Vom andern Ufer des toten Flusses

Maximilian Wust - Vom andern Ufer des toten Flusses

Vom andern Ufer des toten Flusses
Ein Psycho-Drama von Maximilian Wust

SIE KEHRTEN ZURÜCK.

Immer.

Und jedes Mal, wenn sie das taten, wenn er sie kommen spürte, fuhr Mac irgendwo an den Stadtrand. Weit hinaus, wo ihn niemand finden konnte. Man begegnet ihnen besser allein … und auf offenem Gelände. Das hatte er auf die harte Tour lernen müssen.

Dieses Mal trieb es ihn, rein zufällig und seltsamerweise doch sehr passend, an einen Straßenrand am Industrieviertel. Als sich die Begegnung schließlich nicht mehr vermeiden ließ, bremste Mac, ließ den Wagen einfach mit offener Tür stehen und sich ins Gras fallen. So wartete er, hinter ihm der schwarze Ford, vor ihm eine steil abfallende Hügelböschung, an ihrem Ende ein Fluss und dahinter die qualmenden Schlote des Industrieviertels von Chicago. Sehr treffend. An so einem Ort hatten sie sich kennengelernt.

Vielleicht gerade deshalb blieb ihm noch eine Minute. Mac zündete eine Zigarette an. Filterlos und mit besonders starkem Tabak, so dass er jeden Zug spürte. Dabei zitterten ihm die Hände. Dieses Mal hatte er viel zu erklären und noch mehr zu büßen.

Schließlich erschien Ray, eigentlich Raimund, kein Deutscher, trotzdem meist überpünktlich, und setzte sich zu ihm.

„Wie geht’s dir?“, fragte Mac und hätte ihm gern etwas Tabak angeboten.

Sein Sitznachbar legte den Kopf in den Nacken und dachte nach. „Ich weiß nicht.“ Was das anging, unterschied er sich nicht von den anderen. „Es ist alles so verschwommen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal im Restaurant war … oder wann ich zuletzt was gegessen habe …“

Mac schluckte. Dieses Mal wollte er ehrlich sein – es nützte sowieso nichts, wenn er sie belog. „Du bist auch tot, Ray. So etwa seit ´ner Woche“, gab er zurück.

„Ich bin tot? Wie das denn?“

„Hab’ dich erschossen.“

Rays Augen wurden riesig. „Was? Du? Nach allem, was wir zusammen erlebt haben?“

„Tut mir leid.“

„Ich habe dir zweimal den Arsch gerettet!“

„Einmal …“

„Zweimal! Diese irischen Inzestgeburten hätten dich tot geprügelt! Verdammt, ich stand vor der Familie für dich ein! Du mieses Schwein!“

Mac begann zu schluchzen; die Tränen konnte er gerade noch unterdrücken. „Tut mir wirklich leid.“

„Warum? Warum hast du das getan?“

„Du hast etwa dreitausend Dollar mit deinem Restaurant veruntreut. Oliver hat’s ´raus bekommen. Hat mich auf dich angesetzt. Ich hatte keine Wahl.“

„Ihr habt mich wegen dreitausend Dollar umgebracht? Dreitausend! Dafür prügelt ihr Typen die Scheiße aus dem Leib oder haut ihre Einrichtung zu Schrott, aber ihr bringt sie doch nicht um! Besonders nicht, wenn sie zur Familie gehören!“

„Oliver meinte, in deinem Fall wär‘s ein Exempel. Von wegen, dass er jeden Verräter bestraft. Egal wie nahe er ihm steht.“

Ray schnaubte. „Warum hast du mich nicht vorgewarnt? Ich wäre abgehauen und du hättest einfach behaupten können, ich sei tot.“

„Zu unsicher. Oliver hätte es ´rausgekriegt. Es tut mir wirklich leid, Ray.“

„Dafür ist es jetzt ein wenig zu spät, oder?“

Beide schwiegen einen Augenblick.

„Wie ist es passiert?“, fragte Ray plötzlich.

„Willst du das wirklich wissen?“

„Das bist du mir schuldig!“

Mac nahm einen letzten Zug aus der Zigarette und schnippte sie den Hügel hinab. „Es … ging schnell.“

„Soll das gerade dein Gewissen beruhigen?“

„Du hast es nicht kommen sehen. Hast wahrscheinlich nich‘ mal mehr den Knall gehört.“

„Das ist mir jetzt gerade herzlich egal!“

„Warum hast du Oliver beschissen? Ist nich‘ so, als ob du das Geld gebraucht hättest.“

„Das ist keine Rechtfertigung!“

Mac wurde laut: „Du hättest wissen müssen, dass sowas passiert! Verflucht, du warst immer der Klügste von uns! Sag mir wenigstens, warum! Warum hast du einen Hurensohn beschissen, der ´nen verfickten Privatfriedhof für seine Feinde hat?“

Ray zögerte, dann schüttelte er den Kopf. „Ich … weiß es nicht mehr.“ Das taten sie nie.

Beide schwiegen wieder, saßen einfach nur am Straßenrand und beobachteten stillschweigend die Rauchsäulen, die sich wie riesige Raupen aus den Kaminen wanden. Die roten Ziegelschlote waren für viele das Sinnbild für wirtschaftlichen Aufschwung. Für Mac stand es für die Kriminalität. Wo man Ziegelschlote baut, werden bald auch die ersten Kartelle auftauchen.

In dieser Welt gibt es immer jemanden, überlegte er, der Dinge produziert; jemanden, der verwaltet und einen dritten, jemanden, der beide anderen ausnutzt, ausraubt und ausnimmt, soweit er kann. Ob man sie Mafia, den Mob, Piraten oder Räuber nennt, spielt keine Rolle. Sie sind Parasiten. Zecken. Mehr nicht. Seltsamerweise hatte es Mac und Ray nie gestört, zu ihnen zu gehören.

Der ehemalige Schüler brach schließlich das Schweigen. „Du warst im Auto unterwegs. Ich hinter dir.“

Ray sah auf. „Was?“

„Wie du gestorben bist. Du bist gefahren. Hast mich nicht kommen sehen. Dann hab‘ ich dir zwei Kugeln in den Hinterkopf verpasst.“

„Zwei. Wie ich es dir immer empfohlen habe. Und danach?“

Mac seufzte, lange und laut. „Weißbrot mit Butter und viel Honig. Wie du’s immer empfohlen hast.“

Ray nickte und wiederholte seine Sätze wie aus dem Lehrbuch: „Der süße Geschmack, zusammen mit den Proteinen und dem dicken Brot verdreht die Chemie im Hirn. So glaubt dein Körper, gerade etwas Gutes getan zu haben, was ihn an energiehaltige Nahrung kommen ließ. So kann man sich schlechte Dinge gut reden. Ja. Schlechte Dinge …“

„Hab‘ deine Worte nie vergessen. Danke für alles, Ray.“

Rays Blick wurde kalt. „Ich verzeihe dir nicht.“

„Ich weiß.“

„Du hast einen Mann erschossen, der dir zweimal das Leben gerettet hat. Und komm mir nicht mit der Ausrede, dass das sonst ein anderer erledigt hätte!“

„Mach ich nicht.“

„Ich will, dass du den Rest deines Lebens darunter leidest, du mieser Scheißkerl.“

„Werde ich.“

„Dann ist in dir wenigstens noch ein bisschen Mensch übrig“, bemerkte Ray zynisch.

Danach war er fort. Für immer.

Immer, wenn er Menschen tötete, kehrten sie zurück.

– Maex, 2006

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