Am Ende dann

Maximilian Wust - Am Ende dann

Am Ende dann
Eine Erzählung von Maximilian Wust

WIR LEBEN. WIR feiern. Wir streiten und wir lieben. Wir heulen, flehen und glauben und beten. Wir leben unser Leben und führen unsere kleine, unbewegte Existenz.

Bis er dann kommt, der Tod. Er ist wie die Nacht, die immer und unausweichlich auf den Tag folgt. Und dabei spielt es keine Rolle, wie du ihn verbracht oder ob du ihn sogar komplett verschlafen hast.

Es ist egal, ob du mieser Egoist oder ein herzensguter Samariter warst, ob du einen Bestseller geschrieben oder fünfmal pro Woche trainiert hast, ob du ein Fliegenquäler warst  – am Ende dann wirst du sterben.

Am Ende dann starb er.

***

Der Wecker klingelt. Nein, er dröhnt. Sein Schlägel hämmert wildgeworden zwischen zwei metallenen Glocken umher, was einen solchen Lärm erzeugt, dass man eigentlich augenblicklich hellwach ist. Dieses Mistding kann Tote aufwecken, hatte er immer gesagt.

Und hatte sich getäuscht. Denn an jenem Tag schlief er weiter. Für immer.

Mich weckt er aber immer noch auf. Ich greife nach dem kleinen, lärmenden Gehäuse, das so wirkt, als wolle es wie ein wütender Teufel auf und ab springen und bringe ihn zum Schweigen. Gemächlich steige ich aus dem Bett. Es gibt zwar Arbeit zu tun – mehr als nur Saugen und Wäsche waschen – aber nichts, was mich hetzt. Ich will nicht mehr schnell machen. Ich muss auch nicht. Ohne Kinder, ohne Mann und ohne Haustier ist da nur noch ein Haus, das auch warten kann.

Also lasse ich mir viel Zeit. Ich setze die Zahnprothesen mit Ruhe und Sorgfalt ein, bringe meine Haare mit ausgiebiger Geduld in Position und ärgere mich auch nicht mehr darüber, wie lange der Kaffee wieder braucht, um endlich nicht mehr so heiß zu sein, als wäre er frisch aus einem Vulkan gekommen.

Und während ich auf dem Erdbeermarmeladenbrot kaue, starre ich auf das Photo, das schon seit fast fünfundzwanzig Jahren neben dem Esstisch hängt. Wir beide, unsere Haare ergraut, auf der Terrasse unseres damals neuen Hauses. Er lächelt. Er war immer so leicht zum Lächeln zu bringen. Ein genügsamer Mann aus einfachen Verhältnissen, der einfach nur gerne glücklich war. Ich hatte ihn so gern lächeln gesehen.

Vor vier Jahren lächelte er schließlich zum letzten Mal. Er starb nicht unter Schmerzen und auch nicht im Altenheim, wovor er sich immer so sehr fürchtete. Er entschlief ganz einfach, so wie er es sich immer gewünscht hatte.

An seinem letzten Tag legten wir uns wie immer um etwa zehn Uhr Abends „vorschlafen“, heißt: wir legten uns ins Bett und sprachen noch eine Weile über dies und jenes. Wobei ich immer diejenige war, die sprach. Bis auf eben an jenem Abend. Er war sehr müde, sein Rücken machte ihm zu schaffen und er wollte fürs Wochenende fit sein. Zwei seiner früheren Arbeitskollegen planten mit ihren Frauen zu kommen und in vergangenen Zeiten zu schwelgen. Alles war auch schon vorbereitet. Wir hatten sogar schon die Zutaten für Wurstsalat und zwei Träger Bier besorgt – nur die Zwiebeln fehlten uns noch, weil er sie wieder vergessen hatte.

Schon wieder die verfluchten Zwiebeln, sagte er, mehr schlafend als wach. Er werde die verdammten Zwiebeln nie wieder vergessen.

Er sollte Recht behalten. Er tat es nie wieder.

Als am nächsten Tag der Wecker zu seinem wütenden Klirrbimmel ansetzte, glaubte ich zuerst, er wollte stur sein und nicht dem penetrant quengelndem Gerät nachgeben, das nach seiner Sicht sowieso die Menschheit beherrscht. Einen Moment lang spielte ich noch mit. Dann wurde es mir bewusst.

Ich musste ihn nicht ansehen, ich musste nicht einmal die Augen öffnen oder seinen Namen sagen. Ich wusste einfach, dass ich von nun an allein war.

Ohne jede Vorwarnung. Weil Gott es so beschlossen hat.

***

Die Wäsche in die Maschine zu stopfen war schon immer meine Arbeit gewesen. Zuerst war unser Wäscheberg klein gewesen, dann groß, mit jedem Kind größer und jetzt ist er wieder klein, so klein, wie nie zuvor. Ich hatte die Wäsche unserer Kinder gewaschen, die manchmal so wirkte, als hätte man sie minutenlang in Schlamm und Schmutz gewendet und die Wäsche meines Mannes, der sie mir stets geordnet zusammengelegt gegeben hatte. Ich hatte damals noch über die viele Wäsche geschimpft. Heute ist sie mir zu wenig.

Der Wäschekeller ist unangenehm kalt und alles andere als einladend. Das Reich der Spinnen und Kellerasseln. Ein winziger Raum, in dem eine Waschmaschine und zwei Träger Getränke stehen und feuchte Wäsche wie seltsame Vorhänge von der Decke hängt. Hier habe ich schon vor zwanzig Jahren Wäsche gewaschen, während die Spinnen als stumme Zeugen in den Winkeln und Ecken hingen.

Vorsichtig schaufle ich das Waschpulver in die kleine Schublade. Einandhalb Schaufeln. Nicht mehr und nicht weniger gebe ich mit vermutlich übertriebener Sorgfalt in die Waschmaschine, ganz gleich ob angeblich auch die Hälfte ausreicht. Ich habe die Maschine immer mit der gleichen Menge gefüttert. Und ich weiß, dass ich das noch bis an mein Lebensende tun werde.

Danach gehe ich zurück in mein Bügelkämmerchen. Eigentlich war es das Gästezimmer, aber diese schlafen jetzt in den ehemaligen Kinderzimmern. Heute hat der Raum eine kleine Couch, ein Bügelbrett und einen Fernseher – alles, was eine Frau seit den 70er Jahren zu Bügeln braucht. Ich bereite alles vor; stelle den Wäschekorb in greifbare Nähe und schalte das Bügeleisen ein. Bis es sich aufwärmt habe ich Zeit in die flimmernden, bewegten Bilder des Fernsehers zu starren.

Die neumodischen Programme sind mir entweder zu kitschig oder zu rasant; gerade einmal auf den ersten beiden, den staatlichen Sendern kommt das, was ich jetzt brauche: Einfache, aber nicht penetrant einfache Unterhaltung. Ich bin alt geworden, wird mir einmal mehr bewusst. Ich bin zu der langweiligen, alten Oma mit faltigen Händen geworden, die ich nie werden wollte. Seltsamerweise stört mich das aber nicht. Soviel Frieden hatte ich mein ganzes Leben nicht.

Die vielen Dinge, mit denen man sich ein Leben lang beschäftigt, werden im Alter so herrlich bedeutungslos. Irgendwann spielt es keine Rolle mehr, ob unsere Politiker korrupt sind und sich einen Dreck um die kleinen Leute scheren. Ob ein Roboter über den Mars fährt oder inwiefern Friedrich Engels zur Entwicklung der Bezugsrahmentheorie beitrug, um meinen Enkel zu zitieren. Das sind die Dinge, über die sich Jugendliche und Studenten ärgern können, um ihren vielen Gedanken und Anstrengungen einen Sinn zu geben. Im Alter verschwinden das. Man fragt sich, ob die Kartoffeln diesmal wieder mehlig schmecken oder was heute Abend im Fernsehen kommt. Man hofft nicht mehr auf Weltfrieden oder ein besseres Bildungssystem, sondern auf einen friedlichen, ereignislosen Lebensabend mit dem Ehepartner.

Und irgendwann dann hofft man auf gar nichts mehr.

Ich schneide Kartoffeln und hacke den Rosmarin, ich bereite das zarte Hühnerfleisch und koche die Bohnen. Ich mische die Soße, seine Lieblingssoße, aber nur noch für mich.

***

Wenn ein Ehemann nach über dreißig Jahren des Zusammenseins geht, dazu muss er nicht einmal sterben, dann verschwindet er nicht sofort, sondern langsam. Er stirbt sich langsam von dir weg.

Zuerst vermisst man ganz einfach seine Anwesenheit. Natürlich, er war schon früher ab und an für längere Zeit weg, aber nun hat man die Gewissheit, dass er nie wieder heimkommen wird. Sein Sitzplatz am Esstisch, sein Bett oder sein Bereich auf der Fernsehcouch – sie werden für immer frei sein. Die Gespräche beginnen zu fehlen, seine Gestiken und seine ganze Art.

Meiner hat gerne Karten gespielt und sich jedes Mal wahnsinnig darüber aufgeregt, wenn er wieder verlor. Er war ein schlechter Spieler und ein noch schlechterer Verlierer. Er hat gern anderen Frauen nachgepfiffen und immer irgendwo ein Tittenmagazin versteckt. Er hat nie den Klodeckel runtergeklappt. Damals hat mich das alles unglaublich gestört – heute vermisse ich es. Das war nun einmal er.

Wenn zwei Menschen Jahrzehnte zusammen verbringen, dann sind verschmelzen sie irgendwann zu einer Einheit. Dazu müssen sie nicht einmal verheiratet oder ein Paar gewesen sein. Jeder weiß, was der andere denkt, wie er fühlt, was er mag und was er hasst oder was in diesem oder jenem Moment in seinem Kopf vorgeht. Ehepaare sind oft schon fast wie eine einzige Person. Stirbt einer der beiden, zerbricht die Einheit, dann zerbricht dieser ganze Mensch.

Mit seinem Tod ist auch die Person gestorben, die ich damals gewesen bin. Ich musste lernen, auf seine Ratschläge, seine Nähe, sein Lächeln oder seine politischen Debatten zu verzichten. Ich musste lernen, wieder alleine einkaufen gehen zu müssen.

Wenn bei einem alten Ehepaar der eine stirbt, dauert es meist nicht lange, bis ihm der andere folgt. Das heißt es nicht umsonst. Entweder man stirbt wenig später mit dem anderen, zerbricht sozusagen an der Trauer und der Einsamkeit oder man hört auf, der Ehepartner zu sein, der man sonst immer war. Was von beidem man tut, kann man nicht einmal entscheiden.

***

Oft, wenn ich gerade nichts zu tun habe und das Fernsehprogramm wieder einmal aggressiv langweilig wird, dann stelle ich mich vor die verglaste Doppeltür unserer Gartenterrasse und sehe einfach nur aus dem Fenster. Eigentlich sehe ich gar nicht hinaus, sondern eher in mich hinein. Den Garten betrachte ich nur, damit meine Augen etwas zu tun haben. Ich sehe Schüler, die fröhlich schwatzend oder einsam schweigend an meinem Haus vorbeimarschieren; Pendler, die zum Bahnhof schlendern. Verspätete Pendler, die laufen. Kein Büromensch trägt mehr einen Koffer bei sich, fällt mir inzwischen auf. Der Koffer ist tot.

Manchmal winkt mir Herrn Friedrichs zu, wenn er wieder durch seinen Garten wirtschaftet. Er beschäftigt sich viel. Er züchtet Gemüse und schnitzt Eulen, wenn er nicht seinen Hund trainiert oder absichtlich zerbrochenes Geschirr mit einer Goldpaste zusammenklebt. Kintsugi nennt er das – die Kunst, Kaputtgegangenes noch schöner wieder zusammenzusetzen und es stammt wohl aus Japan. Manchmal macht er Witze, dass er so irgendwann lernt, seine Frau hübscher wieder zusammenzubauen.

Arbeit ist seine Art, mit dem Lebensabend zurechtzukommen. Arbeit lenkt ab, sie betäubt die Gefühle und lässt dem Menschen nicht die Zeit, über die Dinge nachzudenken, die sonst an ihm nagen. Ein Segen, dessen man sich erst bewusst wird, wenn man ihn braucht.

Ich ertappe mich beim Neid, als wieder ein junges Pärchen vorüberzieht. Sie sind so süß und innig miteinander, das sind sie alle. Dass sie es irgendwann nicht mehr sein werden, dass sie sich vielleicht trennen oder laut und verletzend streiten werden, kommt ihnen gar nicht in den Sinn.

Ich war damit nicht besser und bin heute dafür dankbar. Das hat mein Leben schön gemacht. Der Glaube, dass es und alle schönen Dinge darin nie enden werden.

***

Ich stehe auf, ich frühstücke, ich gehe an die Hausarbeit, ich esse zu Mittag, sehe fern und gegen Abend gehe ich wieder schlafen, damit der Kreislauf am nächsten Morgen von vorn beginnt. Ab und an fahre ich in die Stadt und kaufe ein oder ich besuche meinen Hausarzt. Selten mal gehe ich auf eines der Klassentreffen, wo sich meine Kameraden aus der Mittelschule – oder die, die davon noch übrig sind – immer wieder von ihren Sorgen und Schmerzen erzählen. Das ist mein Alltag, das ist mein Leben. Es wird von jetzt an immer so laufen; jeden Tag und jede Woche werde ich so verbringen.

An diesem Abend ist wieder einer der Tage, an dem ich nur schwer einschlafen kann. Ich bin müde und es ist spät genug, aber trotzdem liege ich wieder einmal wach. Ich weiß nicht, ob es die Sorgen sind, die mich wach halten, irgendein Zipperlein oder ob ich ihn wieder einmal vermisse. Ich vermisse ihn immer, aber manchmal, da wird dieses Verlangen so mächtig, dass ich glauben könnte, er säße im Wohnzimmer vor dem Fernseher oder er würde im dunklen Flur nach der Toilette suchen und wäre zu wie immer zu stolz, das Licht einzuschalten. Ich weiß, dass da kein Geist ist – wenn, dann ist seine Seele jetzt bei Gott –, aber manchmal, da wünsche ich es mir. Mein Mann, der Poltergeist.

In diesen Momenten, in denen die Einsamkeit besonders erdrückend wird, da denke ich oft – vielleicht auch, um mich abzulenken – an das, was die Autoren immer gern in ihren Büchern schreiben. Sie erzählen, dass sich der zurückgebliebene Teil eines Ehepaares den Tod wünscht, sozusagen bei dem anderen sein will. Das schreiben sie auch Eltern zu, die ihre Kinder verloren haben und Menschen, die einen guten Freund betrauern. Aber niemand von denen möchte tot sein. Man will einfach nur diesen geliebten Menschen wiederhaben. Lebend und nicht im Tod.

Ich will einfach nur zurück in dieses kleine, einfache, aber zufriedene Rentnerleben, das ich mit ihm so lange Zeit teilte. Ich will mich in diesem Gefühl der Ruhe und der Zufriedenheit vergraben und mit ihm für immer dort bleiben. Man vermisst nicht die Person, sondern das, was man mit ihr hatte.

Aber jetzt, an diesem Abend, als ich wieder einmal nicht richtig einschlafen kann, da vermisse ich ihn.

Und die Ehefrau, die ich ein Leben lang gewesen bin.

– Maex, 2007

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen