Elfe gegenüber

Maximilian Wust - Elfe gegenüber

Elfe gegenüber
Eine Komödie von Maximilian Wust

DIESER TAG SOLLTE einmal wie jeder andere sein – eines Tages dann, in vielen Tagen. Und wenn es soweit war, würde Marco ganz gewohnt in die Bahn steigen, nach Möglichkeit ganz vorne und wahrscheinlich auch die Welt hinter den Fenstern, diese Mischung aus Gleisen, Grau und Grünflächen vollkommen ignorieren, um sich in einem Kokon aus Roman und Musik zu betten, bis ihm sein innerer Wecker erklärte, dass der Zug gleich an seiner Station hielt. Dann würde es nichts Neues mehr sein und dieser Tag eben auch nur noch ein Tag. Noch war es aber noch nicht soweit. Noch war alles neu. Weshalb es Marco umso weniger zu schätzen wusste.

An diesen Tag fläzte er sich wie immer in die noch leere Bahn, stellte eine Dose mit etwas, das eine Coca-Cola sein wollte, aber doch keine war, auf den Mülleimer-Pseudo-Tisch, die damals auf Brusthöhe unter dem Fenster montiert worden waren, und versank in seiner Lektüre. Und ärgerte sich darüber – über die Lektüre, nicht den Alltag. Das würde erst später sein.

Der Roman jedenfalls war einer von diesen Science-fictions. Einer von denen, die zum Beispiel Die Pegasus-Offensive heißen. Oder Der Antares-Konflikt, Kampf um Indirium oder Die Schlacht von Spearhead – sie hießen alle irgendwie so. Ein austauschbarer Titel, der stets von einem austauschbaren Raumschiffkapitän erzählt, der wiederum in einem genauso austauschbaren Universum „die größte Schlacht seiner Laufbahn“ bestreiten muss, was ein eher nebensächlicher Krieg gegen eine eindimensionale Feindnation oder Alien-Rasse bedeutet. Dass diese Romane dann meist als Serien und auch schon der vierte oder fünfte Band erschienen war, machte sie nur noch furchtbarer. Um das Fantasy-Genre stand es dabei nicht besser bestellt: Von der jungen, bildhübschen Magie-Schülerin mit stark ausgeprägter Kleidungsallergie hatte Marco jedoch schon lange genug, weshalb er ja überhaupt zum Science-fiction gewechselt war

Mit wenig Erfolg. Denn wo Fantasy-Autoren weibliche Charaktere von ihren Kleidern befreiten, zettelten sie im Sci-Fi Weltraumkämpfe an.

So auch in dem Kapitel, das Marco gerade las: Der schnittige Kapitän Amerikaner-Name steht drei Zerstörern der Coran-Flotte gegenüber. Diese Aldi-Klingonen blockieren irgendeinen wichtigen Nachschubweg und mit ihnen reden ist sowieso gleich mal sinnlos. Auf Funksprüche antworten die schwarzen Schiffe wie immer nur mit Mesonen- und Plasmabeschuss – was schon für jeden Möchtegern-Physiker keinen Sinn ergibt. Wie dem auch sei, sie sind zu stark. Drei gegen einen, da muss der Kapitän improvisieren. Er weicht aus, indem er fast in einen Feindkreuzer rammen lässt, dann täuscht er einen Sprung in den Hyperraum an. Ein Köder, riskant, aber die Coran fallen drauf rein, wollen die Verfolgung aufnehmen und fahren dafür ihre Schilde runter – weil man das für die Überlichtreise so muss –, da werden sie auch schon vom listigen Kapitän mit Atombomben verdampft. Bis ins kleinste Detail beschreibt das CGI-Studio im Kopf des Autoren, wie sich die Coran-Schiffe in funkelnde Trümmerwolken auflösen.

Die Untergebenen des Kapitäns feiern. Die Amerikanermenschen haben gesiegt, doch zu welchem Preis? Bei dem Beschuss ist leider irgendein unwichtiger Nebencharakter durch ein Splitterschrapnell getötet worden. Der Kapitän trauert, Marco nicht. Und wie immer beherrschen nur die Menschen so etwas wie Taktik, während feindliche Aliens, die sonst Zivilisationen zum Frühstück unterwerfen, sich darauf beschränken, einfach nur den Kontrahenten aus allen Rohren zu beschießen.

Danach geht es wohl mit Gesprächen auf einer Kolonie weiter, die jetzt die dringend benötigten Hilfsgüter erhält. Farmer sind dankbar; ein Vorgesetzter, Admiral Allister McHöhergestellt, erklärt dem Kapitän den Ernst der Lage und irgendjemand heißt Nguyen, um dem Leser zu verdeutlichen, dass im Weltraum auch Ausländer und Minderheiten erlaubt sind.

Als Marco bemerkte, dass er schon lange nur noch las, ohne auch nur eine Zeile wirklich zu lesen, ließ er den Blick durch den Waggon streifen. Vielleicht gab es dort etwas Unterhaltsames zu entdecken. In der Bahn saßen allerdings nur dieselben Charaktere, wie sie dort wohl schon seit der Erfindung des ersten Passagierwaggons anzutreffen sind: Da gab es Pendler, zu denen er nun auch gehörte, ein paar vorlaute Jugendliche, ein paar Rentner, einen barfüßigen Kauz mit Dreadlocks … und eine Elfe.

Das beschrieb sie wohl am besten.

Sie war nicht unbedingt schön, keine Galadriel, aber doch auf eine Art bildhübsch und seltsam unübersehbar: Gertenschlank, aber nicht mager, sondern zierlich, blass und zauberhaft. Ihre Haut wirkte glatt wie aus Elfenbein und ihr ovales Mädchengesicht wurde von hellen, ja fast weißen Haaren umrahmt – Licht, das zu Haar geworden war. Es floss nicht einfach nur herab, wie sonst von allen Frauen ihres Alters, die ihre Frisuren mit dem Glätteisen verflüssigten, sondern mussten zu einem Pferdeschwanz gebunden werden, damit sie nicht das ganze Gesicht verschlangen. Diese Elfe war, was alle sein wollten, aber doch keiner erreichte: Anders. Positiv anders.

Marco ertappte sich dabei, wie er ihren Blick einfangen wollte, aber sie döste wohl. Ihre Augen blieben geschlossen, seltsam flatternd, als wären sie immer einen Schlitz weit geöffnet, während sie steif auf ihrem Platz verweilte. Dösig eben. Es war ihr wohl noch zu früh, um wach sein zu müssen.

Marco holte tief Luft – durch die Nase, so dass man wohl jede Unebenheiten und jedes Haar darin pfeifen hörte. Er hätte so gern zu den Kerlen gehört, die einfach auf Frauen zugehen können und mit einem blöden Spruch ihre Nummer und dann auch noch gleich eine Nummer mit ihnen klarmachen. Die Typen, die dir dann sagen, dass du einfach nur du selbst sein musst und dabei vergessen, dass man dazu zuerst gut aussehen musst. Marco ballte die Fäuste. Er war kein Feigling, aber trotzdem schon zu oft einer gewesen und diese Elfe … na ja, etwas Besonderes eben. Und wenn sich das schon zu viele gedacht hatten, dann –

Nein! Stopp! Dieses Mal würde er eine Sache nicht wieder zerdenken und kaputt machen. Und er würde auch nicht herumsitzen, die Fahrt verstreichen lassen, um sich daraufhin wochenlang vorzustellen, wie sie wohl auf ihn reagiert hätte! Und Taschentücher mit feuchten, unerfüllten Träumen füllen …

***

Marco sprang auf und schritt zur Tat – beziehungsweise, auf sie zu.

Sie bemerkte es wohl, irgendein Urinstinkt als längst vergessenen Tiefen machte sie anscheinend auf den herannahenden Feind aufmerksam, öffnete ihr die Augen – eine Iris aus makellosem Kristallblau – und erfasste damit Marcos vermutlich schlichte Erscheinung: Ein dürrer Italiener, der nichts von der angeblichen Heißblütigkeit seines Volkes mitbrachte und den man etwas hastig in ein rotes, schlabbriges Kapuzenshirt gesteckt hatte. So sah sie ihn an. So sah er auch aus.

„Hey“, grüßte er zögerlich, worauf ihre Augen wieder zu Schlitzen wurden. Dieses Mal voller Misstrauen.

Sie tastete sich vorsichtig in den Umstand, jetzt mit ihm reden zu müssen: „Was … willst du?

„Ich fand dich süß … und dachte mir …“

„Okay, nein.

„Hä?“

Sie rieb sich die Augen – mehr, um ihn nicht ansehen zu müssen als aus Gründen der Müdigkeit –, bevor sie ihn mehr schnippisch als elfisch anfuhr: „Echt jetzt? Du fragst mich in der Bahn nach meiner Nummer? Was wird das hier? Die neueste Folge von GZSZ? Hast du echt geglaubt, dass das funktioniert?“

Marco wollte etwas sagen, brachte aber nur einen erstickten Laut hervor.

„Also, vorweg bist du sowieso nicht mein Typ. Und hast du daneben mal darüber nachgedacht, wie oft Mädels wie ich, die Heißen, von irgendwelchen Spacken angebrabbelt werden, die sich mal eben mutig vorkommen. Ja, ich weiß schon, jeder Flirtratgeber und verkackte Pick-up-Artist redet heute davon, dass gerade die geilsten Schlampen auch die Einsamsten sind, weil sich ja niiiemand an sie herantraut,“ – den letzten Teil sang sie geradezu vor Übertreibung – „aber in Wirklichkeit versucht das jeder Vollhorst nach seinem ersten Mojito. Weil er genau diesen Scheiß glaubt! Dass aber jetzt auch mal so ein Computer-süchtiger Spargeltarzan ist und das in –“

Marco unterbrach sie endlich: „Übertreibst du nicht langsam?“

„Und das in der Bahn?“, wiederholte sie ihren letzten Satz. „Das ist neu! Sag mal, wie hast du geglaubt, wie das hier ausgeht? Dass ich dich süß finde und dir mit ´nem dummen Grinsen meine Nummer in die Hand drücke? Ist dir das je passiert? Sorry, aber du siehst aus wie so ein verkappter Bildschirm-Mongo, dem eigentlich nur noch die Brille fehlt! Oder trägst in so ´ner Phase von Will-nicht-mehr-der-Spasti-sein Kontaktlinsen?“

Inzwischen sahen schon die anderen Gäste auf. Einige mit Interesse, ein paar zu viel mit stummer Zustimmung ihrer Argumente.

Marco trat einen Schritt zurück. Er musste hier weg! Nur noch raus hier! „Ich hab‘ verstanden“, gab er als leisen Abschied.

Der nicht funktionierte! „Einen Scheiß hast du“, sagte sie fast geschrien laut und sprang auf. „Ich bin’s echt leid, dass immer irgendwelche Türken glauben, mir an die Wäsche zu müssen! Und dann auch noch einer wie du! Der Türke bei den Türken!“

Jetzt wurde es zu viel. „Sag mal, geht’s noch, du irre Schlampe?“, schrie Marco jetzt genauso erbost zurück. „Dich fragt jemand nach deiner Nummer und du machst eine Riesenszene. Hast du eigent–“

Mehr konnte Marco nicht mehr sagen. Die Elfe schlug zu. Eine Ohrfeige beendete seinen Konter. Sie klatschte wie eine Welle des Verstummens durch den Waggon und heftete nun wirklich alle Blicke auf die beiden: Die Teufelin und den traurigen Versuch eines Mannes.

Das dachten sie doch jetzt von ihm! Weil man so denkt, wenn ein Mann scheitert. Weil es ein erfolgloser Kerl verdient hat, das man auf ihm herumtritt! Ab jetzt würde Marco jeden Flirtversuch überdenken, bis er einfach keinen mehr startete.

Seine Lippen zitterten.

„Oh Gott, heulst du jetzt?“, spöttelte die Elfin, eher Dunkelelfin. „Wo glaubst du eigentlich, wo das mit uns hingegangen wäre? Dass ich mit dir in den Klub gehe? Dass ich mich an deinem Arm festhalte und ganz verliebt die Augen schließe?“ Ihr Ton wurde nun eigenartig hysterisch. Sie lachte auf und das mehr unheimlich als überlegen. „Oder soll ich dir bei Counter-Strike zuschauen und dich anfeuern? Oder wie der Rotz halt heißt! Ich will gar nicht wissen, da alles für kranke Scheiße du dir alles ausgedacht hast, bevor du mir den Morgen verderben musstest!“ War Marco eben noch der Trottel gewesen, wurde er jetzt von ihr als Psycho überholt. Aber sie kam gerade erst in Form: „Hast du wirklich, wirklich geglaubt, dass ich irgendwann mit dir auf dem Bett liege und drauf warte, dass du mir endlich an die Titten gehst? Allein der Gedanke – du und ich … miteinander  …“

Sie stockte auf einmal und wurde kreidebleich. Marco konnte noch erkennen, wie sich ihre Augen verdrehten, bevor sie zur Fontäne wurde. Sie erbrach sich und übergoss den armen Kerl ihr gegenüber, einem Pendler mit Hemd und Krawatte, mit einem dampfenden Strahl aus gelblich-milchigem Saft, vom Hemdkragen bis zu den schönen Halbschuhen.

Kleine, weiße Stückchen klebten an seiner Brille – die Reste eines reichhaltigen, gesunden Frühstücks.

Dieser Typ, dieser deutsche Gordon Freeman in der Bahn, sprang auf, kreischte was von geisteskranke Schlampe und jagte ihr die Rechte so heftig in die Kauleiste, dass ihr Kopf Ping-Pong spielte – zwischen der Scheibe zu ihrem Rücken und der Faust, donnernd, dann schmatzend, bevor sie blutüberströmt zu Boden ging. Die ganze Szene eskalierte allerdings erst wirklich, als –

***

Halt!

Stopp! Jetzt wurde es zu viel!

Marcos Phantasie war wieder einmal zu weit gegangen.

Er schüttelte sein Gedankenspiel ab und fand sich auf seinem Platz wieder – den er nie verlassen hatte. Wie schon so oft war er die ganze Zeit tatenlos da gesessen, hatte sich in Tagträume versenkt und gelegentlich nach der Elfe gesehen. Diese wartete immer noch mit flimmernden Augenlidern auf wiederum ihrem Platz. Dass er sie nicht angesprochen hatte, lag nicht daran, dass sie ihn auseinander nehmen würde. Marco war schon einmal von einem Mädchen bloßgestellt worden, auf eine furchtbare Art, aber sie würde das nicht tun. Dafür trug sie viel zu unmodische Kleidung.

Viel eher würde sie ihn anhören und dann freundlich und nicht einmal bestimmt erklären, dass sie leider schon vergeben war. Aber das wäre – selbst wenn es gelogen sein sollte – immer noch besser, als die Aussage, nicht ihr Typ zu sein. Denn „nicht der Typ zu sein“, bedeutete immer, zu hässlich, zu unscheinbar oder sonst irgendwie ungenügend aufzutreten. Es bedeutete immer: „Sorry, aber ich bin eher an was Besserem interessiert.

Trotzdem musste er es versuchen. Weil sie ihm gefiel. Weil er es zu oft nicht versucht hatte. Weil nach eintausend Neins irgendwann doch einmal ein Ja folgen muss!

Er holte tief Luft, ließ aber die Hände entspannt und ging zum Angriff über.

Wie in der Phantasie spürte sie ihn kommen, doch ihre Augen waren nicht türkisblau, sondern silbergrau. Wie die eines Adlers und mindestens ebenso wahrhaftig und durchdringend. Dass Menschen überhaupt graue Augen haben konnten, die nicht doch einen Tick ins Blau oder Braun gingen, hätte Marco bis jetzt nicht für möglich gehalten.

Dass sie sich genauso verhielt, also anders als alle anderen, hatte er aber durchaus erwartet.

Sie deutete auf den freien Platz ihr gegenüber – dort saß anscheinend gar kein Büromensch zum Vollkotzen – und sagte statt einem Hallo ein freundliches, fast liebevolles: „Setz dich doch erstmal.“

Was Marco auch tat.

Worauf sie lächelte, auf elfische Art wunderschön. „Ich habe mich schon gefragt, ob du es versuchen würdest. Ehrt mich, dass du es doch geschafft hast. Aber ich will dich nicht aufhalten: Stell deine Frage oder versuch deinen Eisbrecher!“

Marco stockte. So ging das doch nicht! Das war gerade, als würde man vor der Mutter ein Gedicht üben. Und eben wie eine Mutter, wirkte sie jetzt so unendlich viel klüger und reifer als er, dass er genauso gut aufgeben und sich wieder auf seinen Platz setzen konnte. Trotzdem holte er tief Luft, konzentrierte allen Mut der nächsten zehn Jahre auf diesen Moment und sprach: „Hey, ich werde es bereuen, wenn ich das nicht tue, aber: Bist du Single? Und falls ja … kann ich deine Nummer haben?“ So mutig er auch sein mochte, das war vermutlich der langweiligste Flirt in der Geschichte des Flirtens.

Was wohl auch der Sitznachbar zu seiner Rechten so empfand und durch die Nase lachte. Ein Mann mit langen Haaren und Jeansjacke, Anfang Vierzig, aber damit wohl nicht ganz einverstanden. Sein Blick sprach Bände.

Die Elfe antwortete schließlich: „Das war mutig von dir. Und süß. Und verglichen mit den Sprüchen, die mir sonst im Klub zugeworfen werden, war es der höflichste Flirt, den ich je bekommen habe.“

„Aber du musst leider ablehnen“, setzte Marco fort.

„Glaubst du denn, dass wir gut zusammenpassen würden?“

„Woher sollte ich das wissen? Ich kenne dich praktisch nicht.“

„Sei mir nicht böse, aber wenn ich dich richtig einschätze, bist du eine Spätzünder-Jungfrau. Du hattest du noch keine feste Freundin und wärst dabei auch nicht besonders wählerlisch. Du weißt noch nicht, welcher Typ Frau dich auf die Palme bringt, welcher dich zu Tode langweilt oder wie es sich anfühlt mit jemandem auf einer Wellenlänge zu sein. Im Moment, glaub‘ ich jetzt einfach, sind deine einzigen Anforderungen an ein Mädchen, dass es weiblich ist und vielleicht nicht ganz danach aussieht, als hätte sie in Säure gebadet.“

„Und wo ist das Problem?“, entgegnete Marco mit einem ungeahnten Schub an Selbstbewusstsein.

Was funktionierte. Sie sah ihn nun mit etwas Neugier an. Ein neugieriger, Mensch gewordener Adler, der ihm sogar eine Gegenfrage stellte: „Wie meinst du das?“

„Alles, was du gesagt hast, ist wahr. Ich bin jetzt bald zwanzig Jahre alt, meine längste Beziehung war zwei Tage lang und mein Rekord bei Frauen liegt irgendwo zwischen Zungenkuss und Busengrabschen. Und klar, weiß ich nicht, wie man die Frau für’s Leben findet. Aber was spielt das für eine Rolle? Hast du Angst, dass ich dir die Achseln lecke, anstatt dich zu küssen, weil ich so wenig Ahnung davon hab‘?“ – die Elfe kicherte –„Ich hab‘ dich aus demselben Grund angesprochen, wie die Typen im Klub: Weil du mir gefällst. Und ich behaupte einfach mal, dass die normalerweise auch nicht auf der Suche nach einer Frau sind, mit der sie mal Kinder großziehen wollen. Außerdem: Mangelnde Erfahrung kann man loswerden – ganz besonders durch Erfahrung, wie man sagt.“ Den letzten Satz zitierte er fast wortgenau aus einem Frauenmagazin.

Die Jeansjacke neben ihm musste noch einmal schmunzeln und dabei sogar unmerklich den Kopf schütteln.

Doch dieses Mal ging Marco in die Offensive und tippte ihn an: „Hey, deine Mama hat gerade angerufen: Du hast dieses Jahr schon wieder vergessen, deine Haare zu waschen.“

Die Jeansjacke wandte sich ihm mit grimmigen Blick zu. „Hey, sach ma –“

Wurde aber auf liebliche Art von der Elfe unterbrochen, indem sie Marco gespielt rügte: „Du bist gar nicht mal auf den Mund gefallen. Was aber nicht heißt, dass du dich über Obdachlose lustig machen musst!“

„Aber er trägt die Klamotten seines toten Onkels, außerdem ist es auf seinen Schultern schon Winter.“

Die Jeansjacke schnaubte, sichtlich gekränkt, klopfte sich die Schuppen von den Schultern und setzte sich seine Kopfhörer auf. Eine Aura aus gedämpftem Death Metal entfernte ihn aus dem Gespräch.

Die Elfe lehnte sich zurück und musterte Marco vielsagend. Nur kurz, aber trotzdem erkennbar lag in ihrem Blick so etwas wie ein Fenster, eine Chance, für ihn. „Also gut, wie stellst du dir das vor?“, begann ihre nächste Verteidigung gegen ein Date. „Ich studierte Anglistik, aber nur, weil ich nicht weiß, was ich sonst machen sollte. Ich bin jedes Wochenende im Klub, daneben gehe ich in einen Aerobic-Kurs und am Abend sitze ich vor dem Fernseher. Und damit enden meine Hobbies und auch gleich dazu meine Interessen. Wäre das Leben eine Fernsehserie, wäre ich eine von den Statistinnen im Hintergrund und damit auch noch glücklich. Außerdem habe ich mich vor einem halben Jahr von meinem Freund getrennt, oder besser: er von mir, weil er unbedingt mit einer zweistelligen Zahl an Frauen geschlafen haben muss, bevor er sich binden will. Kannst du damit etwas anfangen? Glaubst du, dass ich dein Leben bereichern würde?“

Marco zögerte, bloß nicht zu lange. „Darüber muss ich nachdenken.“

„Wie lange?“

„Sagen wir … drei Monate. Wir können aber in der Zeit was miteinander machen. Wie wär’s mit ein paar Dates? Ich bin nicht der Klub-Typ, aber ich kann toll in Filmen dazwischen quatschen und kein einziges Sternbild erkennen! Außerdem solltest du mal meine Schnürsenkeltechnik sehen!“

Sie blickte auf seine Schuhe. „Das ist wirklich der seltsamste Knoten, den es je gegeben hat.“

„Nope. Es ist einfach nur das erste Mal, dass du etwas anderes siehst, als den doppelt auf Slip gelegten Kreuzknoten, den sonst jeder im Kindergarten beigebracht bekommt.“

Die Elfe grinste. „Woher wusste ich nur, dass du ihn auch noch mit Namen benennen kannst?“

„Oh, es kommt noch schlimmer: Das was du an meinem Schuh siehst, ist nichts anderes als ein Kreuzknoten, nur halt um einen Zweistrang-Bändselknoten erweitert. Der ist viel stabiler. Und auch viel schwerer zu binden.“

„Warum um alles in der Welt tut man sowas?“

„Mir sind sonst immer die Schuhe aufgegangen. Ich hab‘ wohl ´nen Spreizfuß oder so. Aber was du doch viel eher fragen solltest: Was können wohl die Hände von jemandem noch ausrichten, der sich jeden Morgen die Schuhe bindet, als wär‘ er ein Seemann?“

„Er kann mit Sicherheit ganz gut seine Entführungsopfer fesseln. Warst du bei den Pfadfindern oder wo lernt man sowas?“

„Pfadfinder in Deutschland? Ich dachte, sowas gibt‘s nur in den USA oder als Fähnlein Fieselschweif in den Lustigen Taschenbüchern. Die Wahrheit ist aber viel schrecklicher: Ich hatte zu viel Zeit und wollte irgendwas können, das sonst keiner drauf hat.“

„Okay, dagegen müssen wir unbedingt was tun. Also gegen zu viel Zeit und die verrückte Lust, aus den Schnürsenkeln Galgen für Mäuse zu machen.“ Sie schüttelte den Kopf, wühlte in ihrem Rucksack und holte einen Ringblock hervor. Darauf schrieb sie mit einer gekonnten Handbewegung, als wäre sie Kalligraphin, ihre Nummer und Namen.

„Du hast gewonnen, du Bücherwurm mit Knoten-Fetisch. Du hast einen Versuch, mich im Kino zu küssen. Aber bitte nicht mit dem Vorwand, Schultern zählen zu wollen. Der Trick ist so alt wie die Schulter selbst.“

Hätte sie vielleicht gesagt.

***

Marco saß immer noch an seinem Platz, die Elfe döste immer noch an ihrem. Er war schon wieder in einen seiner Tagträume hinabgeglitten und hatte sich immer noch nicht an das Feenwesen herangewagt.

Warum nicht?, argumentierte ein Teil seiner Selbst mit den anderen. Was könne denn im schlimmsten Fall schon passieren?

Sie wird mich abblitzen lassen, mit einem genervten Blick. Wie so ziemlich alle vor ihr.

Vielleicht. Aber wenn, dann nur, weil du mit genau diesem Gedanken rangehst. Dieser ewige Zweifel! Tu es einfach!

Um mich den Rest des Tages drüber zu ärgern, dass ich wieder verschissen habe?

Ärgerst du dich lieber eine Woche lang, dass du es nicht versucht hast? Tu es!

Ich tue es!

   Nicht nachdenken, machen! Aufstehen! Ansprechen! Nummer klarmachen! Kinder kriegen!

Marco wollte gerade über seinen eigenen Witz lachen – nur in Gedanken natürlich –, da stand er wie von selbst auf, wurde auf die Elfe zugesteuert und hörte jemanden mit seiner Stimme sprechen: „Hallo, meine Damen und Herren und willkommen zum peinlichsten Moment meines Lebens, indem ich, Marco, ein bildhübsches Mädchen in der Bahn anspreche und mich dabei –“

Wer immer da gerade aus seiner Kehle sprach, brach ab. Nicht nur, weil die Elfe einfach überhaupt nicht darauf reagierte, sondern weil außerdem noch der ganze Zug verstummte. Alle Gespräche rissen plötzlich ab, von einem Moment auf den nächsten. Jeder schien noch seinen Satz zu beenden, um dann … abzuschalten. Anders ließ es sich nicht beschreiben: Die Fahrgäste deaktivierten sich. Wer gerade las, klappte das Buch zu; wer einen Kaffee trank, stellte den Becher ab; ein Büroarbeiter, dem Marco über die Schulter sehen konnte, tippte auf seinem Laptop noch den letzten Satz in einer E-Mail fertig und klappte ihn danach zu, um sich wie alle anderen aufrecht hinzusetzen und in dieselbe Schockstarre zu verfallen. Die ganze Bahn war auf einmal wie hypnotisiert. Und nicht nur diese.

Marco wollte reagieren, irgendwie, da hielt der Zug an einer Station am Stadtrand, an der normalerweise eine Masse an Pendlern zustieg. Der halbvolle Waggon wurde dann meistens voll; an manchen Tagen mussten sich ab hier sogar die Ersten mit Stehplätzen begnügen – nun aber geschah nichts. Der Bahnsteig war voll. Menschen sammelten sich dort, jung, alt, Schüler, Rentner, von abgewirtschaftet bis junggeblieben, aber dennoch stieg niemand zu. Sie standen einfach nur da, starrten teilnahmslos in die Leere und warteten im Zombie-Modus ab, bis der Zugführer ein undeutliches „Bitte zurückbleiben!“ durch die Lautsprecher nuschelte und den Zug wieder in Bewegung setzte.

Er fuhr weiter, aber das endlos, wie Marco gleich darauf bemerkte. Das gegenüberliegende Gleis schien sich unendlich lang gerade hinzuziehen, die Graffiti am Lärmschutzwall wiederholten sich, was schließlich auch für die Bäume zutraf. Eine riesige Eiche, gefolgt von fünf Nadelbäumen, dann eine Lücke, dann wieder die Eiche, die Nadelbäume, die Lücke …

Nicht nur die Menschen, die ganze Realität schaltete sich ab!

Als letzter Nicht-Zombie schrie Marco auf, niemand reagierte. Er stürmte in den Bereich zwischen den Türen, trat dabei einen abgestellten Becher mit Kaffee um und stieß zwei Zombies zur Seite – niemand reagierte. Niemand reagierte irgendwie! Er drückte sogar seinen Daumen in das Auge eines Herumstehenden, der einfach nur etwas heftiger blinzelte.

Was geschah hier?

„Und, was sagst du zur Einleitung?“, fragte plötzlich die Stimme eines Gottes. Sie durchdrang alles, die ganze, seltsam zombifizierte Welt und sprach direkt in Marcos Geist. „Ein guter Prolog?“

Alles begann sich aufzulösen. Die Landschaft hinter dem Fenster wurde von einem diffusen, weißen Licht verschluckt. Die Werbeanzeigen in der Bahn verschwanden und ließen nur leere Flächen zurück. Mit einem Mal waren alle anderen Fahrgäste fort.

„Jad, ist denn alles Ordnung?“

Jad? Nein, J’Anin. Die richtige Bezeichnung lautete J’Anin. Jad war nur die Kurzform für J’Anin.

Und das war sein Name, erinnerte sich Marco plötzlich.

Mit einem Mal war er zurück.

J’Anin fand sich in Annois Appartement wieder. Es war hell, weiß und angenehm. Wände aus weißem, leicht glänzenden Kunststoff beschrieben in geschwungenen Bewegungen das Wohnzimmer. Linien aus weinrotem Holz trennten Wand von Decke und Regale, die Couch und diverse Kommoden schienen sich regelrecht und mit unbeschreiblicher Ästhetik aus der Mauer herauszuschälen. Sie taten es auch, erinnerte sich J’Anin. Jedes Smartleben passte sich von selbst an die Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten seines Bewohners an.

Zu J’Anins Rechten öffnete sich die Wand zu einem riesigen Aquarium, ein Minotarium, wie er sich in Erinnerung rief. Darin umspielten winzige Orcas einen Blauwal, der kaum dreißig Zentimeter lang war und an den Stränden tummelten sich mausgroße Seehunde. Thunfische erreichten kaum die Größe eines Kinderdaumens und wurden manchmal von der Reinigungsanlage erfasst. Links von J’Anin verlief ein Panoramafenster und dahinter strebten stromlinienförmige Arkologien, also in Hochhäuser verpackte Städte gen Himmel. Diese stromlinienförmigen Monumente aus Chrom und Glas spielten wunderschön mit dem Sonnenlicht.

„Nun sag schon“, drängte jemand. „Wie gefiel dir meine neueste Sinnsaat?“

J’Anin blickte in das Gesicht der Elfe, nur war sie nun deutlich schöner, blass und ihre Augen langweilig blau. Außerdem war sie ein Mann. Er hieß Annoi, erinnerte sich J’Anin, und war ein guter Freund, oder besser: Einer von diesen Freunden, die gute Freunde sein wollen, obwohl man sie eher als bessere Bekannte sieht. Beruflich arbeitete jener Annoi als ein Emonstirat in einer Nano-Züchterei und hobbymäßig versuchte er sich als Autor einiger, drittklassiger Sinnsaaten, die ihm immer noch nicht die zeitlose Berühmtheit eingebracht hatten, von der er schon lange träumte.

J’Anin hörte sich stöhnen: „Du unfähiger Narr hast schon wieder keinen Filter eingestellt.“ Es sprach wohl gerade der Teil, der sich bereits an alles erinnerte.

„Meinst du das – oh nein!“ Annoi erschrak, jedoch ohne Emotionen zu zeigen. Nicht, weil er keine hatte, sondern weil alle drastischen Ausdrucksarten wie Lachen oder Schrecken schon vor fast einem Jahrtausend abtrainiert worden waren. „Das tut mir furchtbar leid“, beteuerte der Freund ehrlich. „Oh nein, du hast eben Marcos ganze Jugend erlebt, mit allen Gefühlen und Empfindungen.“

„Schlimmer noch: Ich habe geglaubt, ich wäre er. Ich musste mich jetzt erstmal an dich erinnern.“

Annoi quietsche, jetzt fast so panisch, als wäre er aus dem 21. Jahrhundert: „Großer Gedanke, diese zwei Minuten müssen dir wie 19 Jahre vorgekommen sein!“

J’Anins Gedanken sprudelten nur so aus allen Ecken seines Verstands. Als hätte er Jahre in einer dunklen Kammer gelebt, in der nun jemand zum ersten Mal das Licht einschaltete, jagten sie durch alle Winkel seines Seins und überfluteten ihn mit Daten, Fragen und Fakten.

Dabei stolperten sie über die Sinnsaaten. So hatte er es doch genannt: Eine Sinnsaat. Sie waren längst nichts Neues und nichts Ungewöhnliches mehr und hatten das, was er als Fernseher oder Computerspiele kannte, schon vor Jahrhunderten in den Hintergrund gedrängt, weil sie wirklich alle Sinne, ja sogar das Schmerzempfinden ansprechen konnten. Wer sich die Nachrichten als Sinnsaat ansah, stand für einen Moment wirklich im Krisengebiet und roch vielleicht sogar noch das Schießpulver – auch wenn es weder das eine noch das andere seit Jahrhunderten gegeben hatte. Statt einem Actionfilm durch einen Bildschirm zu sehen, versetzte man sich direkt hinein, kämpfte selbst die Kämpfe und wenn man sich eine Sinnsaat ungefiltert antat, glaubte man zudem noch für die Dauer der Erzählung, selbst der Protagonist zu sein. Ähnlich einem Traum. Man glaubte sogar, alle Entscheidungen auch genauso selbst zu treffen, ganz gleich, wie seltsam oder bizarr sie im Nachhinein erschienen. Und das alles in Sekunden. Durch die sogenannte Neuroleptische Überlagerung konnte man Jahrzehnte in Minuten erleben. Es gab Sinnsaat-Verrückte, die durch Jahrtausende wanderten, Zeuge wurden, wie Königreiche und Zeitalter kamen und gingen und das an nur einem einzigen, freien Tag. Viele, die von einer solchen, man nannte sie, Immortalen Wanderung zurückkehrten, hatten sich danach grundlegend verändert. Manche brachten sich wenig später um.

Eine Sinnsaat, verstand J’Anin nun endlich: Dieser Marco, das war er nie gewesen! Seine Eltern, sein ganzes Leben, die Schule, die Romane, die Ausbildungsstelle in der Stadt, die Tagträume … diese schöne Elfe – das war alles nur eine Geschichte in Annois neuester Sinnsaat gewesen, also einer vollständig wahrnehmbaren, aber virtuellen Erfahrung, die wohl von einem Außenseiter zu Beginn des Internetzeitalters erzählte. Oder erzählen sollte, denn sie war nicht besonders spannend und auch historisch mehr als inkorrekt. Und dass sich Annoi schon wieder selbst als begehrenswerte Frau eingebaut hatte, ärgerte J’Anin umso mehr.

J’Anin. Erkannte er mit einem Anflug des Schocks. Er war J’Anin. Das war sein Name. Er war vor etwa zweihundert Jahren im Saturnorbit aus einem Brutbeutel geschnitten worden und in eine Welt hinein, die ihm eben noch als der Science-fiction des Science-fiction serschienen wäre und sich jetzt wieder als ganz alltäglich anfühlte. Es gab sogar hier Science-fiction-Romane, die man für unerreichbaren, eskapistischen Quatsch hielt.

Aber da war noch mehr: Er war längst erwachsen. Längst. Nach seiner Konsolidierung arbeitete er eine lange Zeit, länger als ein Mensch im 21. Jahrhundert gelebt hätte, als Partikelsammler unterhalb der gefährlichen 400-Kilometer-Grenze auf dem Saturn, studierte danach Geschichtswissenschaften und hatte bereits zwei erfolgreiche Vermehrungsanträge durchlebt. Er erinnerte sich an endlose Sinnsaaten, die er durchlebt hatte; Bücher, ganze Bibliotheken, die man aber nicht mehr las, sondern direkt ins Gehirn übertrug; an so einige schlechte Taten, die aber nicht bereute, Gespräche, Abenteuer, Exzesse, Nachrichten und … Kinder, Erziehung, Strafen, Geschenke, sinnlose Diskussionen und Enkel. Und noch mehr!

Da war noch mehr.

Da war noch so bitterviel mehr.

Dem Verursacher des Ganzen, diesem trotteligen Annoi tat das alles sichtlich leid. Er atmete schwer. „Soll ich einen Neurologen rufen?“, fragte er, um anscheinend irgendwie die Katastrophe begrenzen zu können.

J’Anin richtete sich vom Sinnsessel auf – kribbelndes Stimgel tropfte von seinen Armen –, stieß Annoi zur Seite und taumelte ziellos in die Wohnung hinein. Sein Kopf pulsierte vor Schmerz und seine filigranen Hände zitterten. „Ich gehe selbst hin“, erklärte er und vertrat sich die Beine. Es war, als wären sie eingeschlafen. Sie und der ganze Rest seines Körpers. Süßer, lebensbestätigender Schmerz floss durch seine Gliedmaßen. „Aber du bestätigst mir jetzt gleich die Rechnung!“

„Bestätigt.“

Ein Piepsen jagte durch sein Gehirn, das mit stechendem Schmerz antwortete. J’Anin stöhnte, als seine Implantate auf diese Art die Bestätigung bestätigten. Gleichzeitig starb in ihm der gutherzige, zartbesaitete Marco, der er die letzten zwei Jahrzehnte gewesen war. Und das fühlte sich an, als würde sein ganzer Charakter hoffnungslos von einem Dämon namens J’Anin verschlungen werden. „Deine Geschichte ist ereignislos und monoton“, fluchte dieser, wohl auch als Antwort auf den Schmerz. „Wenn du schon von den Anfängen des Internets erzählen willst, dann solltest du mehr Sex einbauen. Orgasmen, Seitensprünge, Promiskuität – deine Lieblingszeit war das letzte Zeitalter, in der man so etwas noch natürlich erleben konnte.“

„Aber das tun alle“, verteidigte sich Annoi kleinlaut. „Jeder Sinnsäer macht das 21. Jahrhundert zu einem Strudel aus Körperflüssen.“

Ein Mahlstrom wütete auch durch J‘Anins Kopf. Er konnte immer noch keinen klaren Gedanken fassen Wie auch? „Deshalb streichst du den Sex ersatzlos raus? Wozu? Niemand will die Lebensgeschichte eines vereinsamten Bücherwurms durchleben, wenn er nicht später zum weltbeherrschenden Konzernchef aufsteigt.“ Eine Sinnsaat ohne Filter! Annoi, du verdammter Narr!

„Ich wollte eine realistische Geschichte schreiben“, verteidigte sich dieser.

„Dann hättest du besser recherchieren sollen. Der Sohn von George Bush war nie Präsident der Vereinigten Staaten – das ist ein Historikerwitz, der es leider bis zum allgemeinen Missverständnis geschafft hat. Es gab auch nie eine Stadt namens Moskau – was soll das überhaupt für ein Name sein? – oder einen Kontinent namens Australien! Hast du dir vom Intelligenzzentrum keine Lektorin programmieren lassen? Die hätte das sofort gelöscht.“ J’Anin lehnte sich an die Wand und versuchte endlich den Schwindel loszuwerden. „Oder warte: Jetzt erst verstehe ich es! Dieses Australien sollte eine Eigeninterpretation sein, nicht wahr? Ein Kontinent, auf dem alle Märchenwesen leben … vom Koala bis zum Känguru.“

„Ich mochte diese Geschichten. Damals vor der Konsolidierung“

J’Anin schnaubte. „Das ist eine Antinomie und nicht konsistent, gar nicht! Solche Wesen hätten in der Erdevolution nicht entstehen können. Zumindest nicht, ohne irgendwo Ableger zu bilden. Du müsstest dann noch ein sibirisches Zwerg-Känguru einbauen und ein mitteleuropäisches Wiesen-Schnabeltier. Aber das würde auch nichts daran ändern, dass deine Geschichten unerträglich langweilig sind! Sie haben keine Aussage! Außer, dass einsame Tagträume schlecht sind!“, fügte er lautstark an. So etwas zu können, das hatte er als Marco vermisst.

Annoi zögerte. „Ich wollte von einem Jugendlichen erzählen, der in einem der reichsten Länder der Welt lebt und trotzdem unglücklich ist – als Analogie zur heutigen Zeit.“

„Das ist mir bewusst! Das ist jedem bewusst! Hör auf, dich hinter zauberhaften Pseudo-Prämissen zu verstecken! Diese Sinnsaat dir nicht gelungen! Alles, was du damit geschafft hast, ist es, das Gehirn deines Testobjekts in die Mikrowelle gesteckt zu haben. Weil du der einzige Sinnsäer bist, der dreimal den Filter vergisst und seine Freunde für zwanzig oder sogar hundert Jahre in den Tunnel schickt, wie den armen Anjan!“ Erst jetzt bemerkte J’Anin, dass ihm der Speichel aus dem Mund tropfte.

Annoi wollte etwas erwidern, wurde aber rau von seinem „Probeleser“ unterbrochen: „Lass es! Ich gehe jetzt zu meinem Dipol“ – ein Schwebefahrzeug, das mit Hilfe des Erdmagnetfelds durch die Luft schwebt – „und lasse mir die Synapsen richten! Und du denkst dir bis dahin etwas mehr aus, als einen Bücherwurm im schlecht recherchierten 21. Jahrhundert!“

„Gehen?“, fragte Annoi. „Zu … deinem Dipol?

J’Anin hielt inne. Das war nämlich gar nicht möglich.

Denn erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass er ja gar keinen Dipol besaß. Nie hatte! Und Annois Appartement gar nicht erst über gar keine Ausgangstür verfügte! Es brauchte auch keine. Die Stadt vor seinem Fenster war ebenfalls nicht echt, sondern nur eine Render-Darstellung, die von einem Bildschirm simuliert wurde … den es genauso nicht gab. Gar nichts hier war real. Das alles war genauso nur eine Sinnsaat, also eine virtuelle Realität, in der er sich in eine weitere Sinnsaat verloren hatte.

Das saß. Diese Erkenntnis war zu gewaltig.

J‘Anin hatte den Saturn nie verlassen, um auf dem blauen Planeten zu studieren. Nein, etwas anderes musste geschehen sein. Ein Sturm, fiel ihm wieder ein, da war ein Sturm gewesen. Die Sammelbarke geriet überraschend in einen der Superstürme, die in den Tiefen der Wolkenmeere wüteten … und denen man nicht mehr entkam, wenn man einmal von ihnen erfasst wurde. Explosionen donnerten draußen so laut, dass sie durch das ganze Schiff vibrierten. Die Segel links und rechts brachen ab, die unterste Sektion ging in Flammen auf, die Notfall-Stabilisatoren versagten. Sie stürzten ab. In die endlose, schwarze Tiefe des Saturn.

Nein! Das konnte nicht sein! Wer mit einer Barke bis in die Ozeane unter den Wolkenmeeren fiel, kehrte niemals lebend zurück. Dazu brauchte man ein spezielles Forschungsschiff und selbst damit –

Er war nicht zurückgekehrt, erinnerte sich J’Anin. Niemand war das. In ihrer Verzweiflung hatte sich die ganze Crew mit dem Bordcomputer verbunden, ihren Verstand in den Flugschreiber kopiert und diesen per Rakete in den Orbit befördert. Der J’Anin jetzt war nur noch eine Kopie in einer virtuellen Welt. Ein Programm. Das Original wurde vermutlich nur wenige Momente nach der Übertragung durch die gewaltigen Kräfte des Saturn zerquetscht. Seine Leiche hatte man nie gefunden. Man entdeckte jedoch Wochen später den Flugschreiber, der hilferufend im Orbit um den Gasriesen trieb, rettete die gespeicherten Persönlichkeiten und übertrug sie in eine virtuelle, computergenerierte Welt, dem Annihilion, so wie man es schon seit Jahrhunderten mit allen Toten machte. Von dort aus bereicherten sie die Gesellschaft durch geistige Arbeit.

Wie beispielsweise als Verwalter, Prüfer, Designer, aber auch Therapeuten oder natürlich als Sinnsaat-Autoren: Annoi war es genauso ergangen. Er war bei einem Unfall mit seinem Dipol ums Leben gekommen und gerade noch rechtzeitig gespeichert worden. J‘Anins Dozent, unter dessen strenger Hand er nach seinem Ableben Geschichtswissenschaften studiert hatte, starb an Altersschwäche, sein Lebensabschnittsgefährte an einer fehlerhaften Rückkehr aus der chemischen Stase und sein Nachbar gehörte sogar zu den wenigen Mordopfern und war somit eine kleine Berühmtheit.

Und J’Anin? J‘Anin war tot. Er war ein Programm, das glaubte J’Anin zu sein, das wiederum für eine Zeit glaubte, eine fiktive Romanfigur namens Marco zu sein. Er war die Lüge in der Lüge gewesen.

Diese finale Erkenntnis brach alleszerstörend über ihn herein.

***

Stopp!

Und los!

Marco stand auf.

Er hatte jetzt genug taggeträumt, schon bis in die abstraktesten Ebenen hinein und nun es war an der Zeit, sich einen Korb geben zu lassen.

Unerwartet mutig marschierte er zu der Elfe, die immer noch mit geschlossenen Augen an ihrem Platz saß und ihn auch nicht kommen spürte, postierte sich vor sie und begann, seine Worte einfach so herauszupressen: „Hey, ich bin – also, ich heiße Marco und ich wollte …“

Die Elfe wandte sich ihm zu, öffnete jedoch nicht die Augen, sondern sah ihn an, ohne ihn anzusehen.

Marco wartete noch, ob sie es sich vielleicht doch anders überlegte und fragte dann: „Ist alles in Ordnung?“

Sie antwortete, mit einer niedlichen, liebevollen, aber doch irgendwie ganz normalen Stimme: „Ich bin blind.“

„Du bist …“, wiederholte er stockend.

„Blind. Ein angeborenes Glaukom. Außerdem sollen meine Augen kein schöner Anblick sein, deswegen lass‘ ich sie lieber geschlossen. Tut mir leid, wenn das unhöflich wirkt.“

Erst jetzt bemerkte er einfach alle Anzeichen dafür, wie den Blindenstock zu ihrer Linken oder die aufmerksame, bewegungsfreudige Art, mit der sich auf ihrem Platz gesessen war und die Dösende niemals besitzen. Meine Fresse, war ihm das gerade peinlich.

„Dein Name ist Marco. Habe ich das richtig verstanden? Was wolltest du denn von mir?“

Er seufzte. „Mich wie ein Idiot aufführen.“

„Ich glaube nicht, dass man schon ein Idiot ist, nur weil man Blindheit nicht auf den ersten Blick erkennt. Was hattest du denn sonst vorgehabt? Also, außer dich schlecht zu fühlen?“, fragte sie niedlich lächelnd.

„Ich wollte dich nach deiner Nummer fragen.“

„Oh, also die ist auf jeden Fall schon mal verhandelbar. Deine Stimme ist schön. Als würde man weiches Holz schnitzen, das aus Schokolade besteht.“

„Holz aus Schokolade?“, wiederholte Marco.

„Das ist so ein Blindending. Vergiss es! Ich würde dich ja gern fragen, ob du dich nicht zu mir setzen willst, aber ich glaube, da sitzt schon jemand.“

Damit hatte sie Recht. Zwei alte Frauen saßen dort. Kein vollgereierter Büroarbeiter, kein junggebliebener Mittvierziger in Jeansjacke und auch keine Mutanten, sondern einfach nur zwei alte Damen. Eine davon wollte aber süß sein: „Ich setz‘ mich da rüber“, bestimmte sie und sprang auch schon auf. „Die Blinde und der Italiener – das will ich mir nicht entgehen lassen.“

Die Elfe lächelte. „Soso, ein Italiener also.“

„Leider ohne die ganze Heißblütigkeit. Ich fahre noch nicht mal eine Vespa.“

„Hast aber dafür eine akzentfreie Schokoladenholzstimme. Was muss ich denn andersherum tun, dass du mir deine Nummer aufschreibst? Ich habe leider kein Handy, aber dafür zuhause ein Wahnsinns-Telefon. Mit Hörer und Braille-Tasten für Blinde.“

Marco setzte sich. „Aber, wenn ich dir die Nummer aufschreibe – wie liest du sie dann?“

„Ganz einfach. Einer alten Legende nach soll es Menschen geben, die ganz normal sehen können. In meinem Fall ist das meine Mama. Aber keine Sorge, reden kann ich dann doch wieder selbst. Und du? Was ist deine Art von Lieblingsrolltreppe? Oder gehörst du etwa zu diesen analogen Stufensteig-Veganern?“

Marco lächelte.

Das wäre doch ein schönes Ende.

— Maxx, 2002

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