Das Drama um Bert die Spinne

Maximilian Wust - Das Drama um Bert die Spinne

Das Drama um Bert die Spinne
Eine Komödie von Maximilian Wust

DIE GROSSE ZITTERSPINNE.

Jeder Deutsche, wahrscheinlich sogar jeder Mitteleuropäer hat im Leben schon eine gesehen. Sie sind in erster Linie Höhlenbewohner, die sich in den künstlichen Höhlen der Menschheit durchaus wohl fühlen, zusammen mit den Hausspinnen, die ebenfalls aus einem Zeitalter stammen, als es noch gar keine Häuser gab.

Zitterspinnen erkennt man an ihren chaotischen Wirrwarrnetzen, ihren grazilen, langen Beinen und daran, dass sie mit dem Bauch nach oben in ihrem Fadenchaos lauern. Man kann sie auch als eine recht soziale Spinnenrasse bezeichnen: Zum Beispiel kümmern sie sich sogar ein wenig um ihren Nachwuchs und sie fressen sich nicht so gerne gegenseitig, wie die meisten anderen Webspinnen. Dafür aber umso lieber, wenn es um Sex geht. Und hier beginnt die Geschichte von Bert, der eben genau das einmal haben wollte.

Normalerweise tat ich mit Zitterspinnen an der Decke das, was sonst jeder tut: sie und ihr Staub fangendes, schmutziges Nest an den Staubsauger verfüttern. So sollte es auch mit den Zweien geschehen, die ich an einem Samstagmorgen an der Wohnzimmerdecke bemerkte. Ich holte den Sauger und wollte gerade die Miniatur eines Schwarzen Loches spielen, als sich plötzlich ein dritter, etwas kleinerer Artgenosse dazu gesellt hatte.

Diese etwas Kleinere verharrte vor einem der beiden Netze. Entweder, so dachte ich mir, will sie das Netz übernehmen – und die derzeitige Bewohnerin bei der Gelegenheit zu einen Snack umfunktionieren – oder es ist ein Männchen, das gerade zur Eroberung ansetzt.

Das war er auch. Also, musste er sein. Schließlich erkennt ein verzweifeltes Männchen ein anderes schon rein instinktiv, ungeachtet der Spezies. Aus einer jugendlichen Laune heraus, in der Peniswitze immer komisch sind, nannte ich diesen achtbeinigen Leidensgenossen Fickbert. Fickbert, der Zitterspinnerich, der heute noch zum Schuss kommen will.

Dabei ging er mehr als menschlich vor, mit er gewohnt traurigen Mischung aus Geduld und Verzweiflung. In der Spinnenwelt bedeutet das: Er näherte sich langsam, fast in Zeitlupe seiner Angebeteten und zupfte vorsichtig an ihrem Netz. Immer wieder spielte er nur kurz an einem der Fäden, wartete die Reaktion der Spinnenfrau ab – nämlich keine – und machte weiter. Dann, nach über einer Viertelstunde Fadenspiel-Small Talk unternahm er seinen ersten Versuch, ihr ein Bein um die Schulter zu legen. Genauso vorsichtig wie zum Flirt, begann er in das Nest hinein zu klettern. Armer Kerl! Weiß doch jeder, dass Frauen zuerst von Selbstbewusstsein beeindruckt sind.

Bert machte jedenfalls (wahrscheinlich zum ersten Mal) Bekanntschaft mit einer Alltäglichkeit der Spinnenwelt: Die Weibchen sind die totale Verkörperung einer modernen Feministin. Sie sind selbstständig, kümmern sich allein um ihr Leben und den Nachwuchs und sehen Männer als etwas, das bis auf Vermehrung eigentlich keinen Zweck hat. Daher gehört es bei ihnen zum guten Umgangston, das Männchen nach dem Sex zu fressen. Oder schon davor. Wenn man es zum Beispiel mit Beute verwechselt, einen echt miesen Tag hatte oder sich der potenzielle Partner als echter Idiot entpuppt. Es gibt sogar Spinnenarten, die aussterben, weil ihre Männchen zu oft noch beim Flirt zur Mahlzeit werden.

So wäre es wohl auch Bert ergangen, hätte er nicht mit allen acht Beinen das Weite gesucht. Er entkam und wie jedes normale Männchen, das ein Nein einfach nicht als Nein verstehen kann, versuchte er es erneut. Und danach noch einmal. Und noch viele Male. Dass er nicht gefressen wurde, lag daran, dass er sich nie besonders weit in das Netz hineinwagte. Ich vermute, das unterscheidet die guten Spinnenmännchen von den schlechten – sie wissen, wann ab wann eine Abfuhr tödlich endet.

Irgendwann, nach einer furchtbar langen und genauso erfolglosen Stunde, gab er auf und krabbelte zum anderen Weibchen und versuchte es erneut, ganz wie ein Teenager auf Partnersuche. Wieder zupfte er an einzelnen Fäden, spielte sein Ständchen, kletterte in das Netz, als wäre es ein Minenfeld und wurde von der Furie im Zentrum davongejagt. Ich weiß nicht, wie lange er es noch versuchte, aber als er am Abend immer noch vor dem Netz hockte und scheinbar gar nichts gelernt hatte, war ich mir sicher, dass das ein echter Mann sein muss: Steil wie Nachbars Lumpi und bereit, dafür sein Hirn gefährlich weit abzuschalten.

Trotzdem gab er schließlich auf. Vielleicht war es der Hunger oder irgendein Instinkt, vielleicht können Spinnen tatsächlich so etwas wie Einsicht erfahren, aber anscheinend verstand er tief in der Nacht, dass ein hundertmal ausgesprochenes Nein nicht plötzlich ein Ja wird. Er zog nach einem ganzen Tag erfolgloser Balz ab, suchte sich einen Winkel in der Nähe, wo Wand und Decke sich trafen, und baute dort behelfsmäßig sein eigenes Wirrwarr aus Fäden. Zwei Singlefrauen und kein anderer Mann weit und breit – das durfte er sich anscheinend nicht entgehen lassen.
Das Leben der drei ging zunächst seinen Lauf. Den nächsten Tag saßen sie regungslos in ihren Nestern, warteten auf Beute oder eine Gelegenheit für Sex und bohrten mit ihren Blicken metertiefe Löcher in die Luft. Bert versuchte vorerst nichts mehr, sondern wartete mit den Beinen nach oben in seinem Netz, sein totenschädelartiges Gesicht auf eine belanglose Ecke an der Wand gerichtet.

Er würde es wieder versuchen, da war ich mir sicher. Aber manchmal kann das Leben einfach eine Spinne sein, sagte einst ein großer Philosoph, den es nie gab.

***

Ob er aus seinen Fehlern gelernt und sogar eine der Damen erobert hätte, sollte ich jedoch niemals erfahren. Am dritten Tag meiner kleinen Studie der Spinnennachbarschaft kam eine vierte Zitterspinne durch einen Fensterspalt geklettert. Sie war dunkler und um ein ganzes Stück größer als die anderen … und ebenso gefährlicher. Zuerst krabbelte sie zu dem Weibchen, das auch Bert zuerst ausgewählt hatte. Aber im Gegensatz zu Bert wartete sie nicht vor dem Netz und sie klopfte auch nicht an, sondern lud sich gleich mal selbst ein. Und zwar nicht im Guten.

Kaum hatte sie das erste Weibchen erreicht, da war es schon besiegt. Die Dunkle griff nach ihr, überwältigte die Dame, wickelte sie vollständig in Spinnfaden und spritzte ihr das tödliche Gift. Es dauerte keine Minute, da hing sie zusammengeschnürt an einem einzigen Faden aus ihrem ehemaligen Wohnsitz, direkt neben Insektenflügeln und Schalen; wie Beute, zu der sie nun letztendlich gehörte.

Als das Netz erobert war und sich die frühere Bewohnerin selbst verdaute, schien die Dunkle so richtig Lust am Kannibalismus bekommen zu haben. Sie zögerte nicht, nicht einmal eine spinnentypische Stunde, sondern schnappte sich gleich das zweite Weibchen.

Dieses tat, was Zitterspinnen ihren Namen gibt: Sie zitterte in ihrem Netz auf und ab, um in der Vibration sozusagen unsichtbar zu werden, was mit Sicherheit gegen ein paar Vogelarten hilft, aber nicht gegen einen Artgenossen mit perversem Hang zur Mordlust. Es kam zum Kampf, ein wirres Spiel aus Spinnenbeinen und einem leidenschaftlichen Kuss, mit Giftzähnen durch den Außenpanzer.

Das nächste Opfer der Dunklen sollte nun Bert sein, der nichtsahnend in seiner Singlewohnung von einem Netz saß und immer noch die gleiche Wand anstarrte.

Aber dazu kam es nicht.

Wie die Deus Ex Machina in den Filmen oder wie Gott, der das unüberwindbare Meer teilte, schwebte auf einmal ein Staubsaugerrohr über der Dunklen. Getöse, ein reißender Strom aus Luft und viel zu schnell, noch bevor sie überhaupt verstehen konnte, wie ihr geschah, verschwand die Mörderin in der Dunkelheit und wurde nie wieder gesehen. Glaube ich jedenfalls. Keine Ahnung, was mit Staubsaugerbeuteln passiert, nachdem man sie weggeworfen hat, also, ob da noch jemand darin herumwühlen muss, um notfalls Batterien und Atommüll herauszufischen. Wenn ja, werden diese Leute sicher einige tote Spinnen zu Gesicht bekommen.

War das dunkle Monstrum jedenfalls vernichtet, ging das weltenzerstörende Staubsaugerrohr (ich) weiter, zu den beiden toten Weibchen und ihren Netzen und wischte die Gräueltaten einfach weg. Der Sauger hinterließ nichts als einen aussagelosen Flecken an der Wand.

Bert blieb allein zurück.

***

Tage später verließ er sein Netz, um noch einmal bei den Frauen nachzusehen, aber sie waren ja längst fort. Nicht einmal mehr ihre Netze konnte Bert finden – nur kahle, weiße Wandnischen und dünne Staubränder, was einer Zitterspinne mit dem Gehirn in der Größe eines Viertel Sandkorns vermutlich wenig sagte. Vielleicht erinnerte er sich sogar gar nicht mehr die Weibchen und suchte vielmehr nach einem besseren Bauplatz oder nach einem neuen Flecken Wand, den man tagelang bis ins kleinste Detail studieren kann.

Was auch immer in seinem kleinen, kaum vorhandenen Kopf vorging; nach einer Weile krabbelte er zu seinem Netz zurück, fraß den nicht verstaubten Teil der Fäden, packte sozusagen seine Sachen und kletterte durch die erstbeste Fensterspalte nach draußen.

Ich weiß nicht, was aus ihm wurde. Draußen war es Herbst und mit etwas Pech starb er an der Kälte oder wurde auf dem Weg in den nächsten Keller von einem Artgenossen gefressen. Oder einer Hauswinkelspinne. Oder einem Vogel. Oder einem Kleinkind. Das Leben einer Zitterspinne ist kurz und gefährlich.

Aber in glücklicheren Phasen, wenn ich ihm ein Happy End wünsche, sehe ich ihn auf einer Teerstraße in Richtung Sonnenuntergang davon krabbeln. Immer auf der Suche nach der einen wahren Liebe, oder einem guten Ersatz, wenn diese gerade wieder gefressen wird.

– Maxx, 2001

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