und unbeteiligt. Ernest hatte stets das Gefühl gehabt, mit einer Prostituierten zu schlafen, die er über alle Maßen anwiderte. Anima dagegen war ein wahr gewordener Traum und noch mehr.

Wie sie stöhnte! Wild, anfeuernd und animalisch und trotzdem wie ein Gesang, den sie monatelang einstudiert hatte. Und wie sie sich bewegte! Diese Schönheit aus Elfenbein konterte seine Stöße. Stieß er zu, stieß sie ihr Becken gegen seins und ihn nur noch tiefer in sich hinein. Dazu noch schien jede seiner Bewegung durch ihren ganzen Körper fahren. Als wäre sein Schwanz einen Meter lang. Wurde er fordernd, biss sie sich sogar auf die vollen, roten Lippen.

Und wie sie sich anfühlte! Als hätte man ihren Schoß aus Bronze gegossen. Als hätte ihre Vagina keinen anderen Zweck, als Männer zum Höhepunkt zu bringen.

„Ernest! Oh Gott, Ernest“, stieß sie zwischen den Stößen aus. „Hör nicht auf! Nicht aufhören! Du gehörst mir!“

„Ich gehöre dir!“

„Oh Gott, ja! Sag, dass du mich liebst!“

„Ich liebe dich!“

„Ich will, dass du mich liebst!“

„Ich liebe dich!“

Sie fickte ihn.

„Ich liebe deinen Schwanz, Ernest!“

Geistig wie körperlich.

„Ich liebe dich, Ernest!“

Er wurde gefickt.

„Ich liebe dich!“

Endlos, pausenlos. Eine gefühlte Stunde und länger.

Auf einmal kam er, viel zu plötzlich und viel zu gewaltig. Der Orgasmus – der Orgasmus aller Orgasmen – jagte wie ein Blitzschlag durch seinen ganzen Körper, vernichtete alles, was Jahrzehnte der sexuellen Frustrationen aufgebaut hatten und ließ ihn beinah ersticken. Er sang. Ohne es zu wollen, summte er, während sich Anima noch weiter bewegte und ihn fast in die Bewusstlosigkeit schickte.

***

Zitternd, schwitzend, keuchend und mit Tränen in den Augen fiel er neben ihr in die Matratze und griff nach dem Laken und dem Kissen. Irgendetwas, woran er sich festhalten konnte, um irgendwie in der Realität zu bleiben. Es dauerte tatsächlich ein paar Sekunden, bevor der Schwindel nachließ.

Anima schien aber noch lange nicht genug zu haben. Sie wischte sich mit einer ganzen Packung Taschentücher ab, wahnsinnig flink und ganz nebenher auch noch ihn und verschluckte auch schon seinen Penis. Anders ließ es sich nicht beschreiben. Ernest vergaß für einen Augenblick das Atmen. Sie saugte. Sie zerrte und saugte und wenn das nicht reichte, fuhr sie mit der Zunge über seine Hoden. Eine Minute später war er wieder bereit, im nächsten Moment saß sie wieder auf ihm und verfütterte Seinen an Ihre.

Hüpfende Brüste, darauf rote Brustwarzen wie Feuerbälle; Kupfer, das sie wie Funkengestöber umfließt; ekstatische Erschütterungen, regelmäßig und unbezwingbar. Wunderschöne Augen, die seine Seele trinken. Ein Dämon der Lust. Das war alles, woran sich Ernest später erinnern konnte.

Für ihn war es, als würde er in einer endlosen See aus Ekstase ertrinken.

Wilde Triebe, die reich genährt werden, dann eine ultimative Klarheit, dann Erlösung.

***

Erst als er am nächsten Morgen aufwachte, verstand er, dass er irgendwie eingeschlafen musste. Aber auch, dass er niemals herausfinden würde, wie und wann dieser Superkrieg, das Normalsterbliche Sex nennen würden, zu Ende gegangen war. Die Sonne schickte bereits ihre ersten Strahlen durch Ernests dünne, potthässliche Jalousien und der Digitalwecker schrieb eine Zahl, die unheilig weit von jeder leichten Verspätung entfernt lag.

Das wurde ihm bewusst, dass er kein Kondom benutzt hatte. Anima konnte alle möglichen Geschlechtskrankheiten haben, das reinste Seuchenloch sein, mit Gewalt schwanger werden wollen oder –

Ihre Hand tastete sich sanft über seine Brust und heftete sich an seine Schulter. Anima lag in seinem Arm und drückte sich an ihn.

So gnadenlos wie sie ficken konnte, so liebevoll und wärmebedürftig schmiegte sie sich danach an ihn. Keine Frau hatte ihm jemals das Gefühl gegeben, so sehr begehrt und geliebt zu werden. Und keine würde es jemals wieder tun …

Ernest gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie wachte auf.

Natürlich gelang ihr das auch nicht, ohne ein Naturschauspiel zu sein: Zu sehen, wie sich ihre Augen öffneten, wie die zartblassen Lider türkisblaue, kristalline Brunnen freigaben und sie wie Sonnen aus Eis aufgehen ließen, ließ Ernest einen Moment erstarren.

„Ich liebe diesen Blick“, sang ihre sirenenhafte Stimme.

Er wusste nicht, was er darauf antworten sollte.

„Und du liebst mich, nicht wahr?“

„Von Liebe würde ich noch nicht –“

„Ich sehe es in deinen Augen“, bemerkte sie und drehte sich auf den Rücken. Perfekt geformte, wie aus Elfenbein gegossene Brüste glitten sanft unter der Decke hervor. Ihr Schwanenhals schmeichelte seinem linken Arm. „Du liebst mich.“

„Ich habe immer noch das Gefühl, hier auf einen ganz miesen Streich reingefallen zu sein.“

„Dass ich mein wahres Ich noch zeigen werde?“ Sie lächelte. Schlimmer, sie grinste. Ein böses, fast dämonisches Grinsen. „Damit hättest du nämlich Recht.“

Ernest starrte sie einen Moment lang. Seine Augen tasteten sich über ihren perfekt geformten Mund. „Ich verstehe nicht.“

„Sei mir nicht böse, Ernest. Du hast immerhin das bekommen, wofür ein Geschäftsmann einmal vergeblich hunderttausend Dollar geboten hat.“

„Es war nur Sex?“

„Um Gottes Willen, nein!“ Sie legte sich auf den Bauch und schmiegte sich wieder an Ernest. Ihre harten Brustwarzen fühlten sich wie Kirschkerne an. „Weißt du, ich stehle gerne Seelen.“ Kirschkerne auf seiner Brust. So wie gestern Nacht. „So wie nun deine.“

Ihre Weiblichkeit rieb an seinen Schenkeln. Ernest sog beißend Luft ein.

„Als ich 19 war, finanzierte ich mir mein Leben, indem ich babysitten ging. Ein reiches Ehepaar, er ein Vertriebsleiter bei IBM, zwei kleine Töchter und einen dreizehnjährigen Sohn, der mich jedes Mal mit einem Hundeblick begrüßte. Er hätte alles getan, um mich nur einmal in Unterwäsche zu sehen.“

Ihre Hand fand sein Glied. Er musste sich zurückhalten, um nicht sofort zu kommen. „Ich ließ seine feuchten Träume wahr werden, aus einer Laune heraus. Ich denke, ich wollte schon immer einen halben Buben verderben. Wenn seine Schwestern schliefen, tobte ich mit ihm und als diese kleine Affäre endete bekam ich etwas, von dem ich bis dahin noch gar nicht gewusst hatte, dass ich es brauche: Seine Seele.“

Anima wälzte sich auf Ernest und musste nur mit ihrem Geschlecht an seinem reiben.

„Er gehört mir. Bis heute sucht er sich nur Frauen, die mir äußerlich ähnlich sind und bis heute schafft es keine, das zu sein.“

Er kam sofort. Sie lächelte erfüllt.

„Ich werde jetzt gehen, Ernest. Ich würde gerne noch etwas länger bleiben, aber ich habe um 13 Uhr ein Meeting, draußen in Loughborough und danach muss ich wieder in die Staaten. Wir werden uns wahrscheinlich nicht wiedersehen“, sagte sie, setzte sich auf und begann sich genauso automatisch anzuziehen, wie noch am Abend zuvor aus. So als hätte sie es geübt. Oder schon tausendmal gemacht.

„Unsere Nacht gestern – sie war phänomenal, eine meiner Besten – wird dich verändern. Das ist der Blick, den ich so liebe! Sobald ich durch diese Tür gegangen bin, wirst du dein ganzes Leben danach ausrichten, die Lücke zu füllen, die ich in dir hinterlassen habe.“ Sie verschloss den Mantel und strich ihn mit einer Handbewegung glatt. Sogar ihre Haare schienen sich wie von selbst wieder herzurichten.

„Aber es wird dir nie gelingen“, bemerkte sie kichernd. Kichernd! „Keine Frau wird jemals mit mir mithalten können. Du gehörst mir! Genau wie die anderen. Für immer!“

Zum Schluss legte sie ihre Armbanduhr wieder an – das Klicken des Verschlusses hatte etwas von einem Siegel – und nickte zum Abschied. „Leb wohl, Ernest aus Leicester! Genieß dein neues Leben“, sagte sie noch und verschwand durch die Tür.

Ernest blieb liegen und erst eine Stunde später gelang es ihm, sich überhaupt aufzurichten.

***

In einem Punkt behielt Anima sehr bald Recht: Er wollte sie wieder haben. Oder eine wie sie.

Was er dafür auf sich nahm, konnte er bald selbst nicht mehr erklären. Er trainierte, erst einmal, dann viermal die Woche, über Jahre. Er strampelte sich auf Laufbändern und Steppern die Wampe weg und stemmte sich monatelang Brust- und Bizepspolster auf der Hantelbank. Er lief im Winter durch den Wald und kleidete sich bald schon neu ein, mit guten, teuren Sachen. Seine Mutter gratulierte ihm, als sie seine Modellfliegersammlung im Müll fand und er scheinbar übernacht zur stattlichen Erscheinung geworden. Im Spiegel schien es, als würde er sich verjüngen. Manchmal glaubte er sogar, seine Haare hätten wieder Farbe zurückbekommen.

Ein Jahr nach der Begegnung mit Anima brachte er den ersten Ersatzversuch nach Hause: Ein schüchternes, junges Ding, Mitte Zwanzig, von den Freundinnen mit ins Fitnessstudio gezwungen. Er schlief mit ihr und rief sie nie wieder an, als sie weder im Bett kämpfte, noch wusste, dass die Sonne auch nur ein Stern ist – beziehungsweise, alle Sterne Sonnen. Die nächste Frau, ein Flirt aus der Pub, Animas Pub, kannte zwar den nicht vorhandenen Unterschied zwischen beidem, dafür aber nicht, wie und warum man im Bett zu bieten hat. Eine hübsche Mittvierzigerin wusste das nicht, genauso wenig wie eine lebenslustige Soziologie-Studentin mit quietschviolettem Haar und nicht einmal eine 18-jährige, bis ins Mark verdorbene Nerdette – wie sie sich selbst nannte – konnte mit Anima mithalten. Sie behielt Recht. Am Ende in jeder Hinsicht.

Ernest führte Beziehungen, um sie stets mit ihr zu vergleichen und als sie seine Erwartungen nicht erfüllten, brach er sie ab. Später sogar, indem er sich noch vor dem Schlussmachen mit der nächsten traf. Er befriedigte und bezwang fünfzigjährige cougars und verführte zwanzigjährige Diplomantinnen. Er umgarnte Singlemütter und führte einmal sogar eine unglaublich abenteuerliche Affäre mit einer 16-jährigen. Er bezahlte fast zweitausend Euro für einen Escort-Service.

Aber keine Einzige konnte je an Anima heranreichen. Nicht annähernd.

Als deswegen Jahre später seine glücklichste Beziehung scheiterte und er bis auf Herzschmerz und ein leeres Bankkonto nichts mehr vorzuweisen hatte, wünschte er sich nur noch, er wäre er nie begegnet. Sie hatte ihn durch eine Tür gestoßen, durch die er nicht mehr zurückkonnte.

Sie hatte ihm tatsächlich die Seele geraubt.

– Maex, 2006

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