Die Geschichte vom Wuthering

Maximilian Wust - Der Wuthering

Die Geschichte vom Wuthering
Ein abstrakter Sci-Fi-Slapstick von Maximilian Wust



Vorwort: Ich glaube, dass es bis heute keine Geschichte gibt, die das Chaos in meinem Kopf auch nur annähernd so gut beschreibt, wie das nun folgende Abenteuer um den Wuthering. Und genauso entstand sie auch: Ich besuchte damals meine Wir-treffen-uns-zweimal-die-Woche,-führen-unglaublich-tiefsinnige-und-ehrliche-Gespräche,-schlafen-miteinander-und-danach-Arm-in-Arm-ein-und-schreiben-uns-jeden-Tag,-aber-wir-sind-nicht-zusammen-Beziehung und entdeckte in ihrem Regal eine DVD mit der Aufschrift „Wuthering Heights“, der Verfilmung des klassischen Romans Sturmhöhe (dessen Handlung ich bis heute nicht kenne, obwohl eine Zusammenfassung schnell zu googeln wäre). Aber weil ich nun einmal so bin wie ich bin, las ich zuerst das Wort Wuthering auf Deutsch. Und dann musste sie her, die Geschichte vom zornig wütenden Hering.

   Kleine Warnung noch am Rande: Die nun folgende Geschichte ist so sinnlos wie ein Küchentisch in der Dusche. So liest sie sich übrigens auch.


IMMER DIE WUT.

Sie entschied und beeinflusste Riggits gesamtes Leben.

Jedes Ereignis, das seinen Werdegang in eine neue Bahn lenkte, wurde durch sie ausgelöst und auch wieder beendet: Mit Wut. Damit zum Beispiel seine erste Freundin genau das werden konnte, seine Freundin, musste sie auf ihren Freund wütend sein, weil dieser sie zu lange ignoriert hatte und ihn bestrafbetrügen, mit Riggit. Später stellte sich heraus, dass er bloß von einer falsch eingestellten Kindersicherung versteinert worden war, aber das ist eine andere Geschichte. Die Beziehung endete jedenfalls auch wie so begonnen hatte. Riggit schenkte ihr zwar genug Aufmerksamkeit, war jedoch ständig schlecht gelaunt, was sie schließlich auch schlecht launte und eines Tages auf die Idee brachte, es mit einem Aufmunterungsbetrug zu versuchen und zwar mit ihrem zuvor statuisierten Ex. Riggit kam dahinter – denn Statuen sind zwar ziemlich steinern, aber auch unglaublich schlechte Lügner – und kochte einmal mehr vor Wut.

So läuft es halt mit der Wut: Jemand ist wütend und das macht andere wütend, und wieder andere, weiter und weiter, bis der Zorn irgendwann zum Urheber zurückkehrt und der Kreislauf von vorn beginnt. Die Wut ist ein Flächenbrand, der schier endlos weiterwandern kann, über Jahre und sogar Generationen. Und dabei hinterlässt sie nichts als Frustration, Blutfehden, Kriege und schlechte Blog-Einträge voller Flüchtigkeitsfehler.

Für Riggit war sie der Anfang aller Dinge: Als seine Mutter, über die er nicht gern sprach, mal so richtig wütend auf ihren Vater war, hüpfte sie mit einem dauerwütenden Sprengfischer in die Kiste, der – weil sie sich im Streit kennengelernt hatten – ihr eins auswischen wollte, indem er auf jede Form von Verhütung verzichtete. Ihr Götter, war sein Techtelmechtel wütend, als ihr das bewusst wurde. Sie riss ihm glatt beide Beine aus. Was wenig später noch mal geschah, nachdem der Schwangerschaftstest ein deutliches „schwanger mit einem Kind von diesem Arschloch“ ausgab. Es war übrigens der erste Schwangerschaftstest, der einem Mann vom Rektum bis ins Gehirn fuhr. So jedenfalls entstand Riggit.

Und sogar seinen Namen hatte er der Wut zu verdanken, denn eigentlich hätte Riggit anders heißen sollen, nämlich Marten, wie sein Erzeuger und alle männlichen Erstgeborenen bis zurück zu dem Zeitpunkt, als der erste Mensch ein Meerschweinchen am Krabbenzangenstrand aussetzte und so das Fischerdorf gründete, das Riggit Heimat nannte. Nicht nur, weil es seine war, sondern auch so hieß: Heimat. Meerschweinchenzüchter halt! Fähige Leute und auch unglaublich kuschelbedürftig, jedoch alles andere als kreativ bei der Namenswahl.

Marten jedenfalls wäre ein guter Name gewesen – schick aber gewöhnlich, überall anzutreffen und besaß auch keine besondere Bedeutung. Wer Marten hieß, wurde nur schräg angesehen, wenn ihm auf der Stirn ein zweites Arschloch wuchs. Wäre da nicht Riggits Vater Marten gewesen, der wiederum seinen Vater Marten wütend war, so dass er sein erstgeborenes Kind im Zuge einer Traditionsrebellion Riggit nannte.

Riggit! Bei den Göttern von Quetschnest, wer nennt seinen Sohn Riggit? Das bedeutete in der geheiligten Altsprache der Juropins ungefähr soviel wie Blutbrustwarze. Nun waren Riggits Brustwarzen wirklich rot und saftig wie die blutig geschlagene Nase eines bretonischen Alkoholikers am Kondomautomat, aber dieser Name bereitete ihm trotzdem mehr als genug Elend. Er machte ihn zum Gehänselten und wurde so zu einem verbitterten Erwachsenen. Das war er jetzt: Verbittert und wütend. Wütend wie eine 40-jährige Veganerin und auch nicht nur wegen seines Namens – „denn wer immer wütend ist, zieht im Regelfall nur noch mehr Dinge an, die ihn wütend machen“, sagte einmal ein weiser Mann, der all seine Sprüche aus einem Abziehkalender gestohlen hatte.

Riggits Vater Marten brachte der Namen seines Sohnes ebenfalls kein Glück. Der wütende Geist von Oppa Marten entstieg nach dem Ritual der Namenskonsolidierung dem Tiefengrab und ersetzte die Augäpfel des störrischen Nachkommen durch kleine Triebwerke. Was dessen Sehkraft deutlich einschränkte und wiederum Vater Marten so wütend machte, dass er nach Warzle, der hundsgroßen Hauskröte trat, die sich für Tage in sein Bein verbiss und es zur Hälfte verdaute. Das Ergebnis: Alle Beteiligten wurden nur noch wütender und Warzle kochte regelrecht, aber auch, weil sie danach von Papa Marten ein finales Bad im Kochtopf bekam. Was wiederum Riggit vor Zorn kochen ließ, denn er hatte Warzle immer gern gehabt – wenn sie nicht gerade sein Bett volllaichte.

Das jedenfalls war die Wut: Ein endloses Feuer, dem nie der Treibstoff ausging und alles verbrannte.

***

Diese Lektion sollte Riggit mit Mitte 30 ein weiteres Mal lernen. Denn so ist das mit Lektionen des Lebens – man erhält sie wieder und wieder, auch wenn man sie schon längst verstanden hat. So steht es jedenfalls am 17. Mai im Abziehkalender geschrieben, gleich unter einem Witz über Immigration, den man politisch korrekt so dermaßen weichgespült hat, dass er nur noch einen Rentner zum Lachen bringt.

An jenem schicksalshaften Kraunschtag jedenfalls, dem karantanischen Äquivalent eines mukoviszinischen Mittwärtstags, grub sich Riggit wie an jedem Morgen vor dem Sonnenaufgang aus dem Bett, wusch sich mit zwei Eiern die Haare und machte sich danach ein üppiges Omelett aus Kinderschampoo mit Erdbeergeschmack. Er schnüffelte sogar noch eine Minute an seinem besten Raketentreibstoff und opferte der Schutzgöttin Karantan ein Meerschweinchen, indem er es in einen der gefräßigen Schlote warf, die am Ortsende aus dem weichen Torf wuchsen. Er hatte es sogar eigens dafür aus dem Käfig im Garten seines Vermieters gestohlen. Aber nicht alles, was gut beginnt, nimmt auch ein –

Zugegeben, der Tag hätte besser enden können. Zum Beispiel mit Riggits Tod. Aber dazu kommt es noch.

Die Sonne schickte ihre ersten Strahlen über die Ruinen der Wolkenkratzer, die eine Meile vor der Küste aus dem Wasser ragten, da saß Riggit bereits in seinem Viskoboot und fuhr in die offene See hinaus. Mit Allradantrieb, denn ein Viskoboot funktionierte auf den ersten Blick wie ein Strandbuggy, sah auch wie einer aus und fuhr auf vier Reifen über das Wasser. So konnte man darauf Vollbremsungen durchführen, erstklassig driften, ja sogar parken oder sich im Zick-Zack-Muster hohe Wellen hinaufarbeiten. Grund dafür waren die äußerst anti-viskosen Reifen, die bei hohen Geschwindigkeit sogar über Nebelbänke bretterten. Schräger Fakt am Rande: Früher, vor den Latschobotern, war man so, also auf vier Reifen, auch über das Land gefahren. Extreme Materialabnutzung garantiert.

Riggit jedenfalls genoss diese Fahrten. Eine Hand am Steuer, die andere am Schalthebel und vor sich nichts als die endlose Freiheit des Tibetanischen Beckens. So, als gefühlt echter Mann, fuhr er jeden Tag zur See.

Vorbei an den Spitzen aus weißem Bauxit: Sie waren einmal die höchsten Punkte eines Kongresszentrums für Eucharistie gewesen, damals vor dem Gutgemeinten Atomkrieg.

Vorbei an den alten Kirchtürmen, die in dunklen Zeiten wie von Geisterhand gezogen läuteten – in Wirklichkeit war’s ein Frühwarnsystem aus dem Zweiten Zweiten Weltkrieg, das aber auch auf Geistern basierte.

Vorbei an der sogenannten Welle, Die Nicht Wollte, also einem Hügel aus Wasser, der nicht wie eine Welle brechen oder  wie ein Hubbel absinken wollte, so als wäre für ihn die Zeit eingefroren.

Und an all den anderen Etappen, die Riggit jeden Morgen hinter sich ließ und über die er jeden Abend wieder zurück nach Hause fand. Früher hatte es ja einen praktischen Leuchtturm gegeben, aber der musste sich ja vor einigen Monaten als eine der letzten Kolonieraketen der alten Peristaltiker entpuppen, als er nach einem dummen Lausbubenstreich auf Nimmerwiedersehen das Sonnensystem verließ. Mitsamt dem Lausbuben, dem Leuchtturmwächter und Professor Zarpan.

Aber daran wollte Riggit gar nicht denken. Nach weniger als fünfzehn Minuten Fahrt war er am Ziel, draußen, weit vor der Küste. Er parkte den Wagen über einer Sandbank, zog die Handbremse an und ließ den Morgen gemächlich in seine Seele scheinen. Vor ihm lag die endlose See, eine Fläche aus azurblauem, flüssigem Kristall; hinter ihm das Land, dunkelbraun mit grünen Flecken; direkt am Wasser das Dorf Heimat mit seinen vielen Hütten, cremebraun bis backsteinrot, die sich wahllos den Hügel hinab am Wasser sammelten. Davor tummelten sich die Stege und Molen, an denen die Viskoboote parkten und hinter dem Dorf, nur noch schwer zu erkennen, das helle, feine Blättergespinst hunderter Olivenbäume. Und jenseits dieser wuchsen die Türme der Burg von Atom-Ritter Garchtibald empor. Heißt: Sie wuchsen wirklich, aus einer festungsbildenden Schnecke irgendwo am Grund des Gemäuers.

In diesen Anblick, den seine wundersame Heimat bot, hätte sich Riggit endlos verlieren können. Und manchmal tat er das auch, fischte dann den ganzen Tag nicht mal eine Sardine und bekam’s arg mit dem Hafenmeister zu tun.

Das wäre heute vermutlich auch passiert und es wäre besser gewesen, hätte ihn nicht der Arbeitsalltag eingeholt und das mit einem Donnern, irgendwo zwei Meilen östlich. Gefolgt von einem weiteren, irgendwo vier Meilen nördlich. Die ersten Sprengfischer begannen damit, ihrer Berufsbezeichnungen nachzugehen. Riggit tat es ihnen auch, u.a. auch, weil er gern bezahlt wurde. Er holte sein Subversionsgewehr aus der Kiste unter der Bank, eine schöne, weiße Energiewaffe mit einem schneckenförmigen Lauf und einer Ladetrommel aus gelblich-weißem Gastrolithgestein, steckte einen zappelnden Energiezellenzwerg in den Ladeschaft, legte an und –

KLIUMPP! So klang es, wenn Impuls den Lauf verließ und sich unter die Wasseroberfläche bohrte.

CHUIII! – war zu hören, während die Subversionsenergie in etwa sechs Metern Tiefe die Regeln der Physik aushebelte

DI-PUCH! – als sie wieder in Kraft traten und sich das Wasser zu einer Implosion vereinte, die sich immer sofort zu einer Explosion umentschied.

Und ein WUCH-SCHRRRL-SCHRRRL! – als es um Riggit herum zu brodeln begann. Tausend und Millionen Luftblasen stiegen aus der Tiefe empor, gefolgt von unzähligen Fischleibern, großen und kleinen, grauen und silbernen, roten und braunen. SCHRRRL-Schrrrl-schrrl

Riggit beäugte stolz die erste Ausbeute und schaltete den Saugsortierer ein, eine Vorrichtung die back- und steuerbord seines Bootes das Meerwasser einsaugte und über ein Ventil am Heck sprudelnd zurückgab (in Riggits Fall war das ein pissender Gartenzwerg). Erfasste sie einen Fisch, trennte sie ihn automatisch von Schlick, Algen, Parasiten, Ausländern und anderen ungewollten Elementen und entgrätete sie, bevor sie den Fang pürierte. Was dem Job betäubend einfach machte. Weshalb er wiederum meist auch nur von Hobby-Autoren praktiziert wurde, denn die brauchten ihre gesamte Geistesleistung ja für ihre zukünftigen Bestseller, die jedoch nie ihre Schublade verlassen würden.

So lief es jeden Morgen und das schon seit über hundert Jahren. Sprengfischen war seit jeher Tradition der Bewohner von Karantan. Ja richtig, die Insel ist nach ihrer Schutzgöttin benannt worden, denn genau genommen war ihre Schutzgöttin diese Insel. Die tausendmäulige, bewusstseinsfähige Riesententakelkrabbe Karantan hatte sich dort vor ein paar hundert Jahren zum Schlafen hingelegt und war alsbald von Menschen bewohnt worden, die Zuflucht vor den Bildschirmkriegen auf dem Festland suchten.

Dass die Körpersäfte der Insel / Göttin endlos Fische anlockten, stellte sich dabei als netter Bonus heraus. So aßen die Menschen Oliven und verfütterten angebaute Pflanzen an die Meerschweinchen, die wiederum von Karantan gefressen wurden, die wiederum ein nahrhaftes Sekret produzierte, das für wachsende Fischpopulationen sorgte. Ein Kreislauf, von dem alle Beteiligten profitierten. Und sollte dieser einmal gefährdet werden, hatte man bereits in Karantans Gehirn einige Bomben installiert. Nicht, dass die Göttin irgendwann eigene Pläne hegte, wie zum Beispiel jemals wieder aufzustehen.

Das soweit also. Den Rest des Tages verbrachte Riggit wie jeden zuvor. Er jagte einen Subversionsimpuls nach der anderen ins Wasser, ließ Seewasser-Bachforellen, Meeresesel und ins Meer geworfene Kondome einstrudeln, freute sich über einen angeschwemmten Becher Quallenquark sowie einen verzauberten Seeotter, der jedem Retter einen Wunsch erfüllte („Einmal frittierte Basilikumfäuste bitte!“ – „Aber ich könnte dir auch …“ – „Du hast die Wahl: Frittierte Basilikumfäuste oder frittierter Otter!“ – „Okay, okay …“) und musste lediglich einen Meerjungmann aus dem Saugstutzen befreien. Die blöden Viecher verwechselten das Knattern des Saugsortierers zu oft mit dem Paarungsgesang eines Weibchens und verfingen sich dann unglücklich darin – was wiederum viel über die Gesangskünste jener Spezies verrät.

Zum frühen Mittag kamen schließlich auch die Möwen und Riggit packte seinen Mehlwerfer aus. Zwei, drei Pulvergranaten in die Luft gebolzt, weiße Stachelwolken donnern in den Himmel, zwei, drei Dutzend Möwen, die zerrissen ins Wasser stürzen und die kreischenden Nutznießer verzogen sich zum nächsten Fischer. Das war leider Barak Baracke, ein ehemaliger Krieger-Taucher und als ein solcher benutzte er natürlich Infraschall, um die armen Tiere hungrig zu verscheuchen, anstatt ihnen einfach mit hochbeschleunigtem Mehl sämtliche Knochen zu brechen und ihnen somit die weitere Nahrungssuche zu ersparen. Ein Tierquäler sondergleichen!

Zum Feierabend hin betrank sich Riggit normalerweise hemmungslos zu den Hits einer steinsgefährlichen Zaubergitarre aus den 20-86ern und kurz vor dem Ende seiner Schicht versuchte er mit dem sechsten und letzten Impuls im Gewehr das Haus seiner Ex-Frau zu treffen. Glücklicherweise hatte ein Subversionsgewehr nicht so viel Reichweite, aber das verstand Riggit schon nicht mehr, denn genauso glücklicherweise war er zu dem Zeitpunkt stets voll wie ein Eimer.

Dieses Mal jedoch nicht.

***

Dieses Mal war er wütend. Die ganze Nacht lang hatten die Meerschweinchen im Garten seines Vermieters kopuliert – weshalb er ihnen am nächsten Morgen auch eine Massage durch Zahnreihen spendierte, in Karantans Schlundschloten –, während Riggits einzige Geliebte der letzten sechs Monate aus fünf Fingern bestand und am Ende seines rechten Arms aus dem Gelenk wuchs. Dazu kamen die ständigen Mieterhöhungen und die dumme Patinka, die Tochter seines Vermieter-Nachbarns, die sich jeden Abend bis tief in die Nacht das Hirn mit grützdämlichen Serien aufweichen ließ. Schön laut, damit auch die ganze Nachbarschaft erfuhr, ob es Justin gelang, seine Mandy notfallzuschwängern. Und dann war da immer noch sein Name!

Und das machte Riggit wütend! Heute mehr als sonst!

Er richtete das Gewehr also punktpräzise auf die kleine Hütte am Krabbenzangenstrand, sprach eine Nano-Motivation für mehr Reichweite – die er sich wochenlang beigebracht hatte – und … holte tief Luft. Riggit, muss man dabei wissen, war kein Mörder und wollte auch ganz sicher keiner sein. Ja, er hatte eine Zeitlang Leichen für die Kirchenmafia als Fischköder entsorgt, aber doch nur, weil er selbst nicht als welcher enden wollte und natürlich auch, weil das ein gläubiger Azteke so tut. Außerdem hatte er die Reichweiten-Motivation, den sogenannten „Wurstfinger des Windes“, auch nicht auswendig gelernt, um seine Ex über den Strand zu verteilen – die ihn ja auch nur verlassen hatte, weil er und das Fremdgehen wie gute Kumpels auftraten, immer zusammen – sondern um auf hohe Distanz hübschen Frauen nachzupfeifen. Auch die Subversionsimpulse in Richtung seiner Ex waren nur eine Geste gewesen, so ein „Ich kann dir immer noch nicht verzeihen!“. Das verstand er nun mehr denn je, jetzt, wo er die Gelegenheit hatte, die bildhübsche Robotrine wirklich zur Hölle zu blasen.

Wollte er das wirklich tun? Gut, er hatte schon ein paar steinsgefährliche, fast psychotische Tendenzen – immerhin feuerte er seit fast einem Jahr jeden Tag einen Sprengimpuls in ihre Richtung –, aber er war doch kein Mörder! Von sich selbst schockiert, ließ er die Waffe sinken. Und drückte aus Versehen ab.

Es peitschte – das war die Nano-Motivation. Es schwuppte – das war der Impuls. Es donnerte, viel zu leise, viel zu spät … und viel zu tief. Das Wasser brodelte, dieses Mal anders und was an die Oberfläche kam, gehörte zu den Dingen, die unter der Fünf-Augen-Grenze lebten. Auf dem jetzt schlammigen Wasser trieben die Überreste von mindestens sechs menschenfressenden Gummistiefeln, ein toter Seemannsgeist und ein strampelnder, feuerroter Fisch – der noch lebte!

Potztausend und Kanonengurken! Dieses Tier hatte eine Subversion überlebt. Und was für eines es doch war: Im Wesentlichen bestand es aus drei zahnbewehrten Mäulern, wobei ein Maul das nächste hervorwürgte, so als hätte ein augenloser Fisch einen Artgenossen zur Hälfte verschluckt und wäre mittendrin von einem anderen halb verschluckt worden. Nur aus dem Dritten und Vordersten spitzte lediglich eine kleine Mlem-mlem-Zunge hervor.

Ein Wuthering! Riggit kannte diese Kreatur, noch von damals aus dem Atmosphärenkloster auf dem Mond, von den alten Toilettenrollen: Das war ein Wuthering! Dieses Mal ein echter!

Der Fischer staunte und streckte, dumm wie ein Zehnjähriger am Ziegengehege, den Finger nach dem roten, zähnebewehrten Fisch aus, wozu auch immer. Da machte es ein KRAP!, als ihm der zappelnde Wuthering den Zeigefinger abbiss als wär’s ein Babykaröttchen aus dem Supermarkt.

Riggit wurde sofort wieder nüchtern. Und stinkwütend! Klar, der Finger würde auf einem Meerschweinchen nachgezüchtet und ihm wieder angenäht werden, aber dieser verfluchte kleine Wuthering – dafür würde er mit dem Leben bezahlen!

Riggit warf den Saugsortierer an und verfolgte gierig, wie der dreimäulige Fisch vom Sog erfasst wurde und im Saugstutzen verschwand. Doch damit war es nicht vorbei. Sogar die Gummistiefel, die dafür bekannt waren, bösartig und zäh zu sein, wurden ganz selbstverständlich kleingemacht – gut, sie waren ja auch schon tot –, der Fisch aber gab alles und vor allem nicht nach. Er kämpfte gegen die Maschine, erbittert. Sein stahlharter Schwanz trommelte gegen ihr Gehäuse, bis sie heulte. Und sogar qualmte.

Ihr Besitzer bekam es mit der Angst zu tun. Wenn der Saugsortierer zu Bruch ging, wäre er ruiniert. Er besaß nicht einmal halb so viele Computerchips, um die Reparatur bezahlen zu können! Also schaltete er den Sauger ab, der Wuthering befreite sich lärmend aus dem Rohr und schoss ins Freie … und zwar genau in Riggits Geheimwaffe.

Doch dazu muss man kurz ausholen: Vor vielen hundert Jahren begannen die ersten Menschen mit der Herstellung von Plastik. Sie verwendeten es für Einkaufstüten, Kugelschreibergehäuse, in Joghurtbechern sinnlos mitgelieferte Plastikgabeln (denn Joghurtz isst man immer noch mit einem Löffel), aber auch für selbstwärmende Vibratoren für vaginale oder Prostatastimulanz, bevor sie diese alle wieder entsorgten. Das waren Tausende und Millionen Tonnen von Plastik, die in Müllhalden und danach unter der Erde verschwanden, ein Zeitalter begraben lagen und zu einer Sedimentschicht gepresst wurden. Dieses Sediment nannte sich völlig unerwartet Pressplastik – unerwartet, weil es sich tatsächlich selbst benannt hatte – und war so wertvoll wie stabil.

Riggits seliger Großvater hatte seinem Enkel eine Handvoll vermacht, eigentlich, damit dieser vom Erlös ein schönes Haus bauen konnte, aber er plante weiter. Alle lachten ihn aus, als er es verarbeiten ließ; die Fischer, die Handwerker, Atom-Ritter Garchtibald, die niemals lachenden Mönche von der Insel-bei-der-jeder-so-tut-als-würde-sie-nicht-existieren, ja sogar die professionellen Auslacher von Malk-Schnur, die sonst nur Menschen auslachten, wenn man ihnen dafür eine verdammt große Summe Computerchips bot. Sie lachten, denn der beste Plastikschmied der Insel machte aus Riggits wertvollstem Besitz einen Kescher. Kein Schwert, keine Angel, kein Bildnis und keine Turbine, sondern ein einfaches Fangnetz an einem Stab.

Und in genau dieses jagte der Wuthering nun hinein. Die Wucht war so gewaltig, dass es Riggit herumriss. Er drehte Pirouetten, vollführte regelrecht einen Tanz auf der Ladefläche seines Viskoboots im Kampf gegen das Wutwesen. Seine Arme explodierten vor Schmerz, während er versuchte, diese Gewehrkugel von einem Fisch in der Luft zu bremsen. Was gelang.

Einen Augenblick lang.

Dann wütete der Fisch noch wütender als zuvor, jagte mitsamt dem Kescher zurück ins Wasser – in dem er die Luft mit seiner Schwanzflosse wegpeitschte – und ließ Riggit die Wahl: Lass los und du wirst deinen Pressplastikkescher nicht wieder sehen! Oder: Halte dich fest und ich ziehe dich in Tiefen aus denen nicht einmal die Taucher-Krieger der Muschelmanen zurückkehren! Riggit entschied sich für eine dritte Möglichkeit, blitzschnell und mit katzenartigen Reflexen: Er sprang in seine für Angelausflüge festgeschraubten Skischuhe, spürte, wie sie sich stahlhart um seinen Knöchel legten und ließ den Fisch kämpfen. Und das tat er! Bei der Göttin Karantan und dem Feldspatwürger Wiskewar, das tat er!

Der Wuthering, jetzt in voller Blüte seiner Glutwut, zersägte das Meer wie eine Stichsäge das Fleisch eines Dissidenten in bolivianischer U-Haft und zog dabei das Bootsauto hinter sich her, als wäre es eine Verlängerung seiner Schwanzflosse. Oder ein Witz. Riggit konnte ihn nicht lenken und nicht aufhalten, sondern nur festhalten und schreien. So taten beide, Jäger wie Gejagter, Feind wie Fresser, auf was sie sich am Besten verstanden: Sie wüteten.

Der Wuthering schlug Haken. Er wollte Riggit abschütteln und rammte sein Viskoboot gegen das von Barak Baracke und hätte es wohl zum Kentern gebracht, hätte sich der Ex-Militär nicht sofort mit einer Triebwerkstrahl-Nano-Motivation zu Helfen gewusst. Er übertrieb aber ein bisschen – Militärs halt – und sauste bis zur verbliebenen Mondhälfte hinauf, wo er sich für den Rest seines Lebens von Bananen ernährte.

Barak hob gerade ab, da jagte der Wuthering mitsamt Riggit durch Türme des Kongresszentrums, um den Fischer irgendwo gegen den Asbest zu knallen, aber dieser ließ nicht locker. Zum Schluss steuerte er auf den Strand zu, in blinder Wut und bohrte sich mitsamt dem Boot im Schlepptau hinein. Oder schlimmer: Hindurch. Er schwamm durch Land. Seine Flossen stoben Sand, Erde und Fels, Meerschweinchen und Ex-Frauen beiseite, als wären sie Wasser. Sie spalteten Bäume in der Mitte durch, als die Kontrahenten durch ein Waldstück jagten und gruben Furchen durch die Äcker für Meerschweinchenfutter. Riggit schluckte Dreck, Staub, Steine und Oliven. Endlos davon.

Er verlor wohl sogar das Bewusstsein

***

Dabei träumte er. Oder phantasierte. Von einem Land, wo man Limonade in Milchreis mischen durfte, ohne schräg angesehen zu werden. Ein Traum. Ein Wunsch. Von einer besseren Welt.

Außerdem gab es dort Kinderwägen aus Sahne. Auch so etwas ist in Träumen möglich.

***

Als Riggit wieder zu sich kam – falls, nur falls er wirklich bewusstlos gewesen war – hörte er ein Klatschen. Und eine Mischung aus Fauchen und Grollen – ein Frollen. Von einem Herzschlag auf den nächsten war der Sprengfischer wieder da. Kleine Wunden sprenkelten seinen Körper, blaue Kühlflüssigkeit tropfte vom linken Arm. Aber das war nur ein Kratzer verglichen mit dem Viskoboot.

Das Bootomobil lag in einem der Weizenbunker, also einem der Täler, die jemand in grauer Vorzeit und ohne jeden Grund bis zum Rand mit ungenießbaren Weizenkörnern aus lackiertem Eisen gefüllt hatte. Die Außenwände des Bootes waren stark zerkratzt, sein Chassis verbogen, die Hinterradachse gebrochen … und der Saugsortierer praktisch nicht mehr zu gebrauchen. Er wirkte, als hätte sich ein Rudel von Altruisten-Nazis daran vergangen: Verbeult, eingetreten, aller Würde beraubt und trotz eines gültigen Asylantrags abgeschoben worden.

Riggit schossen die Tränen in die Augen. Er kannte das Schicksal der Fischer, die ihre Reparaturen nicht bezahlen konnten, wie sie auf Karantans höchsten Buckel in die Chitinminen gesteckt wurden und nie wieder nach etwas anderem rochen als toter Krabbe.

Da hörte er wieder dieses Frollen. Der Wuthering! Dieser Teufel von einem Fisch lebte noch, gerade so und wand sich rot-glühend auf den Eisenkörnern auf und ab. Dabei frollte so unheimlich wie fürchterlich. Seine Wut ließ die falschen Weizenkörner zu ungenießbarem Glühbrei zerschmelzen. Eine Chorona aus alles vernichtender Hitze umgab ihn.

Egal! Dann brauchte er eben noch ein paar naturgesetzbrechende Impulse, überlegte Riggit und suchte sein Subversionsgewehr.

Noch bevor er es aber entsichern konnte, rauchte der Hering aus. In Gemüt und auch körperlich, so dass ihn Riggit endlich mal studieren konnte: Sein wunderschöner, rotgeschuppter Leib, der nur aus Mäulern bestehen zu schien, in denen weitere Mäuler warteten, glitzerte im Licht der Milchtütensonne und immer, wenn er eine seiner letzten, schwachen Bewegungen machte, schien es, als wäre er Fleisch und Schuppe gewordenes Feuer. Das war er der Sage nach auch: Wutheringe bestanden laut den Biomanten aus nichts anderem als Wut in festen wie gallertartigen Formen, einem Silberdraht und etwas Bauxit.

Der Fisch zischte plötzlich, Riggit griff nach dem Gewehr und hätte sich wohl mitsamt dem Schuppentier in die Luft gesprengt, hätte es nicht auf einmal gesprochen: „Mein alter Freund, sparen Sie sich Ihre Munition“, bat es im höflichen, gediegenen Dialekt eines englischen Gentleman aus der High Foliage. „Meine Verletzungen – sie sind bereits tödlich. Sie haben mich wie einen Gentleman besiegt und nun endlich von allem befreit.“

Riggit fragte sich noch, wie ein Kiemenatmer die Sprache eines Kehlkopf mit Stimmbändern sprechen konnte, erinnerte sich aber daran, dass der Wuthering mit höchster Wahrscheinlichkeit ein magisches Wesen aus dem Zeitalter war, als das Internet mit Hilfe von Millionen hochentwickelter 3D-Drucker in die reale Welt vordrang.

„Weil du nun keine Wut mehr spürst?“, fragte der Sprengfischer.

„Wutheringe verbringen ihr ganzes Leben in Rage, mein alter Freund. Sie wüten sich aus dem Ei, erkämpfen sich jede Flocke Nahrung und zerstören alles auf ihrem Weg, den realen wie den des Lebens. Erst gegen Ende wird uns ein Moment der Besinnung gegönnt, so dass wir alles Verbrochene und Verschuldete noch einmal aufrichtig bereuen dürfen.“

„Gibt es denn viel, dass du bereust?“

„Oh, mein geliebter, aber doch unschuldiger Freund. Ich bin ein Wuthering. Ich zerfleischte sämtliche meiner Geschwister, darauf meine Eltern und viele Generationen meiner Kinder. Während der Sowjetunion war ich der Aufseher eines Arbeitslagers und in meiner Phase der Rekuperation, da war ich das Medikament Contergan. Es gibt nur Weniges, das ich nicht bereuen könnte.“

„Zum Beispiel“, erwiderte Riggit, obwohl er sich mehr für den Arbeitsalltag eines Wutherings als seine Sühnepunkte interessierte.

„Ihr Boot verwüstet zu haben, mein alter Freund.“

„Du bereust das nicht?“

„Als ein Mann von Ehre muss ich ehrlich verneinen.“

„Warum?“

„Sind Sie nicht ein Sprengfischer in elfter Generation?“

„Ja.“

„Und stellt das Volk der Karantaner nicht aus dem allermeisten Teil der gefangenen Fische eine Katzenpaste her, um so die Katzen davon abzuhalten, sich an den Meerschweinchen zu vergreifen?“

„Das ist richtig.“

„Und das, obwohl es auf Karantan seit dem Unfall im Atmosphärenkloster und dem Bleistiftregen keine Katzen mehr gibt?“

„Ja, aber es könnte sich wieder eine über ein Schiff auf die Insel schmuggeln. Und sobald so ein Mistvieh damit anfängt, Eier zu legen …“

„Doch anstatt die überschüssige Paste zurück ins Meer zu geben, damit sich daran Möwen, Krabben und Obdachlose wie Fische laben können, verbrennt man sie.“

„Das Meer stinkt sonst so ranzig.“

Der Hering zischte. Ein tiefes Zischen, wie aus der Kehle eines Drachen, auch wenn es glücklicherweise keine Drachen gab. Dampfbetriebene Antilopen vielleicht, aber keine Draconiden. „Nein, mein alter Freund“, stöhnte das Fischel, „der Sie einem überflüssigen und überflüssig grausamen Tagewerk nachgehen, das es nur noch gibt, da es staatlich subventioniert wird und man bei der Arbeitskraftentlohnung eine Null zu viel ansetzte und das bisher nicht bemerkte – nein, ich bereue es nicht, Ihr Boot zerstört zu haben. Und doch muss ich einen letzten Gefallen von Ihnen erbitten.“

Riggit wartete schweigend ab.

„Den alten Sagen nach darf ich nur ins Reich meiner Ahnen, der großen Methalle von Walhall, wenn man mir einen englischen Namen schenkt. So will es Odin, der einäugige Gott der Aquariumsfilter. Bitte, mein alter Freund, benennen Sie mich, ehrlich und englisch.“

Der Fischer zögerte. Er haderte sogar ein wenig. Und ließ dem Fisch Vergebung zuteilwerden: „Ich, Riggit Redelrauf Rill von der Insel Karantan, Sohn von Marten Rill, Sohn des Marten Rill, Sohn des Marten Rill und das jetzt noch sechsmal, nenne dich ab jetzt … Sir Eleanor Curbelbench Winterbitty.“

„Das Wort Sir, mein alter Freund, ist eine Anrede.“

„Und nun auch dein Name.“

Der Wuthering kochte auf einmal wieder vor Wut. Ein letztes Mal: „Was ist das denn für ein scheiß beschissener – glörkh!

Viele Jahre später pilgerte Riggit zum Großen Internetschrein der Ah-Oh-El-Kirche und guhgelte dort das letzte Wort des Herings: Glörkh. Es stammte wohl aus dem vor langer Zeit ausgestorbenen Neo-Alt-Suaheli und beschrieb das meist metallene Endstück eines Schlauches, mit dem man eine Waschmaschine mit der häuslichen Wasserversorgung verband. Im Falle des Wutherings hatte es aber wohl nichts bedeutet, sondern war einfach nur der letzte, erstickte Laut gewesen, den diese Kreatur auf dem Weg nach Walhalla von sich gegeben hatte.

Ach ja, ohne dass es eine Rolle spielt, sollte wohl erwähnt werden, dass ein Trupp Wutselkobolde den Kampfplatz im Weizenbunker entdeckte und beim ersten Anblick zerplatzte. Im Allgemeinen zerplatzten die Wutselkobolde von Karantan bei jeder sich bietenden Gelegenheit und als man sich endlich fragte, wieso diese Spezies immer noch nicht ausgestorben war, fand man eine alte Klonfabrik, die wohl durch einen Blitzeinschlag wieder eingeschaltet worden war und seitdem Tausende der quirligen Platzbomben in die Welt gesetzt hatte.

***

Es wurde Abend. Die Sonne flackerte schon und würde vermutlich in Bälde abgeschaltet werden, da erreichte Riggit verletzt, abgekämpft und müde das Dorf. Am Hauptplatz hatte man bereits den Weihnachtsbaum dekoriert, man würde bald die Verspeisung der Geschenke proben und die Mundpriester verabreichten gerade Karantans Fressschloten ihr verdientes, quiekendes Abendessen.

Heimat war ein kleines Dorf mit vielleicht zehntausend Seelen, wobei davon die Hälfte als Geister durch das Tiefengrab spukten und nochmal viertausend nur noch als Programme in Unsterblichkeitscomputern existierten und nur noch unter Zwang, als Taschenrechner oder Betriebssysteme mit der realen Welt kommunizierten. Mit entsprechend nur etwa eintausend Lebenden war es also klein, jeder kannte jeden und jeder hatte sich bereits gefragt, was aus Riggit geworden war. Das machte es nicht leicht, seine Fracht, den toten Wuthering, unbemerkt nach Hause zu schmuggeln. Die Frage, warum er ihn überhaupt schmuggelte, stellte er sich erst viel später, denn Wutheringe waren weder illegal noch so wertvoll, als dass man ihn dafür überfallen hätte.

Um bloß nicht aufzufallen, tat Riggit also, was er auch sonst getan hätte. Er grüßte seine Bekannten, erklärte sich kurz den Freunden und steuerte gleich darauf den Hafenmeister an, um Bericht zu erstatten. Dieser, ein quietschbunt gekleideter Dandy-Pimp mit einer steinscoolen, magentafarbenen Pornobrille und einem giraffengelben Pompadour, sprang so lässig von seinem Computer auf, dass sogar dem Kaktus auf dem Fensterbrett eine Sonnenbrille gewachsen wäre. Also, rein symbolisch. Tatsächlich hatte das Stachelgewächs schon eine auf.

„Riggi Rigg Riggel, du alte Eukalyptuskombination!“, grüßte der gepimpte Paradiesvogel im coolen Afro-Dialekt. „Alter Falter, bist du Schalterverwalter! Du siehst aus, als hätt’st du einen Feuerdrachen gezüngelt!“ Riggit hätte gern behauptet, dass der Hafenmeister viel zu lange Kommentator in einer Diskothek gewesen wäre, Elektro-Narr beim Hof des Funk-Königs oder von einem Zauberer zum Hampelmann verflucht worden, aber er war wohl einfach nur eine riesengroße Knalltüte.

„Es gibt keine Drachen“, erwiderte der Fischer. „Nur große Reptilien, die Feuer spucken, fliegen und sprechen können!“

„Immer noch deswegen traumatisiert, R-Riggel? Auf der Akademia sagt man, dass es auch so richtig watschechte Nicht-Nachteile haben soll, von einem Dräggo abzustämmseln. Zum Nebenspiel kannste tausend Jahre lang die Rente genießen. Und feuerherzmäßig Napalm statt Blut haben.“

„Kühlflüssigkeit. Aus einer Reihe an Gründen. Wenn es Drachen gäbe.“

Die Finger des Hafenmeisters schienen sich selbstständig zu machen, als sie hektisch, wie Hamster auf der Herdplatte, über die Tastatur seines Computers hüpften. „Anathema, Richtiger Rigg: Bist du heute noch recht und zeitig vom Wasser runterschaluppt? Weeeeil, das kennste ja, du sonst eine Strafe zi-za-zahlen müsstest!“

Riggit seufzte und begann mit der Abfolge an Lügen, die er sich für genau diese Situation zurechtgelegt hatte: „Ein Tentakel kam von irgendwo aus dem Wasser und hat mein Boot einfach so zwölf Meilen ins Landesinnere katapultiert.“

„Haargel und Hammerwurf, diese Tentakel immer zum Wochenende hin! Schicken die ganzen Fischer immer früher heim und dann auch noch in die Kneipen. Die gute Nachricht aber: Du bist rechtzeitig an Land. Die Schlechte: Dein Boot ist so weg wie deine Frau. So broken wie dein will to live.“

„Mein Leben ist so gut wie vorbei – kannst du das bitte ernstnehmen?“

„R zum Ig zum Gi zum T, ich würd’s ja. Ohne Shit und Schnitt! Aber seitdem ich als kleines Kind in den Kokainsack meines Vaters gefallen bin, kann ich nur noch Völkervertreibungen ernstnehmen, Jo-Joe?“ – damit hatte er nicht Unrecht. Völkervertreibungen waren wirklich kein Witz. „Ey, ich like dich wirklich gern, Little Rigg, und nicht nur auf Facebook – check‘ mein Profil aus, yo! Hab’ ´n neues Foto hochgeladen! – aber ich muss dich jetzt der City melden. Soll ich gleich, damit se dich morgen schon nach Minneapolis, der Minenstadt karren oder willste noch die Frist? Du kennst ja da Rulez: Bist eine Woche nich‘ auf dem Wasser, macht man dich in den Minen nasser.“

Riggit stöhnte. „Du klingst so, als hätte ein mieser Autor versucht, Jugendsprache zu imitieren.“

„Macht’s nicht besser, Messer.“

„Gib mir wenigstens noch diese Woche.“

„Aber dass du mir nicht flitzt. Du weißt: Wer flitzt, der sitzt. Und zwar auf dem Drehstuhl der Ewigkeit, verstehste?“

Nein, das tat Riggit nicht. Ohnehin konnte kaum jemand mehr als zehn Minuten mit dem Hafenmeister verbringen, ohne nicht einen epileptischen Anfall zu bekommen. „Hör mal zu: Ich weiß, dass es gegen die Regeln ist, aber kannst du mir eines der unbenutzten Viskoboote ausleihen, bis ich genug Chips beisammen habe, um meines zu reparieren? Du würdest mir das Leben retten!“

Der Hafenmeister seufzte zischend durch seine edelsteinbesetzten Zähne. „Glaub mir, Rigger, würde ich instant. Ey, wenn’s moglich wär’, würd’ ich sogar einen anderen fragen, ob er mit dir teilt, damit du wenigstens nicht in die Minen musst, aber die Dinger werden getrackt! Die von der Fahrenden Regierung kriegen das raus und dann muss uns unser geliebter Lehnsherr, Superking-Hustler und Atom-Ritter Garchtibald ganz straight auslöschen. Und zwar unsere ganze hood hier. Mit seinem Atomschwert! Ist schon viel zu oft passiert! Also tut’s mir echt li-la-leid, Mann!“

Riggit unterdrückte wieder die Tränen. „Ich gehe mich jetzt erstmal umziehen“, gab er knapp zurück und tat das wirklich.

„Mach das, Riggiräm. Neue Klamotten, neuer Mann, sag‘ ich ja immer. Auch zu Frauen“, fügte der Hafenmeister noch an und gönnte sich einen letzten Schluck aus der Allesklebertube.

***

So, und jetzt weiß ich nicht mehr, wo diese Geschichte eigentlich hingehen soll.

***

Riggit wohnte im ersten Stock des wahrscheinlich einzigen, zweistöckigen Hauses des Dorfes, das zudem noch ein Existenzhaus und auch deswegen zweistöckig war. Existenzhäuser, Existenzsteine, Existenzbäume oder schlicht alle Existenzdinge, muss hierbei erwähnt werden, waren sehr selten, aber  auch nur ebenso so selten nützlich. Die meisten von ihnen erschienen einfach, von einem Moment auf dem nächsten, manche aus der Vergangenheit, andere aus der Zukunft und wieder andere aus Träumen oder Postern. Es gab keinen Grund, warum sie das taten und im Regelfall auch keinen Zweck. Wenn sie denn einen hatten – und es existierten genug Spinner, die einen suchten – dann war es, nicht in die Landschaft zu passen.

Wie das Schreiende Barcelona zum Beispiel, das vor etwa einem Jahrhundert im eiskalten Bibber-Frier aus dem Nichts erschienen war. Und nicht nur das: Die ehemalige, plötzlich wieder aufgetauchte Hauptstadt Spaniens litt zudem unter einem grausigen Fluch: Sie bestand vollkommen aus Naniten mit einwöchigem Rückkehrbefehl. Alle Einwohner, alle Tiere, jeder Straßenköter, jedes Haus, jeder Torbogen und jedes alte Vogelnest, einfach alles war aus keinem anderen Material als mikroskopischen Robotern gemacht, ohne dass die Stadt, also auch die Menschen davon wussten. Nach einer Woche kehrten die Naniten vollständig an ihren Ursprungsort zurück und versetzten die ganze Metropole mitsamt den Erinnerungen eine Woche in die Vergangenheit. Also gefühlt. Wer nicht mit Barcelona erschienen war, konnte der Stadt beim Zurückspulen zusehen und danach mit den Einwohnern erschrecken, die plötzlich nicht mehr von Spanien zur Zeit des Generalissimo Franco, sondern von Bergen aus gletschereisblauem Permazucker umgeben waren. Und vor Angst schrien. Jede Woche, seit fast hundert Jahren. Soviel jedenfalls zum Schreienden Barcelona von Bibber-Frier, das aber nun wirklich nichts mit dieser Geschichte zu tun hat.

Während das Dorf jedenfalls zum Großteil aus einstöckigen Backsteinhütten bestand, war Riggits Zuhause aus Beton und mit einer Außentreppe ausgestattet. Unter ihm lebte sein Vermieter, ein genauso mit dem Haus erschienener Mann, der sich an nichts erinnerte, außer dass er die Wohnung über sich vermieten musste. Dieser hatte sich irgendwann eine Dörflerin angelacht, sie zum Abferkeln einer Tochter präpariert und einen gerade geschiedenen Fischer zur Untermiete genommen.

Der jetzt zudem auch noch pleite war.

Riggit schleppte sich auf seinen Balkon, ließ den Blick über das Dorf und den bunt erleuchteten Weihnachtsbaum wandern und griff sich eine Nikomotte aus der Luft, die er mit geschickten Handbewegungen zu einer Zigarette verdrehte.

Was sollte er jetzt tun?, überlegte er und nahm einen tiefen Zug der verglühenden Motte. Er kannte die Vertragsklausel, die für Sprengfischer ohne Boot galt: In einer Woche würden sie ihn abholen, die Kommissare der Fahrenden Regierung und in Karantans abgestorbene Panzerschichten schicken. Erbarmungslose Minenarbeit war der Preis dafür, wenn man eines ihrer Viskoboote zu Schrott fuhr.

Natürlich gab es Scheiterfischer, die sich mit ihren Subversionsgewehren gegen die Kommissare wehrten, aber das endete für die meisten damit, als lebender Köpfe ins Große Kritikerregal gesteckt zu werden, wo sie bis in alle Ewigkeit die Filme von Marc Zublin auf Meta-Ebenen analysieren mussten. Die Glücklicheren wurden einfach nur im Feuergefecht zerschossen. Andere suchten ihr Heil in der Flucht, aber die Kommissare, allesamt in humanoide Form gezüchtete Rehpinscherhunde, erschnüffelten früher oder später jeden Läufer – was auch wieder ins Regal führte.

Die besonders verzweifelten Scheiterlinge wandten sich an den Schuldentroll von Malk-Schnur: Der bezahlte zwar ihr Boot, pfändete aber am Ende irgendeine kritische Eigenschaft, wie die Kreativität, die Eigeninitiative oder die Fähigkeit, zu zählen. Ansonsten gab es noch das Tor nach Unbekannt, eine magische Pforte am anderen Ende der Insel, die jeden, der sie durchschritt, in ein fremdes Land voller Abenteuer und Mysterien versetzte. Es mussten gute oder sehr gefährliche Abenteuer sein, denn niemand war je von dort zurückgekehrt. Auch die Aufschrift lieferte keinen Hinweis: „XexoTec Abfall- und Materialauflöser MK 3. Während der Benutzung bitte Sicherheitsabstand einhalten!“ Das war der dümmste Satz, der je auf einem Abenteuerportal geschrieben stand!

Riggit schnaubte.

Gut, beschloss er, jetzt wo er am Ende war, konnte er auch der erste Mensch werden, der das Fleisch eines Wutherings kostet! Und vielleicht schenkte ihm ja der Genuss Superkräfte … oder einen fleischfressenden Ausschlag.

Und wenn schon? Was spielte das noch für eine Rolle?

Riggit schnitt ein kleines Stück aus dem Fisch heraus, nur einen Fetzen rotglühenden Fleisches und garte ihn für eine Stunde im Ofen, während er ihm ein Bett aus Möhren, Kartoffeln, Kapern und Auberginen bereitete. Als Gewürzgrundlage häckselte er Majoran und Rosmarin, einen Plastiklöffel und frische, noch vom künstlichen Morgentau feuchte Petersilie. Das alles rundete er mit einem Kuss aus Olivenöl, Salz und Pfeffer ab. Ganz bekömmlich und ohne Curry. Er kochte seinen letzten Meerrettich zu einer Paste, taute etwas Lachsfilet auf und buk ein Brot, um das eine darauf mit dem anderen als so eine Art Beilage zu kombinieren. Nebenher reparierte er seinen Tennisschläger und übte im Wohnzimmer seinen Aufschlag für den Sonntag, falls er noch einen Sonntag erleben sollte, der nicht vor Schleim triefend zwischen tonnenschweren Chitinplatten stattfand. Natürlich ohne Ball, denn er wollte ja nicht ein Fenster oder seinen frisch gefangenen Fernseher zertrümmern. Danach presste er sich einen Saft aus seinen besten Nüssen und kochte aus den Krümeln in seinem Langhaarteppich eine Suppe, haarig und breiig, bevor er sie aus dem Fenster zum Vermieter hinunterschüttete. Dieser würde sicher erschrecken, wenn er am Morgen einen Haufen auf seiner Terrasse fand, der wie das Erbrochene einer Riesenkatze wirkte. Oder auf seiner Tochter. Denn die dämliche Patinka, dieses dürre Gestell mit den Schlauchboottitten und Hängelippen, lag zufälligerweise auf ihrer Liege und wollte sich wieder einmal nachts sonnen – sie war wirklich nicht das hellste Lämpchen an der Kette –, als sie von Riggit pseudo-vollgekotzt wurde. Das dumme Ding kreischte, lief nach drinnen und verkündete lautstark, ein Riesenvogel hätte sie vollgeschissen. Nein, schreikreischte der Vater zurück, das sieht aus wie Elefantenlaich. Ein Elefant hätte über ihr abgelaicht! Er lud seine übertrieben sechsläufige Schrotflinte durch – das hörte Riggit bis in seine Wohnung – und lief mit seiner Tochter zum Arzt. Dieser irre, schrullige Typ! Man musste nicht mit einer Waffe zum Arzt gehen, auch wenn es zugegebenermaßen bei den Wartezeiten half. Er hatte nur einfach die Angewohnheit, überall mit seiner Knarre aufzutauchen, was ihm ja auch schon das eine oder andere umsonst einkaufen eingebracht hatte. Zum Glück hatten aber die anderen Dörfler längst seine gesamten Munitionsvorräte durch harmlose Fälschungen aus rotem Papier ersetzt. Das war auch –

„Rote Raupenrampe“, fluchte Riggit wie aus einem Kinderbuch. „Der Fisch!“

Dieser war bereits komplett vertrocknet und das Gemüsebett hatte auch schon vor einigen Minuten damit begonnen, den Modeduft Verbrándt anzulegen, während das Brot tatsächlich noch ganz brauchbar zu sein schien. Verdammt, fluchte Riggit in Gedanken, warum ließ er sich auch immer so leicht ablenken?

Also gut, dann sollte es eben nicht lecker sein, wenn er das Fleisch eines Wutherings kostete.

Riggit setzte sich auf seinen alten, quietschenden Sessel, nahm einen tiefen Atemzug und steckte sich das Fischstück in den Mund. Es schmeckte … eigenartig. Gut, ein bisschen nach Heilbutt, vertrocknet auch und eigenartig. Dann verschluckte es sich selbst. Also, es zuckte aufgeregt und jagte in des Fischers Kehle hinab.

Dieser staunte, bis auch schon die Wirkung einsetzte, die zu allererst aus … Frieden bestand. Der Wuthering, das Symbol von Wut, Zerstörung und der meist vertretenen Gattung der Familie der Echten Knochenfische, schenkte demjenigen, der ihn aß, einen wohligen, allumfassenden, aber doch sehr widersprüchlichen Frieden. Riggits Wut verrauchte, die Frustrationen lösten sich auf, so befriedigend, als würde man hartnäckigen Schmutz endlich mit einem Hochdruck-Wasserstrahl wegputzten und der Hass, auf sich und alles, vertrocknete. Er ging einfach – einer psychotischen Ex-Freundin gleich, die nachträglich nichts als die Frage hinterlässt, warum man mit ihr überhaupt zusammen gewesen ist. Zum ersten Mal in seinem ganzen Leben erlebte Riggit einen inneren Frieden. Er umgab ihn wie ein Daunenkleid aus Watte, bettete ihn liebevoll und trug ihn fort.

Denn eigentlich war es kein Frieden, sondern eine tödliche Substanz in den Muskelsehnen des Fisches. Die Riggit zuerst betäubte und dann über den Jordan schickte. Er entschlief friedlich auf seinem Sessel.

Und das leider in einer peinlichen Pose.

Die Mutter der dümmlichen Patinka, die er nur zu oft mit ihrer Tochter betrog(en hätte, wenn er bei beiden auch nur so etwas wie eine Chance gehabt hätte), fand ihn am nächsten Morgen, als sie wie schon so oft für ein paar Minuten an seiner Bettkante stehen und ihn unheimlich anstarren wollte. Ihr Untermieter bekam zu allem Bedauern nur die Bestattung eines Chitingräbers, der er zum Todeszeit ja schon war. Das bedeutete, dass man ihn in einen alten Stollen rutschen ließ und in Karantans salzigem Chitinschleim für die Ewigkeit konservierte. Archäologen gruben ihn viele Zeitalter wieder später aus und betteten ihn als prähistorisches Sexspielzeug in einer wunderschönen Museumsvitrine.

Patinkas Eltern hingegen entdeckten, als sie widerrechtlich Riggits Wohnung plünderten, den Rest vom Wuthering und aßen ihn mit der ganzen Familie bis zur letzten Gräte auf. Sie bekamen das Seuchenopferbegräbnis – was daraus bestand, dass man mitsamt dem Haus verbrannt wurde.

***

Nein, Quatsch! 😉

Natürlich ist Riggit nicht gestorben und ein Wuthering ist, wie heutzutage jeder wissen sollte, auch nicht giftig. Du bist nur verulkt worden ;-P

Den Frieden, den der Sprengfischer verspürt hatte, entstammte nicht dem Wutfleisch, sondern der Tatsache, dass er sich nach einem höllischen Tag zum ersten Mal hingesetzt und entspannt hatte. Die Wirkung des Fleisches sollte allerdings noch einsetzen und zwar schon im nächsten Absatz:

Riggit versank in seinem Sessel, zählte die Sprungfedern, die im Inbegriff waren, sich durch seine Pobacken zu bohren und spürte es plötzlich. Nämlich nichts. Dann auf einmal Wut. Aber nicht Wut, die ihm auf magische Weise vom Wutheringsfleisch eingeflößt wurde, sondern Wut auf sich selbst, dass er sein ganzes Leben die Toilette hinuntergespült hatte, sein Kescher zu einem Klumpen zurückverschmolzen war und er jetzt auch noch einen unbekannten Fisch aß, der genauso gut hätte giftig sein können. Aber glücklicherweise war er einfach nur stark ungenießbar.

Riggit lief zum Fenster und erbrach sämtliche Mahlzeiten der letzten acht Stunden auf die Terrasse hinunter, wo sich gerade die Frau seines Vermieters sonnen wollte – von irgendwoher musste die Tochter das ja haben.

Seltsamerweise war sie jedoch nicht so blöd wie ihr Mann, dafür einen fliegenden Elefanten verantwortlich zu machen, sondern wusste ganz genau, wer sie da mit Mageninhalt zu besprenkeln vermochte. Und von dem hatte sie jetzt genug! Seine ewig schlechte Laune, sein ständiges Genörgel und dann auch noch sein Name: Riggit! Wer um alles in der Welt nannte seinen Sohn Riggit? Freiwillig, also, ohne dass man ihm einen Presslufthammer an die Schläfe drückte? Kwok, Minzte, Straendolier, Kurblodurbhkawan und Josef – das waren Namen, die man einem Kind geben konnte, wenn man cool sein wollte, aber doch nicht Riggit! Und jetzt hatte ihr dieser Riggit, Riggit der Unausstehliche, auch noch beim Mondbaden gezeigt, was er den Tag über so gegessen hatte und zwar, indem er es auf ihr verteilte. Das war jetzt genug!

„Riegel“, kreischte sie (weil sie seinen Namen bis heute nicht aussprechen konnte), zog ihr Schwert – dass sie wie jede bessere Schwertschluckerin im Hals aufbewahrte – und wusste eigentlich auch nicht so genau, was sie mit dem Untermieter anstellen wollte, denn Mord wurde auf Karantan wie auch auf dem Festland mit lebenslanger Telefonzellenhaft bestraft. Was sie aber nicht daran hinderte, mordlustig und stinkwütend an seine Tür zu klopfen. Und als er sie nicht öffnete, sperrte sie diese einfach per Zweitschlüssel auf.

Ob sie ihn wirklich in kleine Würfel zerhackt hätte, oder vielleicht auch nur verstümmelt oder bedroht, fand der Leser dieser Geschichte leider nicht mehr heraus, denn Riggit war längst getürmt. Er sprang vom Balkon ins flauschig-weiche Meerschweinchengehege und flüchtete in die Nacht. Frau Vermieterin – das war übrigens tatsächlich ihr Mädchenname – konnte ihm nur noch hinterherschauen, die Hand wie in einem Liebesfilm nach ihm ausstrecken und einen Seufzer entlassen, der für einen Unbeteiligten wie der einer Möwe gewirkt hätte, die einer sehr unnatürlichen Ursache verstirbt.

Warum war sie so besessen, fragte sich Frau Vermieterin, von diesem dünnhäutigen Sprengfischer mit dem explosiven Gemüt? Warum musste sie sich regelmäßig an sein Bett stellen und dabei darüber phantasieren, wie es wohl wäre, in seinen Eingeweiden zu baden? Brachte er sie wirklich so sehr auf die Palme? Oder war sie einfach nur eine verkappte Psychokillerin?

***

„So bist du also hierhergekommen.

Ich frage mich stets, was Menschen an diesen Ort bringt. Einen Ort, der dafür bekannt ist, dass Vorangegangene in ihm verschwunden sind, spurlos oder auf grausame Weise. Andere kehrten zurück, doch schienen ihre Seelen hiergeblieben zu sein, so leer und teilnahmslos wie sie danach durch ihr Leben schlichen. Dieses Land hier, dieser schwarze Fleck auf allen Karten, gibt nicht. Er nimmt bloß. Warum also pilgert ein Mensch hierher, an den Ort, an dem alles endet?

Als du dich ihm genähert hast, da konntest du es bereits spüren, nicht wahr? Diese Leere, diese Abstinenz von allem, das ist. Über die letzten Meilen hast du bemerkt, wie das Gras spärlich wurde, bis es schließlich einen toten, steinigen Boden freigab. Du hast gesehen, wie der Nebel scheinbar die Existenz selbst umhüllt und du weiter und weiter in ein Reich vordringst, wo niemals mehr die Sonne scheinen wird. Dunkle, tote Hügel, auf denen verdorrte Bäume stehen. Talsenken, in denen die sterbende Materie ruht, verrostete Fahrräder und ermüdete Schwerter. Autoskelette und Rost, Hügel und Felder aus Niedergang und totem Kunststoff. Dazwischen Spielplätze und Maschendraht, die beide den Verfall begrüßen und das unter einem Himmel, der nur noch das Schwarz kennt. Ein Friedhof, auf dem man selbst die Gräber zu Grabe trägt.

Doch du hast nicht aufgegeben und bist weiter vorgedrungen. Oder schlimmer: Hast dich treiben lassen, hinab in den schwarzen Sog.

Schließlich bist du vor dem Haus gestanden. Ein Herrenhaus, groß und mit vielen Zimmern, oder aber eine Beleidigung gegen den Verfall, die nur errichtet wurde, um ihr, dem Nichts, die Grenzen aufzuzeigen. Schlussendlich hat es jedoch den Erbauern Grenzenlosigkeit demonstriert. Zu existieren bedeutet begrenzt zu sein, durch Hunger, durch Distanz, durch Schwäche oder Intelligenz. Wahrhaft frei ist nur, wer nicht ist.

Du hast gesehen, wie das Haus eben noch ein Dach hatte und dann auch schon nicht mehr; wie Fenster aus dem Mauerwerk verschwanden, als hätte man sie gelöscht, wegretuschiert, nur dass gleich darauf andere erschienen; wie Türen und Fenster einfach das Existieren sein ließen. Eine Mauer, wie du bei diesem Anblick lernen musstest, kann mehr Existenz auslöschen, als sie in Anspruch nimmt.

Wie hat es sich angefühlt, einen Salon zu betreten, der zuerst noch einer war und danach von jedem Zweck befreit wurde? Hast du versucht, ihm einen zu geben? Dir eingeredet, es wäre ein großer Lagerraum oder es hätte eines Tages ein Salon sein sollen? Für den Menschen muss alles einen Sinn haben, einen Zweck. Jedes Ergebnis der Evolution dient einem, jedes Organ, jeder Raum, sogar jedes noch so zwecklose Kunstwerk. Aber hier gibt es das nicht mehr. Das hat dich verwirrt. Doch du bist trotzdem weiter vorgedrungen, in die Tiefe dieses Herrenhauses, das keines mehr ist.

Ich kann mir nur vorstellen, wie es gewesen sein kann, durch die dunklen Korridore zu wandern. Teppiche, Kommoden aus dunklem Holz, schwere Türen, aber kein Staub, der im fahlen Licht Grimassen zieht. Du hast dir gewünscht, dass so etwas passiert. Dass sich die Menschen in den Gemälden bewegen, die Dielen zum knarrenden Gesang anstimmen oder die Seelen der Toten aus der Dunkelheit flüstern. Du wolltest, dass noch etwas hier ist und selbst ein zorniger Geist ist wenigstens etwas. Doch nichts davon geschah. An diesem Ort, mag er auch noch so trostlos und verlassen sein, ist es nicht das Geisterhafte, das sich in den Verstand frisst, sondern dieser absolute Garant aller Abwesenheit. So nah am Nichts spürt man mit Gewissheit, dass hier nichts mehr sein kann.

Bis du ihnen begegnet bist.

Sie sind dir zuerst gar nicht aufgefallen, nicht wahr? Die Schaufensterpuppen, vom Sog des Nichts weiß gebleicht, wie sie in den Fluren lagen. Erst, als sie sich zu regen begannen, hast du sie gesehen. Sie standen auf, zuckend und unsicher. Sie kämpften sich nach oben, bevor sie auf dich zustrebten. Du bist gelaufen, durch eine Tür, die gleich darauf nie existiert hatte und ein Speisezimmer, das, so wie es schien, sich selbst zu einem machen wollte. Teller mit staubigem, halb verwestem Essen erschienen auf dem Tisch, während du weiter vor den Puppen geflohen bist. Da war eine Standuhr, ein schönes Stück, die aber scheinbar schon nicht mehr wusste, wie man die Zeit anzeigt. Und du hast verstanden, dass du deinem Ziel nahe bist.

Alles hier strebt, so gut es nur kann. Es will existieren, solange es noch möglich ist. Einen Zweck haben. Eine Bestimmung. Wenigstens für einen Augenblick. Die Puppen wollten dir gleich sein – vielleicht waren sie es ja sogar einmal. Sie wollten sich an dich heften und mit dir zurück in die Welt des Existierenden kehren, wo alles ist und alles sein kann. Der Speisesaal wollte dich ernähren, die Uhr dir zuverlässig dienen. Nur die Tür war einen Moment lang schwach und sie erlosch. Genauso wie alles andere. Du warst erstaunt, als die Puppen, die dir wie Dämonen nachjagten, plötzlich fort waren, wie Tür um Tür verschwand und du dich von einem Schritt auf den nächsten in einer leeren, kargen Mondlandschaft wiedergefunden hast. Kalter, grauer Staub, der deine Füße umspielte, ein schwarzer Himmel, kein Anzeichen mehr von irgendwas. Da wurde dir bewusst, dass sogar das ganze Haus nur ein Aufbäumen war. Als es dich nähern sah, wollte es wieder sein, wieder betreten und begangen werden, bevor es zurück in die Nicht-Existenz sank.

Nun bist du hier, am Ereignishorizont der Leere. Am Ende aller Dinge. Hier erbauten Generationen der Priester und Anti-Philosophen ihre Häuser und Tempel, um dem Nichts zu beweisen, dass es keine Macht hat. Wieder und wieder versuchten sie sich darin, einen Drachen zu erstechen, der jedes Schwert verschlingt, das man in seinen leeren Leib sticht und jede Rakete in sich bettet, die man auf ihn abfeuert. Sie schliefen hier, aßen, liebten ihre Frauen und ihre Männer und errichteten Spielplätze für einen unbeschwerten Alltag. Sie legten Böden über das Loch im Universum, aus Holz, Stahl und Beton. Sie versuchten es mit Kies zu füllen. Am Ende verschwanden sie alle, bis zum Letzten, mit ihren Katzen und Kanarienvögeln und den Läusen im Haar.

Aber du, du bist nun hier. Nur ein Schritt trennt dich noch von dem kalten, toten Mahlstrom der Ewigkeit. Du musst ihn nicht gehen. Es genügt dir, hinabzusehen, um zu verstehen. Du siehst den Herren des Universums, den einzig wahren Meister. Er hat keinen Intellekt, keine Motivation und keine Macht und dennoch wird er am Ende siegen.

Ihr nennt ihn die Leere und versteht ihn doch nur kaum. Ihr glaubt, er wäre Dunkelheit oder Stille oder Kälte oder Tod, aber das sind nur Worte, in denen ihr die angeblichen Feinde der Existenz kleidet. Die Leere ist nichts davon. Diese Begriffe kann man bekämpfen, mit Licht und Lärm und Gesetzen. Das Böse kann man töten, den Tod hinauszögern. Die Leere dagegen kennt keine Bezwingbarkeit. Sie ist nichts. Kein Sieg und keine Niederlage. Sie ist nichts und wird eines Tages alles sein.

Eine dunkle Erleuchtung! Ich sehe sie in deinen Augen. Die Leere wird siegen. Nicht, weil sie es will, sondern weil sie unendlich Zeit hat. Jeder Krieger wird sterben, jede Erkenntnis vergehen, jeder Gott vergessen, jeder Fluss vertrocknen und jeder Stern verlöschen. Jedes Atom wird schließlich alle Energie abgegeben haben und zerfallen und die Zeit wird enden. Dann soll nie wieder etwas sein.

Warum bist du hierher gekommen, Riggit? Suchst du Erlösung? Oder gar die Freiheit?“, fragte der Mönch und seine Worte hallten noch ewig aus dem Abgrund, so als würden sie einfach nicht verklingen wollen.

Riggit sammelte sich und unterdrückte die Kälte, die sich seelisch wie physisch in seine Knochen arbeitete. „Warum?“, fragte er und wiederholte sich: „Warum erzählst du mir alles nochmal, was ich gerade selbst erlebt habe?“

Das Wesen, wenn es noch eines war, starrte Riggit mit drei glühenden Augen an. Dieser ansonsten schwarze Nebeldunst trug es eine blutrote Robe mit etwas übertriebenen Goldbordüren, die zu wandern schienen, wenn er mundlos sprach: „Weil ich hier ziemlich einsam bin. Und ich mich gerne reden höre.“

Der Sprengfischer schüttelte den Kopf. Er war wirklich hier und hatte sich tatsächlich bis an den Rand der Leere gewagt. Obwohl dieser nicht ganz den mystischen Beschreibungen entsprach. Er war überhaupt nicht diffus und gierig, sondern eher ein klar definiertes, wie mit einem Bagger ausgehobenes Loch. Es stand sogar noch einer daneben, angeblich für Ausbesserungsarbeiten und über einen Teil hatte man eine Bauplane gezogen, um genauso angeblich die Fassade zu renovieren. Außerdem schien der Besitzer vom Souvenirladen in den Ferien zu sein und so was wie eine Urlaubsvertretung war am Rand der Existenz anscheinend auch nicht-existent.

Das war zwar schade, mehr aber auch schon nicht, denn Riggit kam mit einer anderen Absicht hierher, als sich für einen hässlichen Staubfänger aus Taiwan abzocken zu lassen. „Ich brauche die Antwort auf eine Frage“, erklärte er dem Mönchswesen.

„Eine Antwort?“, spottete es. „Die Leere, das Ende aller Fragen und die letzte aller Antworten, soll dir eine liefern?“

„Ja. Sie ist doch zeitlos, oder?“

„Sie ist die Gerade, die nicht ist. Als das war sie immer schon und wird immer sein.“

„Echt stark! Kannst du in sie hineinsehen?“

„Nur für Momente, bevor ich mit ihr gleich werde.“ Was jetzt nicht ganz wahr sein konnte, denn Riggit blickte seit gut zehn Minuten hinab und verspürte lediglich den Wunsch, irgendwas hineinzuwerfen.

„Dann schau doch bitte kurz in die Zukunft“, bat der bald ehemalige Sprengfischer.

Die Augen des Mönchs erloschen. „Das tue ich. Da ist nur noch sie, einzig und wahrhaftig.“

„Nicht ganz soweit. Es reicht, wenn du vier Tage in die Zukunft blickst.“

„Sie wird sich ausgebreitet haben. Unmerklich, jedoch unaufhaltsam. Worte werden vergessen worden sein, Menschen gestorben, Lichter verloschen.“

„Du musst es mir nicht so genau erklären. Konzentrier dich bitte auf heute in vier Tagen, genauer gesagt auf 20 Uhr 10 und dann auf den erstbesten Fernseher, den du siehst.“

„Kondensatoren verbrennen, Drähte ermüden, werden spröde und nähern sich ihrem Ende. Alles –“

Riggit rollte mit den Augen. „Total irre! Wie dem auch sei: Siehst du da ein paar Zahlen?“

„Was für Zahlen? Uhren, die unaufhaltsam –“

„Im Fernseher.“

„Die Nachrichten berichten von Toten, von finanziellem Verlust und –“

„Konzentriere dich auf den Beitrag kurz vor dem Wetterbericht! Sagen wir, die Lottozahlen. Siehst du zufällig die Lottozahlen von nächster Woche?“

Das Mönchwesen schwieg. Seine Augen erschienen wieder – drei glühende Sterne, zuerst winzig, dann wachsend, als wären sie die Frontscheinwerfer eines sich nähernden Zuges im Tunnel. Riggit stellte sich diesen typischen, quietschenden Bremsgesang vor, als sie schließlich anhielten. „Die Lottozahlen?“, wiederholte der Pimp-Sensenmann mit Feueraugen. „Du kommst an den Ort, an dem alles endet, um die Lottozahlen von nächster Woche zu erfahren?“

Riggit zögerte. „Wenn du das könntest, würdest du längst nicht mehr hier arbeiten, stimmt’s?“

Der mönchische Lochwächter antwortete mit Spott: „Du lebst auch hinter der verbliebenen Mondhälfte, oder?“

„Habe ich eine Weile, damals nach dem Schulabschluss. Aber was hat das mit dem Thema zu tun?“

„Kennst du denn irgendwen, der im Lotto gewonnen hat? Oder jemanden, der jemanden kennt?“

Riggit überlegte. Und tatsächlich! Er kannte jemanden, der von den Göttern des Quecksilber-Anitrops erwählt wurde und einer seiner direkten Verwandten, nämlich sein dämlicher Vater, war mit einer Frau ins Bett gesprungen, die sich am nächsten Morgen als 120 Meter lange, eintausend Jahre alte Echse mit Feuerodem entpuppte, aber von einem Lottogewinner im direkten Umfeld hatte er noch nie gehört. „Also, ich lebe auf einer ziemlich abgeschiedenen Insel und komme auch sonst nicht viel –“

„Wenn ich sie dir verrate und du sie auf einen Lottoschein schreibst, dauert es keine Sekunde mehr, bevor jemand an deiner Tür klopft. Du brauchst dazu nicht mal den Zettel zum Kiosk bringen. Und wenn du die Tür  nicht aufmachst, brennt man sie mit einem Plasmastrahl weg, direkt gefolgt von deiner Wenigkeit. Was übrigens auch passiert, wenn du sie öffnest. Hast du dich nie gefragt, warum niemand jemanden kennt, der im Lotto abgeräumt hat?“

„Quod?“, fragte Riggit und erinnerte sich an das in Vanillesoße aufgeweichte Asterix-Heft.

„Zeitreisende. Lotto ist eine Falle für Zeitreisende. Wenn Zeitlochausnutzern das Geld ausgeht, können sie nicht mit Aktien spekulieren, weil sie von Natur aus schlechte Rechner sind – ansonsten würden sie ja nicht durch die Zeit reisen. Daher spielen sie dann oft Lotto, was wiederum nichts weiter als eine Mausefalle des Verbraucherschutzministeriums ist – wer auch sonst sollte gegen den wirtschaftlichen Schaden durch Zeitreisen vorgehen? Das einzige, das Lottospieler jemals gewonnen haben, ist ein ebenso zeitreisender Killer-Cyborg vor ihrer Haustür.“

„Krustige Karamellkombüse!“, stöhnte Riggit. „Ein Killerroboter also. Das ergibt Sinn.“

Das Mönchswesen schüttelte den Kopf und erklärte: „Da liegst du falsch. Ein Killerroboter in Menschengestalt ist ein Terminator. Ein Cyborg ist dagegen ein mit Maschinenteilen aufgerüsteter Mensch. Meine Mutter sagte dazu immer: Ein Terminator ist eine Maschine, die ein Mensch sein will; ein Cyborg ist ein Mensch, der gern eine Maschine wäre. So konnte ich mir den Unterschied merken.“

Auch das ergab Sinn. Und Riggits Geldbeutel blieb leer.

***

Selbstverständlich unternahm Riggit noch einige Versuche, um an das Geld zukommen. Er versuchte sich als Hütchenspieler, vergaß aber schon nach fünf Minuten die Regeln und wurde vom halben Dorf abgezockt. Am nächsten Tag ersuchte er Atom-Ritter Garchtibald um Hilfe, was dieser nicht verstand, da er aus dem Ausland stammte und kein Wort Karantanisch sprach. Ein Sklavenhändler erkannte gleich darauf Riggits verzweifelte Situation und bot ihm ein hübsches Sümmchen für seinen Vater, was der Sohnemann aber ablehnte: Er war ein Frusti und kein Monster! Zuletzt versuchte er, seinen Körper an Frau Vermieterin zu verkaufen, die weit mehr als nötig dafür blechen wollte, aber nur, weil sie glaubte, dass er damit seine Organe meinte. Erst im letzten Moment, da hatte sie bereits die Schlachterschürze angelegt, klärte sich das Missverständnis auf. Riggit behielt seine Innereien, was aber leider auch für seine Schulden galt.

Zwischendrin ging er zusammen mit seiner Ex-Frau auf Schatzsuche. Sie bereisten die Weltmeere, kämpften gegen Urgraloks und Nitrehtirn, legten sich mit Kronal Bergbau an, dem gefürchteten Piratenfürsten und entdeckten schließlich die lange verloren geglaubte Stadt Wien und das hinter der Couch von Kronal. Nach einem erbitterten Endkampf stürzte der Piratenkönig in einen Kapuzinerkaffee mit Schlagobers, wo er explodierte. Der gesuchte Schatz entpuppte sich jedoch als eine Truhe voller Schokotaler. Zum Schluss fragte Riggits blöde Ex, ob sie es nicht noch einmal miteinander versuchen wollten – immerhin waren sie während den Abenteuern ein paar Mal im Bett gelandet –, was Riggit aber sofort verneinte. Mit der blöden Ziege wollte er wirklich nichts mehr zu tun haben!

Immer noch pleite wie ein verschuldeter Sprengfischer, ging er am Mittag des letzten Tages vor dem Ablauf der Frist in die finale Offensive.

Er wartete, bis der Dorfplatz am meisten besucht war, stellte sich auf eine Kiste und brüllte: „Bewohner von Karantans Rücken! Liebe Freunde! Liebe Verwandte! Ich, euer Riggit Rill, wette mit Euch – ich wette mit Euch“, wiederholte er in kursiv, „dass ich einen Wuthering in meiner Tasche habe und ich ihn euch hier und jetzt präsentieren werde!“

Alle starrten ihn an, die Frauen, die Kinder, die Klone, diese schwebende Schleimkugel mit Augen, die sich einfach nicht vertreiben ließ und sogar sein Vater, der eigentlich in der Blindenschule hätte sein sollen, damit er dort das Sehen durch die Schweißporen lernte. Völlige Blindheit gehörte auf Karantan schon lange der Vergangenheit an.

„Und um was wettest du?“, fragte jemand aus der Menge. Es war Jonathan Zublin, kein Nachkomme des berühmten Marc Zublin, aber trotzdem der reichste Mann der Insel.

„Fünfzigtausend Chips! Ich wette um fünfzigtausend Computerchips!“

„Und wenn du verlierst? Oh, ich weiß, dann nehme ich dir die Mnestik für Telefonnummern!“

„Whaaaat?“, rief Deequan, der einzige Schwarze auf der Insel, der sich eigentlich nur mit Schuhcreme angemalt hatte, was aber alle ignorierten und trotzdem so taten, als wäre er ein Farbiger, weil sie ihn mochten. „Yo, Weißbrot, was bitte ist Mnestik für Telefonnummern?“

Jonathan Zublin erklärte. „Die Fähigkeit, sich Telefonnummern zu merken. Die werde ich ihm nehmen!“ Das konnte er. Als einer der wenigen Schüler des Schuldentrolls konnte er anderen Eigenschaften entziehen, die er selbst nicht besaß und Riggit war für seine Fähigkeit berühmt, Telefonnummern auswendig zu können. Die Kontaktliste in seinem Handy war praktisch niemals geöffnet worden.

Der ehemalige Sprengfischer haderte noch einen Augenblick, dann schlugen er und Jonathan Zublin ein.

„Die Wette gilt!“, verkündete der Zaubernde Zeuge, ein Nano-Wesen, das überall erschien, wo es eigentlich keinen Zeugen mehr brauchte, wenn als Beispiel in aller Öffentlichkeit ein Verbrechen verübt wurde oder irgendwo im Wald ein Baum umfiel.

Riggit grinste. So einfach war das also. Keine Abenteuer, keine Schatzsuche, kein Banküberfall, sondern die einfachste und dümmste aller Lösungen rettete ihm also den Job und die Freiheit.

Der Rest der Geschichte muss nun eigentlich nicht mehr erzählt werden. Riggit griff nach dem Wuthering und stellte dabei fest, dass er ihn wohl auf dem Weg hierher verloren hatte. Gleich darauf verlor er die Macht, Telefonnummern im Kopf zu behalten und endete als steinreicher Chitinmagnat in der Gosse – also, da war er schon sehr alt und gerade auf dem Weg nach Hause. Wie sich nämlich herausstellte, brauchte man in den Minen eigentlich keine Arbeiter mehr, dafür aber umso dringender Leute für die Büroarbeit. Darin war Riggit als ehemaliger Autor ganz brauchbar, eines führte zum anderen und er heiratete erneut seine Ex-Frau, eine intelligente Androidin, die untenrum anatomisch korrekt ausgestattet war. Zusammen gründeten sie eine Gewerkschaft für Chitingräber und wurden, in Zusammenarbeit mit der Kirchenmafia, reich. Neben zwei Kindern bekam er sogar einen neuen Spitznamen: Telefonbuch-Joe, weil er sich wirklich keine einzige Nummer merken konnte.

Der Wuthering dagegen wurde von einem Straßenköter gefunden, gefressen und dieser reierte sich die Seele aus dem Leib. Danach machte sich eine Gruppe wilder Meerschweinchen darüber her und wiederholte den Vorgang. Würgende Meerschweinchen klingen übrigens wie ein Knabenchor. Die magischen Augen des Fisches dagegen überstanden die Prozedur, da sie von einem säureabweisenden Film umgeben waren. Ein Vogel pickte sie eines Tages auf und erbrach sie über einem Acker.

Und dort, von Bauern gedüngt und in die Erde gemengt, gediehen sie wie Samenkörner und aus ihnen wuchsen große und prächtige Pflanzen, die so sehr wie keine das Wesen der Wut einzufangen wussten. So war die Frucht rot wie das Blut und prall, wie allzu gern der Zorn und wurde sie von ihrem Stiel getrennt, vertrocknete sie praktisch sofort, wie auch eben die Wut, wenn ihr Quell versiegt. Sie wurde die Grundlage zahlloser Gerichte und war doch allein nichts wert. Sie konnte für vieles verwendet werden, vieles bereichern, nie aber für sich allein eine Mahlzeit sein. Jeder kannte sie, jeder nutzte sie. Viele unterschätzten sie. Viele hat sie genährt.

Was aus den Augen des Wutherings wuchs, war kein einfaches Gemüse, sondern heute gemeinhin überall bekannt und vertreten. Eine Frucht der Wut, Materie gewordener Zorn: Die Tomaten.

Und das war sie nun: die Geschichte, wie sie vor so langer Zeit entstanden sind.

— Maex, 2009

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