Täter, Opfer, Sünde, Schuld und Schuld

Maximilian Wust - Täter, Opfer, Sünde, Schuld und Schuld

Täter, Opfer, Sünde, Schuld und Schuld
Eine Erzählung von Maximilian Wust

WIE SCHWARZE LUFTBALLONS.

So in etwa wirkten sie, als sie an der Brücke vorbei schwebten, den Wolken entgegen, hoch hinauf, wo sie von den letzten Sonnenstrahlen warm empfangen wurden. Als würde die Erde Tränen aus Teer in den Himmel weinen.

Die Nacht kam allmählich über das Land, mit ersten Sternen als Vorboten und kalten, vom Osten strömenden Winden. Als sie der Mensch spürte, hielt er inne und zog er seinen Mantel bis zum Kragen zu, bevor er weiter über die Brücke marschierte. Was da hinter der Brüstung wie schwarze Ballons aufstieg, ignorierte er, ganz so, wie er es immer schon getan hatte.

Zögerlich, aber dennoch zielsicher erreichte er das andere Ufer, passierte die gewaltige Pforte und fand sich in dem Saal wieder, wo sie bereits auf ihn warteten: Der Richter auf seinem hohen Podium, direkt unter dem einzigen Fenster der Halle; der Ankläger, hell erleuchtet vom Licht der Abendsonne, vor seinem mächtigen Tisch und die Verteidigung, unscheinbar und unsichtbar in einem dunklen Winkel gegenüber. Damit waren alle Beteiligten versammelt. Zeugen und Zuschauer gab es keine; es sollte nur zwischen diesen vier ausgetragen werden.

***

Mit einem lauten Räuspern eröffnete der Richter die Verhandlung.

„Mensch“ verkündete er mit tiefer, grollender Stimme. „Sie werden einmal mehr der verschiedensten Verbrechen und Gräuel angeklagt. Dieses Verfahren soll nun einmal wieder bestimmen, inwiefern Sie der Anklagepunkte schuldig sind und ein Urteil über Ihre Seele fällen. Sind Sie sich dessen bewusst und bereit?“

„Spielt das eine Rolle?“, entgegnete der Mensch entnervt. Er war der Vorwürfe so unglaublich überdrüssig.

Der Richter sortierte seine Notizen und begann: „Zunächst werden Sie eines sehr furchtbaren Verbrechens bezichtigt, das aber nur die geringste Ihrer Fehlungen darstellt: der Fleischfresserei – in Ihrem Fall ein Verbrechen, da Sie es nicht nur aus Existenzgründen, sondern zum reinen Vergnügen praktizieren. Sie züchten Tiere, pferchen Sie zu Tausenden zusammen, unter unwürdigen Bedingungen, zwingen sie an die Grenzen des Möglichen, nur um sie dann zu töten, zerteilen, auszuweiden, zerschneiden, zerhacken, zerkleinern, braten, kochen, dünsten und zu essen. Sie machen aus ihnen Sandwiches, Soßen, Menüs, Steaks, Würste, Gummibärchen und Geschmacksverstärker und vieles mehr – was mir hier vorliegt, ist ein Kaleidoskop blutiger Kreativität. Erschwerend hinzukommt, dass Sie das tun, obwohl Sie die Alternative vegetarischer Ernährung hätten!“, fügte das Gericht zum Schluss an.

Stille herrschte, während die Worte in den Raum und die Gemüter sanken.

Die Verteidigung erhob sich als Erstes. Nüchtern erklärte sie: „Dieser Punkt ist nicht der Genusssucht, sondern der Biologie meines Mandanten geschuldet! Er braucht das tierische Eiweiß für den Wachstum und den Erhalt seines Gehirns und seines Rückenmarks, was mehr als –“

„Einspruch!“, sagte, nicht rief die Anklage. „Viele Kulturen haben schon vor tausend Jahren bewiesen, dass es dazu kein Fleisch bedarf. Tofu, Reis und andere Alternativen stehen dem Angeklagten schon sehr lange schon zur Verfügung, was ihm auch ebenso schon bekannt ist. Bei seinem maßlosen Fleischverzehr geht es daher nur noch um Genuss! Er schlachtet, mordet und verschlingt ohne jegliches Maß und das nur, weil es ihm schmeckt!“

„Werte Anklage, der Glaube an diese sogenannte Alternative ist närrischer Ignoranz geschuldet. Die Welt meines Mandanten basiert leiderwegs auf ein simples Gesetz: Wer leben will, muss anderes Leben verschlingen. Nur die niedersten Lebensformen können Mineralien und andere, tote Materie aufbrechen.“

Der Richter sah zur Verteidigung herüber. „Soll heißen?“

„Auf Erden tötet man, um zu leben. Das ist ein Fakt, ob nun Pflanze oder Tier. Aber was bitte macht das Töten von Tieren um so vieles grausamer als das von Pflanzen? Weil diese ihren Schmerz nicht ausdrücken können? Weil sie keine Gesichter haben, um den Metzger um Gnade anzuflehen? Pflanzen empfinden ebenso Schmerz, kennen ebenso Angst und wollen ebenso am Leben bleiben. Sie schreien nur nicht, wenn man sie tötet!“

Die Anklage wurde aufbrausend: „Soll das etwa den täglich praktizierten Massenmord rechtfertigen? Höllengleiche Legebatterien, in denen man überzüchtete Hühner mit Antibiotika vollstopft? Und das nur, weil man für ein Hähnchen nicht einmal den Preis einer Zigarettenschachtel entrichten will! Oh, ich bitte Sie!“

Die Verteidigung zuckte mit den Schultern. „Ich bedaure, dass Sie diese Verhandlung so sehr aufwühlt, aber Ihre Argumente waren unreflektiert und wenig stichhaltig.“

„Wenn sie so wollen: Pflanzen sind genauso Opfer der menschlichen Fresssucht! Aber sie wären eine Alternative, die auf ein viel größeres Ziel zusteuert, nämlich Mäßigung! Das ist es, was dem –“

Ein Donnern unterbrach Anklage und Verteidigung. Der Richter hatte seinen Hammer gegen den Tisch herabfahren lassen. „Dieses Thema löst jetzt anscheinend zu viele Emotionen aus, um sachlich diskutiert zu werden!“, bestimmte er. „Es wird ein andermal besprochen! Fahren wir mit den nächsten Punkt fort.“

Der Mensch lächelte. Er verkniff sich ein Schmunzeln. So und genau nur so kannte er diese Verhandlungen.

***

Der Richter räusperte sich. „Desweiteren werden Sie der ökologischen Willkürherrschaft angeklagt. So sollen Sie alles Leben auf die radikalste Art unterworfen, geknechtet und vernichtet haben. Sie roden Wälder, begradigen Flüsse und legen Sümpfe trocken, vernichten Lebensräume und Brutstätten, um ihrem Wunsch nach Luxus nachzugehen. Sie sprengen Löcher in Berge oder verseuchen Waldflächen mit Quecksilber im Namen der Goldförderung, einem Metall, das Ihnen zu kaum einem anderen Zweck als der Dekoration dient. Aus selbigem Motiv töten Sie Elefanten, Nashörner und alte, selten gewordene Bäume. Von solchen Details abgesehen, verändern Sie die Oberfläche Ihrer gesamten Welt radikal. Flora und Fauna, die der Ausbreitung Ihres Lebensraumes im Weg stand, wurde von Ihnen umgeformt – kultiviert, wie sie es nennen – oder ausgelöscht. Jetzt in diesem Moment stehen zahllose Tier- und Pflanzenarten kurz vor ihrer endgültigen Vernichtung, aus Gründen, die Sie zu verantworten haben.“

„Lachhaft!“, höhnte die Verteidigung, „Das Gleichgewicht dieser Welt verschiebt sich, unter anderem durch Mandanten, zugegebenermaßen, aber weder in eine schlechtere, noch in eine bessere Richtung. Es verschiebt sich ganz einfach nur. Von mehr auszugehen, ist schlicht Arroganz.“

„Es verschiebt sich, wie es der Angeklagte es gerade braucht“, murmelte die Anklage, „und ohne Rücksicht auf Verluste.“

„Das tut jedes andere Wesen auch und jedes weitaus verantwortungsloser als mein Mandant. Fische, Wölfe, Raubkatzen, ja sogar Mäuse und Hamster fressen und vermehren sich unkontrolliert, bis sie ihre eigenen Nährgründe ausgeschöpft sind und ganze Regionen in ökologische Katastrophen stürzen. Die Balance einer unberührten Natur ist eine Illusion verklärter Misanthropen! Im Kontrast dazu kann ich sogar behaupten, dass mein Mandant das verantwortungsvollste Tier seines Reichs ist: Er ist das Einzige, das Sonderrechte für andere Arten und Pflanzen einräumt und ihnen freiwillig Lebensraum überlässt, sogar seinen ehemaligen Fressfeinden – Taten, die man in freier Wildbahn bisher nicht beobachten konnte, nicht wahr? Dort tötet der Iltis den gesamten Wurf einer Fuchsfamilie, obwohl ihn ein Jungtier schon sättigen würde, und schläft sich neben den Leichen seiner Opfer aus.“

Die Anklage nahm einen tiefen Atemzug, spitzte die Lippen und setzte zum vernichtenden Gegenangriff an: „Der Angeklagte hat es inzwischen das Anthropozän getauft und bezeichnet damit nichts anderes als ein Zeitalter, in der seine Existenz den ganzen Planeten geologisch beeinflusst. Geologisch! Auf einer Ebene, die man später in den Sedimenten feststellen kann, ähnlich der Kreidezeit. Auch wenn es wohl mehr dem Wechsel vom Kambrium zum Tertiär entspricht, der Iridium-Anomalie, als die berüchtigten Riesenechsen vom Antlitz der Erde verschwanden. Milliarden von Arten sind durch sein Handeln für immer aus dem Ökosystem getilgt worden und das in rekordverdächtig kurzer Zeit. Wälder verschwinden, Wüsten breiten sich aus, Inseln wie Haiti sind im Zuge dieses Wahnsinns an den Rand eines ökologischen Zusammenbruchs gedrängt worden! Wenn man in ferner Zukunft auf dieses Zeitalter, dieses … Sapiolithikum zurückblickt, wird man nur eines erkennen: Ein Massensterben – das Schlimmste, das je stattfand – ausgelöst durch den Wahn einer einzelnen Spezies, die alles in Plastik verpacken musste.“

„Und was soll mein Mandant Ihrer Meinung nach tun?“, warf die Verteidigung wütend ein. „Alle Kühlschränke abschalten? Alle Autos verbieten? In die Steinzeit zurückkehren? Er unternimmt doch bereits zahllose Gegenmaßnahmen wie Solarthermie, Umweltschutz, Wiederaufforstung …“

„Zu wenig und zu oft nur, um sich das Gewissen reinzuwaschen. Wahrer Umweltschutz würde Verzicht bedeuten – was bekanntermaßen keine Tugend des Angeklagten ist. Er zerstört die Welt, die er bewohnt. Rücksichtslos! Der einzige Lichtschimmer hier ist: Entweder er lernt, seinen Lebensraum zu pflegen oder der Lebensraum lehrt es ihn, mit Hunger und Tod! Es gibt genug Experten, die behaupten, diese Welt wäre ohne den Angeklagten eine bessere.“

Die Verteidigung rollte mit den Augen. „Du meine Güte, was ist denn das für ein Hippie-Gerede? Werden Sie meinem Mandanten als nächstes die eben erwähnte Auslöschung der Dinosaurier vorwerfen? Wohin soll –“

Wieder donnerte der Hammer. „Genug!“, befand das Gericht. „Das hier ist eine höflich und sachlich geführte Verhandlung und kein Pausenhof! Wir gehen zum nächsten Punkt weiter!“

Dieses Mal grinste der Mensch nicht. Ein tiefer Seufzer war sein Kommentar.

***

Stille legte sich wieder über den Saal. Der Ankläger flüsterte etwas, nur für sich.

Der Richter räusperte sich wieder und verlas weiter: „Der nächste Punkt sind Ihre Verbrechen gegen sich selbst. Morde, Vergewaltigungen, Diebstahl, Betrug und Lug und Verrat, Ausbeutung, Diskriminierung und Genozide – endlose, entsetzliche Verbrechen, die Sie gegen ihre eigenen Artgenossen begangen und deren Beendigung nicht einmal in ferner Zukunft absehbar ist. Sie vertreiben sie mit Bomben aus ihrer Heimat, Sie verseuchen ihre Flüsse mit Giftmüll und ermorden sie, zu Millionen, weil sie einer anderen, meist ähnlichen, aber eben doch einer anderen Religion angehören. Sie praktizieren regelmäßig und fast kultisch Massenkämpfe, die Sie Kriege nennen, für Motive, die kurzfristig dem Hass entsprungen und selten bedacht sind und ikonisieren jene Massaker später auch noch, indem Sie sie in Begriffe wie Ehre und Tapferkeit kleiden. Und trotz aller Lehren, die Ihnen die Vergangenheit zukommen ließ, bleiben Sie unbelehrbar in einem ewigen Kreis aus Unterdrückung und Gewalt gefangen.“

Die Anklage grinste. „Die Maus würde niemals die Mausefalle erfinden, der Mensch aber erfindet die Atombombe“, zitierte sie den Menschen, der mit die mächtigste aller Waffen erfunden hatte.

Die Verteidigung schüttelte den Kopf. „Schön gesagt, aber dafür frisst der Mensch auch nicht seine Kinder, wenn die Woche mal schlecht lief. Die Maus vermehrt sich maßlos, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, ob sie diese Nachkommen überhaupt versorgen kann. Sie beißt sich gegenseitig im Kampf um Weibchen und Territorium tot. Der einzige Grund, warum sie noch keine Mausefalle erfunden hat, ist der, dass sie es nicht kann.“

„Sie kann auch für ihre von Instinkten gesteuerten Taten keine Verantwortung übernehmen. Im Gegensatz zum Angeklagten, der bereits mehrfach verdeutlichte, dass er über diese Triebe erhaben ist.“

„Also ist der Angeklagte schuld, weil er angeklagt wird? Die Morde, die mein Mandant begeht, sollten Ihnen doch sehr gelegen kommen, werte Anklage. So ist es doch nur noch eine Frage der Zeit, bis Ihr menschenfreies Paradies zurückkehrt!“

Der Richterhammer beendete donnernd den Streit. „Benehmen Sie sich!“, mahnte das Gericht. „Benehmen Sie sich endlich einmal!“

Die Verteidigung holte tief Luft und begann von Neuem: „Wir dürfen nicht missachten, aus welcher Welt mein Mandant entstammt: Die Erde ist kein Paradies, in dem das Lamm beim Löwen liegt. Das war sie nie. Die Ökosystem, dem der Mensch entstammt, beruht seit Milliarden von Jahren auf einem gnadenlosen Wettkampf aus Selektion, der ausschließlich mit Gewalt ausgetragen wird. Was sich nicht anpasste, und zwar sofort, wurde ausgemerzt. Was Schwäche zeigte, gefressen. Kaum ein Tier in freier Wildbahn erlebt so etwas wie einen Tod durch Alter – Krankheiten oder die Krallen anderer beenden im Regelfall jedes Leben. Mein Mandant war davon die längste Zeit nicht ausgenommen. Auch wenn es ihm nun allmählich gelingt, diesem Terror zu entfliehen, ist er ihm noch lange nicht auf psychischer Ebene entgangen. Gewaltbereitschaft, Diebstahl, Raub und mangelnde Moral sprechen hier von Verhaltensmustern, die ihm seit Anbeginn des Lebens einprogrammiert wurden.“

Die Anklage lachte auf. „Das ist ungefähr so, als würde man behaupten, dass die Franzosen mit den Asterix-Comics das Trauma aufarbeiten, vor zweitausend Jahren von den Römern erobert worden zu sein. Kein Mensch muss sich mehr fürchten, gefressen zu werden!“

„Aber in der mangelnden Moral“, fuhr die Verteidigung fort, „offenbart sich auch die größte Stärke meines Mandanten: Moral. Er sucht nach einem Kompass für Richtig und Falsch und entwickelt diesen mit jeder Generation weiter. Viele Staaten beginnen bereits damit, Andersdenker oder Minderheiten zu schützen; viele weitere lassen sie auch bereitwillig zu Wort kommen.“

„Einspruch, Eher Hochwürden!“, rief die Anklage. „Ganz klarer Einspruch! Die Staaten, jene die Verteidigung hier als Vorreiter einer Bewegung der Nächstenliebe verkauft, sind selbstgerechte Ausbeuter-Nationen, die zugegebenermaßen nach innen ein gütiges Regelwerk praktizieren, sich nach außen hin aber nur wenig von einem Raubtier unterscheiden. Sie unterjochen andere Staaten, zwingen sie, ihre Ressourcen günstig zu verkaufen oder verweigern ihnen sogar die grundlegendsten aller Bedürfnisse, wie Trinkwasser. Stellt sich ein Staatsführer gegen sie, ganz gleich wie er zu seinem Volk steht, wird er zum Diktator erklärt, seiner Macht beraubt, oft sogar getötet und durch einen willigen Nachfolger ersetzt. Es ist leicht, von Moral zu sprechen, während man gut versorgt und gewärmt hinter einem schützenden Wall sitzt. Wird diese Mauer angegriffen, verteidigen sich die Bewohner mit radikalsten Methoden und außerhalb davon herrschen Chaos, Anarchie und Gewalt. Der Mensch ist dem Tierreich nicht entkommen, wie Sie es so schön postulieren, werte Verteidigung; er lebt immer noch darin – mit dem Unterschied, dass er jetzt Gewehre und zielsuchende Raketen zur Verfügung hat.“

„Was bitte sind dann Gesetze, werte Anklage? Was ist das Völkerrecht? Was ist Moral, wenn nicht das Streben nach dem Guten?“

„Eine Ausrede“, antwortete die Anklage grinsend. „Er braucht also Gesetze, gleich eingebettet in eine Religion und harte Bestrafung, damit er sich zusammenreißt? Er braucht eine Erklärung, dass Mord und Vergewaltigung falsch sind? Es brauchte erst Atombomben, dass er es unterließ, sich endlos gegenseitig anzugreifen!“

Die Anklage sprang auf und brüllte: „Als ob es Ihnen einen Dreck um so einen philosophischen Schlamm geht! Sie sind einfach nur voller Hass gegenüber dem Angeklagten und weiter nichts! Er kann es Ihnen gar nicht Recht machen!“

„Und Sie hoffnungslos verblendet. Sie würden auch noch in einem Haufen Scheiße einen ganzen Wald sehen, der da eines Tages herauswachsen ka–“

„Es reicht!“, brüllte das Gericht. „Gelingt es Ihnen eigentlich nicht, auch nur in einem Punkt sachlich zu bleiben? In einem? Wir gehen weiter! Verdammt, wir gehen weiter zum nächsten!“

Der Mensch starrte betreten in die Leere. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

***

Der Richter räusperte sich erneut, dieses Mal nervös und sehr lange. „Als nächsten Punkt auf dieser unendlich langen Liste, wirft man Ihnen vor, sich selbst über alle anderen Wesen zu stellen“, verlas der Richter. „So sind Sie –“

„Na und?“, unterbrach der Mensch. „Jedes Lebewesen tut das.“

Der Richter schnappte nach Luft, die Verteidigung starrte den Menschen mit aufgerissenem Mund an, die Anklage verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse.

Der Mensch erwiderte ihren Blick mit ähnlicher Wut, dann er holte tief Luft. „Aber darum geht’s doch hier gar nicht, oder? Man sagt mir ständig, dass ich alles falsch mache! Umweltschutz, Pausen, Liebe, Umgang mit Tieren, Haare schneiden. Wenn man für etwas ´nen Namen findet, drückt man mir auch gleich auf’s Auge, dass ich es nicht richtig mache! Es ist natürlich immer leicht, was zu kritisieren, ohne selbst ´nen besseren Gegenvorschlag zu bringen, aber das lassen wir mal außen vor! Weil jetzt würde mich mal interessieren: Wer spricht da für mich, was richtig und was falsch ist?“, der Mensch wurde laut. Er brüllte die nächsten Sätze: „Wer nimmt sich bitte das Recht heraus, mich anzuklagen, mich rechtzufertigen und mich zu verurteilen? Wer?“, brüllte er. „Wer?

Eine lange Stille folgte.

Das Mondlicht schien von draußen in den Saal. Keiner sagte etwas; keiner wollte etwas sagen. Der Mensch sah zornig zu allen anderen Parteien dieser Verhandlung und wartete ungeduldig auf ihre Reaktion.

Schließlich bekam er seine Antwort.

Der Richter sprach als Erster: „Das ist nicht so einfach.“

Die Verteidigung stand von ihrem Platz auf und näherte sich gemächlich dem Menschen. Dabei erzählte sie: „Wir sind das Ergebnis eines physikalischen Wettrüstens: Atome, die zu Molekülen wurden; Moleküle, die sich zu Aminosäuren verketteten und Aminosäuren, die sich mit anderen Aminosäuren zu Zellen verbanden.“

Die Anklage setzte fort, während sie auch aufstand: „Unser Anfang waren Einzeller, die sich gegenseitig fraßen, um zu überleben. Einzeller, die sich schließlich zu Mehrzellern vereinten, nur um im Wettbewerb bestehen zu können.“

„So wurden aus ihnen Bandwürmer, Schwämme …“

„Trilobiten, Fische und Schlickspringer …“

„Reptilien, Warmblüter, Säugetiere, Ratten, Affen …“

„Primaten …“

Der Richter stieg ebenfalls von seinem Podium hinab. Auch er erzählte währenddessen: „Am Ende dieser Kette standen wir. Wir wurden in diese Welt geworfen, ohne jedes Wissen, warum und wie. Niemand erklärte uns, was richtig ist und was falsch. Was man tun darf, tun soll oder tun muss. Und was nicht.“

„Wir wussten nur eines: Sterben ist schlecht und Leben ist gut. Weil es unsere Instinkte so sagen“, bemerkte die Verteidigung.

„Also versuchten wir alles“ setzte die Anklage fort, „was unser Leben beenden konnte, als falsch, also als böse zu definieren und andersherum das Leben und seinen Schutz als richtig und gut. Mord ist daher falsch, ein gerettetes Leben dagegen eine gute Tat. Einen Hungernden abweisen, ist eine Sünde, Brot teilen eine Tugend – wenn man in diesen Mustern denkt.“

„Aber ist es richtig, ein Leben zu beenden, um ein anderes zu schützen? Wie steht es mit Krieg? Ist Krieg richtig, wenn er der Verteidigung dient oder der Auslöschung derer, deren Handeln wir als falsch und böse definieren? Ist Mord richtig, wenn er einem Mörder gilt? Diebstahl, wenn er dem Überleben dient?“

„Ist es immer falsch, eine Lüge auszusprechen? Kann ein Verrat nicht auch richtig sein?“

„Wir hatten niemals jemanden, der uns hätte anleiten können. Niemand, der uns sagte, was wir tun sollten und was nicht. Wir schrien in die Leere und zum Himmel und flehten ihn an, doch zu kommen. Jemanden, der uns anklagt, uns Regeln gibt und auch bestraft, wenn wir sie nicht einhalten. Also erdachten wir über uns stehende Entitäten und nannten sie Gott und Götter. Als übermächtige Richter und Regelwächter sollten sie über uns wachen.“

„Aber jede Regel, die Gott uns auferlegte, war nur von uns selbst und genauso ahnungs- und hilflos erschaffen worden. Gott konnte uns nicht sagen, was zu tun sei, denn er war nur eine aus Wunschdenken, den alltäglichen Fragen und Machtlegitimation geborene Illusion, die selbst dann nicht wahr wurde, wenn wir jeden Tag dreimal zu ihr beteten.“

„Und wir beteten! Oh ja. So viel und so voller Hoffnung, so verzweifelt, so schwachsinnig und so umsonst. Bis unsere Illusionen unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrachen und sich auflösten, wieder und wieder.“

„Am Ende blieb uns immer nur, uns selbst anzuklagen, uns selbst zu verteidigen und zu verurteilen.“

„Wir verurteilen dich nicht, weil du es verdient hast“, sangen sie gegen Ende im Chor, „oder weil wir es müssen, sondern weil du das Urteil annehmen und Verantwortung übernehmen kannst. Eine Maus versteht nicht, wann und wie sie einen moralischen Fehler gemacht hat – du aber schon.“

Der Ankläger, der Verteidiger und der Richter traten in das Mondlicht, direkt an den Angeklagten heran. Er erkannte ihre Gesichter und die Art, wie sie gingen und wie sie ihn anstarrten. Wie sie ihre Münder bewegten und mit ihren Fingern zuckten.

Sie waren genau wie er.

Menschen.

– Maex, 2007

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