Guten Morgen, Deutschland 2030

Bild: Bundestag vor rotem Himmel

Guten Morgen, Deutschland 2030
Ein Anti-Utopie-Slapstick von Maximilian Wust

ES HÄTTE IHNEN gar nicht schnell genug gehen können.

Den Untergangspropheten und Internetphilosophen um die Jahrtausendwende: Immer, wenn sie davon sprachen, wie westliche Welt in sich zusammenbrach, dann musste das noch zu ihren Lebzeiten geschehen. Am besten gleich morgen. Mich stört auch, wie sie das immer gesagt hatten, dieser Unterton. Beinah so als würden sie es herbeisehnen. Als würden sie nach dem Untergang zu Helden und anerkannten Weisen zu aufsteigen, anerkannt und wichtig zu sein, was ihnen auf der Wohnzimmercouch einfach verwehrt blieb.

Tatsächlich wurden sie zu Bleistiften.

Überlege ich noch und schmecke wieder den zerstäubten Asbest. Er weckt mich inzwischen jeden Morgen.

Langsam öffne ich meine Augen und fühle mit meinen Händen über die Bettdecke. Mörtelstaub ist wieder von der brüchigen Decke auf mein Bett und zwischen meine Zähne gerieselt. Wieder bereue ich es, ein chronischer Auf-dem-Rücken-Schläfer zu sein.

Ein Blick aus dem einzigen Fenster meiner kleinen Wohnung, das noch nicht von herumziehenden Kindern eingeworfen wurde, zeigt mir, dass ich einigermaßen pünktlich aufgewacht bin. Zur Arbeit komme ich so oder so noch pünktlich, was aber egal ist: Dort hat schon längst niemand mehr eine funktionierende Uhr – Verspätungen fallen nur auf, wenn jemand wirklich erst am Mittag oder später erscheint. Gähnend verlasse ich mein Bett, entferne den Staub von der Matratze und zwischen meinen Zähnen und mache mich auf zur morgendlichen Pflege.

Ich mag meine Zwei-Zimmer-Wohnung im dritten Stock eines Wohnhauses, das noch vor dem Kalifat gebaut wurde (so gesehen wurde eigentlich jedes Haus bis auf die Herrschaftspyramide vor dem Kalifat gebaut). Das besondere daran ist in erster Linie der Ast, der mir beinahe ins Fenster ragt. Dort kann ich mir jede Woche einen neuen Zweig abbrechen und als Zahnbürste benutzen. Außerdem ist endlich die Wasserversorgung in meinem Viertel wiederhergestellt worden und auch wenn bisher nur eine rotbraune Brühe aus dem Wasserhahn tropft, so lässt aus dieser zähflüssigen Masse aus Algen, Insektenschalen, Rost und Erde eine erstklassige Zahnpasta machen. Man kann aus allem einen Vorteil ziehen, wenn es nur mit ein wenig Bescheidenheit betrachtet, hatte mein früher Vater immer gesagt und meine zuvor verhungerte Schwester gegessen.

Ich putze meine Zähne. Kellerasselschalen sind gut gegen Zahnstein und weil im Radio nur noch Koranverse kommen, höre ich währenddessen den Untergangspredigern von der Straße zu. Thema heute: Gedankenkontrollierende Chemikalien in den Kondensstreifen von Flugzeugen. Ehrlich? Wie soll das denn gehen? Seit Fliegen vor fünf Jahren zur Häresie erklärt wurde, gibt es doch gar keine Flugzeuge mehr. Und auch keine Piloten, die man entsprechend als Ketzer in Beton versenkte.

Dieser Typ bringt mich zum Lachen. Zweimal sogar, als gleich darauf die Sittenpolizei erscheint, ihm die Seele aus dem Leib prügelt und anschließend mit Benzin überschüttet. Anzünden können sie ihn, Allah ist groß, heute nicht mehr. Es gibt seit Jahren kein funktionierendes Feuerzeug mehr und Pechfackeln benutzt der Holzknappheit geschuldet nur noch die Nachtwache.

Insektenzahnpasta, Untergangsprediger und sinnlose Gewalt – so fängt bei mir jeder zweite Morgen an.

Ausgerechnet meine Wohnung hat sogar noch weitere Extras, die ich mit einer monatlichen Miete von dreizehn Goldstücken, ca. ein Viertel meines Monatsgehalts, gar nicht bezahle: Wenn das tschetschenische Pärchen von nebenan wie jeden Abend ein paar frisch gefangene Ratten über dem Feuer schmort, riecht es so, als würde ich wieder im ersten Stock im Vorort wohnen, damals vor dem Kalifat, und mein Nachbar mit Bier und Freunden Schweinefleisch grillen … was vor allem dem riesigen Loch in der Zwischenwand geschuldet ist, das da jemand vor vier Monaten mit einer Schrotflinte hineingeschossen hat.

Ein bisschen nervig sind dagegen die unermüdlichen Versuche der beiden, die Familie um ein Mitglied zu bereichern. Das nervt. Gerade weil man mir als Mitteleuropäer schon vor Jahren die Vermehrungserlaubnis entzogen bekommen hat.

Die Wohnung gegenüber meiner Mitbewohner aus Tschetschenien ist dagegen seit einiger Zeit ruhig: Dort lebte früher eine kleine Familie, aber seitdem die Sittenpolizei dort einmal wegen Ruhestörung vorbeischaute, gibt von denen niemand mehr einen Laut von sich. Ein bisschen muffig riecht es inzwischen herüber, aber was macht das schon, wenn man dafür seine Ruhe hat?

***

Ich verlasse das Haus und gehe zur Arbeit.

Es hat schon was Gutes, so nah an der Arbeit zu wohnen, zumal sich die meisten Normalverbraucher heute ja in irgendwelche Viehwägen pferchen müssen, um zu den Kartoffelfeldern zu kommen. Ich persönlich mag das Leben außerhalb der Stadtmauern nicht mehr so wie früher. Ständig Hunger, marodierende Banden, Krankheiten, giftiges Wasser. Mein Cousin wurde dort vor zwei Jahren von einem wilden Hunderudel in einen Stacheldrahtzaun gejagt und was soll ich sagen, ich bin halt doch ein echter Städter … und nicht nur, weil ich während der letzten Krise jahrelang in einem Treibstofftank für Linienbusse lebte.

Als ich mich diesen Morgen auf dem Weg zur Bahn mache, genieße ich zuerst die herbstliche Atmosphäre des Frühsommers. Dass Frühsommer ist, weiß ich nur wegen der nicht mehr ganz so gnadenlosen Hitze – einen Kalender habe ich schon sehr lange nicht mehr gesehen. Am Blätterwerk der Bäume kann man sich auch nicht mehr orientieren; sie alle sehen inzwischen das ganze Jahr so aus als wäre es Herbst. Außer die in Mecklenburg-Vorpommern: die sind tot, genau wie der Rest des Bundeslandes, seit es kontaminiert worden ist.

Der Bahnhof ist so wie immer: Heruntergekommen. Sämtliche Bänke und Abfalleimer sind längst ausgerissen und mitgenommen worden, aber wenigstens hat heute jemand den toten Hund an der nördlichen Unterführung aufgeräumt – er liegt jetzt auf den Gleisen, wo er aber nicht mehr so schlimm stinkt. Ich vermisse das Grünzeug, das sich sonst immer durch die Ritzen zwischen den Steinfließen gebohrt hat. Ich vermisse ganz allgemein die Farbe Grün.

Die Bahn kommt. Was erstaunlich ist, denn schließlich fährt sie mit Strom und durch die Kabel unseres Viertels fließt schon seit Jahren kein einziges Watt mehr. Das ist eines der vielen Rätsel der Kalifatsführung. Obwohl inzwischen jeder Mensch tot oder geflohen ist, der ein Umspannwerk bedienen konnte, funktionieren diese immer noch, zum Großteil.

Die Stadtbahn zeigt heute die gleichen Alterserscheinungen wie immer: Die Verkleidung ist verrostet, Sitze sind aufgerissen, die Fenster mit Graffiti bedeckt und einer der mittleren Waggone wackelt etwas seltsam. Innen setze ich mich weiter vorne hin: Einmal, weil ich so schneller zur Unterführung bei meiner Zielstation komme, andererseits, weil dem muffigen Geruch nach zu urteilen, irgendwo in den hinteren Abteilen wieder ein Ewiger Mitfahrer sitzen muss – ein Toter, der schon vor Wochen gestorben, aber bisher nicht entfernt worden ist. Jeder Zug hat so seine zwei bis drei davon. Manchmal überwindet sich dann jemand und wirft den Kadaver bei voller Fahrt aus der Bahn oder nimmt ihn mit zu sich.

Ich gebe zu, vor ein paar Jahren machte es mir selbst richtig Spaß, die herumlungernden Youngsters an den Gleisen mit Ewigen Mitfahrern zu bombardieren. Platsch! und so ein Gör mit bauchfreiem Top hat einen Schal aus verwesendem Dünndarm um den Hals. Sluck! und so ein Pausenhofrapper steckt in einem modrigen Torso. War lustig. Seit einiger Zeit schießen sie leider zurück. Mit scharfer Munition. Das hat die Bahn um noch mehr Ewige Mitfahrer bereichert.

Erinnere ich mich und werde ich wieder nachdenklich. Das Rattern der Achsen, das Heulen des porösen Metalls und das Flattern der Klebebänden, die als einzige den Zug seit zwanzig Jahren zusammenhalten, ergeben nach weniger als einer Minute ein wunderbar monotones Geräusch, in dem ich mich ganz einfach verlieren kann.

Ich genieße die Stadt, deren einziges Baumaterial seit Jahren nur Müll und Wellblech gewesen zu sein scheint. Wäscheleinen und Andersdenker hängen an den Laternen. Ein paar Straßenkinder schnappen sich eine der letzten Katzen der Stadt (oder wahrscheinlicher: der Welt) und zerrupfen sie wie Zombies aus einem Romero-Film. Im ehemaligen Studentenviertel liefern sich wieder Jugendbanden und die Sittenpolizei eine Schießerei. Ein Panzer des Kalifats hat anscheinend falsche Anweisungen bekommen und sprengt das Teehaus in die Luft, in dem sich die Sittenwächter verschanzen. Alltag.

Hinter mir führen zwei Rentner (also Menschen, die für Arbeit zu alt und als Mahlzeit zu zäh sind) eine sehr interessante Diskussion. Sie reden über Großbritannien. Vor ein, zwei Jahrzehnten, bevor das Kalifat Europa zur Wahrheit bekehrte, bauten die Briten angeblich ein riesiges Triebwerk an ihre Insel, um das verhasste Festland endlich, endlich loszuwerden. Genau das gelang ihnen wohl auch: Es heißt, dass Großbritannien beim ersten Testlauf des Supertriebwerks ausgelöscht worden sei, genauso wie Irland, während sich Schottland nur in eine schöne Straße aus unbewohnten Halligen verwandelte. Sicher wissen tut das natürlich niemand: Vor gut drei Jahrzehnten errichteten die Briten einen fast zweihundert Meter hohen Schutzwall um ihr Land und vor etwa zwanzig Jahren wurde der letzte Nachrichtensender geschlossen, mit Flammenwerfern, während die Angestellten noch im Gebäude waren.

Damals hatte ich noch eine Freundin. Rothaarig, wild in jeder Hinsicht, stressiges Mädchen. Was sie jetzt wohl macht? Frage ich mich, obwohl ich die Antwort längst kenne: Alle Rothaarigen wurden während der Ersten Reinigung zu Hexen erklärt und als Notrationen für schlechtere Zeiten präpariert.

Die Bahn passiert die große Pyramide, das Zentrum der Stadt, an dessen Spitze der große Regionalkalif und seine über tausend Frauen wohnen und ich überlege, wie es wohl in den anderen Ländern zugeht, von denen wir heute nichts mehr erfahren. Gut, Italien ist wie alles, was südlich der Alpen lag, ausgestorben, Russland gehört auch dem Kalifat, aber was wurde aus dem asiatischen Raum, Japan, China, Indien?

Ein noch lebender Onkel aus Amerika schrieb mir einen Brief, wie gut und einfach das Leben als Schafottreiniger auf der Burg seines Fürsten sei. Viele sagen der ehemaligen USA nach, dass das alle dort simpler wäre, vor allem jetzt, wo die Amerikaner das echte Christentum und die Inquisition wieder eingeführt hätten. Dass sie Strom, Computer, Medizin und Ähnliches verboten haben, halte ich persönlich für unnötig – diese Dinge dienten doch mehr dazu, unser Leben leichter zu machen. Aber dafür sollen die Hexenbratungen dort (die sogenannten witch barbecues) ein spannenderes Schauspiel sein, als unsere Steinigung von eventuellen Ehebrecherinnen.

***

Die Bahn hält am ehemaligen Römerplatz. Ich muss aussteigen.

Die Gegend dort sah eigentlich sehr schön aus, ganz nach meiner romantischen Vorstellung des Spätmittelalters, hätten dort nicht ein paar deutsche Separatisten 2023 eine Geiselnahme im ehemaligen Historischen Museum veranstaltet. Noch während den Verhandlungen kam ein Sittenwächter ums Leben – also nicht im Museum, sondern ganz woanders, im Kampf gegen illegale Stromversorger –, worauf die Regierung den ganzen Stadtteil von Kampfhubschraubern mit Bombenraketen eindecken ließ.

Heute hat die Gegend etwas Rustikales an sich, erinnert irgendwie an die Bilder des zerbombten Frankfurts nach dem Zweiten Weltkrieg, nur halt in Farbe. Die Justitienstatue im Zentrum des Platzes überlebte sogar das Bombardement. Heute steht sie schräg auf der oberen Hälfte der Herrschaftspyramide, wo sie wie ein unschöner Pickel aus dem Gebäude ragt.

Wie an jedem Tag verlasse ich den Bahnhof über die Schienen, nehme die Abkürzung durch eine der Ruinen und komme in weniger als zwei Minuten zum Werkshof.

Mein Arbeitsplatz ist ein einfacher Köhlerposten an den Öfen des Vernichtungswerks. Dieses gehört zu den praktischsten Erfindungen unserer Zeit – neben der Tatsache, dass es die einzige Erfindung unserer Zeit ist. Jeden Tag werden dort die Öfen mit toten Tieren, menschlichen Leichnamen, frisch zensierten Büchern und politischen Gegnern gefüttert und mit der daraus gewonnenen Hitze das Wasser des einzigen Hamam der Stadt (eine zum Badehaus umfunktionierte Molkerei) beheizt. So hält mein Beitrag an die Gesellschaft nicht nur die Straßen einigermaßen frei von totem, infektiösen Material und falschem Gedankengut, sondern sorgt auch noch für die Verbesserung der Hygiene. Ganz früher einmal war ich ja Übersetzer und nebenbei Publizist bei einem der letzten Nachrichtenmagazine Deutschlands, aber sechs Monate individuell zugeschnittener Folter und Gehirnwäsche überzeugten mich nicht nur, all meine Aussagen zu widerrufen, sondern auch, dass ein Posten als Köhler viel besser zu mir passt.

Manchmal bin ich darüber erstaunt, dass es genau so gekommen war, wie es die Untergangspropheten und Stammtischphilosophen vorhergesagt hatten. Für den Rest der Welt muss es wohl wie mit Amazon und den Versandhäusern gewesen sein: Die großen, alteingesessenen Eliten ignorierten die nahende Katastrophe mit aller gebotenen Arroganz und belächelten jeden, der sie prophezeite. Bis sie kam und sie mitsamt ihrer über Zeitalter antrainierter Selbstsicherheit einfach fortspülte. Schade ist nur, dass auch die Internetpropheten das Kalifat nicht überlebten. Bei all ihrer Voraussicht hätten sie doch erahnen können, dass man sie verbrennen, zu Bleistiftminen pressen und diese wieder verbrennen würde, um die Lossagung von der Schrift zu feiern.

Ein schönes Spektakel, erinnere ich mich. Besonders der Teil, als sie sich auf den Scheiterhaufen von Menschen zu den späteren Grundbestandteilen einer Bleistiftmine weiterentwickelten. Wenn man die Augen schloss und die Schreie ignorierte, roch es so, als würde ich wieder im ersten Stock im Vorort wohnen, damals vor dem Kalifat, und mein Nachbar mit Bier und Freunden Schweinefleisch grillen.


– Maxx, 2002



Ein Jahr nach dem 11. September 2001, als eine Handvoll Extremisten den Islam weltweit als die Religion des Bösen brandmarkte, hatte ich von dem Gerede der Stammtischnazis, Untergangs-Esoteriker und Klimapropheten genug, die sich damals so zahlreich im Internet tummelten. Der Islam würde Europa überrennen, Strom und Wasser unbezahlbar werden, Nahrung knapp … und sowieso alles irgendwie vor die Hunde gehen.

Lange genug von der damaligen, nicht enden wollenden Panikmache berieselt, plante ich, diesen ganzen Thesen in einen Topf zu werfen, einmal kräftig umzurühren und daraus eine wunderbar überzogene Kurzgeschichte zu schreiben – einfach nur, um den Leuten zu zeigen, was sie da eigentlich prophezeiten. Unheimlicherweise sind die meisten Ängste und Themen sogar heute, 2016, in den Ausläufern der Flüchtlingskrise, dem Brexit und den Schrecken im Nahen Osten immer noch aktuell. Aber glücklicherweise immer noch nicht eingetreten.


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