Nimmer ich
Ein prosaisches Drama von Maximilian Wust
(1. Platz, Roloff-Anthologiewettbewerb „Umbrueche„, 2020)
Es heißt, dass jeder eines Tages seiner dunklen Seite begegnet.
Dem einen präsentiert sich ganz harmlos als rote Ampel, vor der aber keiner steht oder ganz drastisch, als feindlicher Soldat, der vor unseren Füßen um Gnade fleht. Sie wartet unbeaufsichtigt, als Gelegenheit im Parfümregal oder als fetter Geldbeutel an der Bordsteinkante. Sie ist das betrunkene Mädchen, das nach einer Party zu uns in den Schlafsack kriecht, sich an uns schmiegt und unrettbar einschläft oder der Kassierer, der uns zu viel Geld rausgibt. Früher oder später, ob mit 16 oder 56, da kommt sie, wie aus dem Nichts, führt uns in Versuchung und lässt uns ein Leben lang bereuen.
Meine dunkle Seite entdeckte mich in den Rocky Mountains. Malcolm war damals fünf Jahre alt und wir wanderten, als Vater und Sohn, über eine der gemütlicheren Routen hinter der Hütte meines Schwagers. Es war einer dieser tollen Bergpfade, mit unberührter Natur, melodisch plätschernden Bächen und dem gleichmäßigen tack-tack-tack der Spechte. Einer dieser Orte, in denen Jugendliche in Horrorfilmen verloren gehen oder Westernhelden von Panorama zu Panorama reiten – uramerikanisch schön eben.
Wir wanderten also den Trampelpfad entlang, Malcolm schleppte sich mit müden Beinen voran und da kam sie, meine Dunkelheit, als Berglöwe zu Fleisch geworden. Als das Gelände karg wurde und die Wälder den Felswänden wichen, stand er plötzlich da, mitten auf dem Weg, vielleicht zwanzig Fuß von uns entfernt und hatte uns auch schon fixiert. Ein mächtiges Tier. Unter seinem wunderschönen, graubraunen Fell konnte ich die Muskulatur arbeiten sehen, die sonst Knochen zermalmt und Sehnen zerfetzt. In seinen grauen Augen lag die höchste Form aller Gerechtigkeit: Die Fähigkeit, ohne Skrupel töten zu können; nur zum Zweck, ohne Vergnügen oder Hingabe.
Einen Moment lang sahen wir uns gegenseitig an, Malcolm presste sich gegen meine Hosenbeine. Dann fletschte die Raubkatze die Zähne und setze zum Sprung an. Wie eine Hauskatze, bevor sie eine Amsel zerreißt.
Mein erster Gedanke, mein erster Impuls war nicht, mich groß zu machen und zu brüllen, wie auf den Warnschildern empfohlen wurde. Er war nicht, meinen Sohn hochzunehmen und mich von dem Berglöwen zu entfernen, während ich ihm gespielt furchtlos in die Augen sah. Er war nicht, mich schützend vor meinen Sohn zu stellen.
Stattdessen kam mir der Gedanke, ihn zum Löwen hinzustoßen und dann die Beine in Hand zu nehmen. Ich überlegte ernsthaft, Malcolm, mein eigenes Kind, als Köder zurückzulassen. Für eine Sekunde, zwei, drei – viel zu lange, um nur ein Impuls zu sein und meine Hände schwitzen und zitterten.
Der Berglöwe gab ein einziges Knurren von sich und wandte sich ab. Vielleicht hatte er nur ein wenig Stärke zeigen müssen, vielleicht waren wir seinen Jungen zu nahe gekommen oder die Park-Ranger hatten ihn mit Steinsalzmunition zur Menschenscheue erzogen – falls man so etwas überhaupt mit Berglöwen tut.
Aber Malcolm lebte weiter.
Er ging zur Schule, er brachte eine Freundin nach Hause, die dritte heiratete er, er bekam Kinder, baute ein Haus, wurde geschieden und Leiter seiner Abteilung. Er lebte ein langes, bewegtes, aber auch oft glückliches Leben. Als ich ins Krankenhaus gebracht wurde und die Ärzte bereits warnten, dass ich es vielleicht nicht mehr verlassen würde, da hielt er meine Hand und dankte mir für all die Unterstützung. Als ich doch wieder nach Hause kam, weinte er Tränen der Freude.
Ich dagegen.
Ich bin der Vater, der seinen Sohn dem Löwen zum Fraß vorgeworfen hätte.
– Maxx, 2000