Styropor mit Tomatensoße

Maximilian Wust - Styropor mit Tomatensoße

Styropor mit Tomatensoße
Ein Drama von Maximilian Wust

Wie jeden Samstag saßen Vater, Mutter, Sohn und Sohn gemeinsam am Tisch in der Essküche. Draußen fiel der Schnee in dicken, schönen Flocken und Stenzel, der Kanarienvogel, flatterte aufgeregt in seinem Käfig auf und ab, als wäre er glücklich darüber, nicht draußen frieren zu müssen. So als würde er seine Lage verstehen.

Die Familie aß, doch niemand vom Teller. Michael, der älteste und fast erwachsene Sohn, brach Brötchen und tunkte sie in die Soße, Vater tat es ihm nach einer Weile nach und Reinhard, der Jüngste, ersparte sich das und mampfte Cornflakes, direkt aus der Packung. Mutters Teller dagegen war leer. Während die anderen aßen, lächelte sie glücklich und erfüllt in die Runde.

Schließlich räusperte sich Michael, schluckte den letzten Bissen Soßenbrötchen und sprang auf. „Muss los“, entschuldigte er sich beiläufig ein. „Computer von ´nem Kumpel richten.“

Vater stoppte ihn, indem er die Hand zur Geste ausstreckte. „Und was ist mit deinem Essen?“, fragte er und deutete auf den immer noch vollen Teller.

Michael zögerte, holte tief Luft und antwortete durch die zitternden Lippen hindurch: „Sorry, bin voll.“

„Deine Mutter hat extra gekocht.“

Normalerweise hätte nun Michael wenigstens so getan, als wäre er der gute Sohn. Er wäre zu seiner Mutter gegangen, hätte sich liebevoll entschuldigt und sich danach gebührend langsam zurückgezogen – in sein Zimmer, denn den Freund mit dem Computer gab es nicht. Aber heute, aus keinem bestimmten Grund, ging es einfach nicht mehr. Er holte tief Luft, ballte die Hände zu Fäusten und unterdrückte das Zittern in den Lippen. Nein, heute nicht! Der immer empfindsame Reinhard ahnte es voraus und machte sich klein.

„Papa“, begann Michael und kam wieder in die Essküche hinein. „Falls es dir noch nich’ aufgefallen is’: Mama hat uns Styropor gemacht. Der Styropor, in dem die Boxen für deinen Gaming-PC geliefert wurden. Mit Tomatensoße.“

Vaters entspannte Gesichtszüge wichen schlagartig der Verzweiflung. Seine Hände sprachen ein wortloses, aber gut verständliches „Bitte nicht!“.

Aber Michael war am Ende. Er erklärte noch ruhig, noch: „Und gestern waren im Rahmgeschnetzelten Löffel. Zum Glück nur Löffel. Falls du’s vergessen hast: Reinhard musste im Oktober fast ins Krankenhaus, weil er die zerkleinerten Zahnstocher in seinen Frühstücksflocken nicht bemerkt hat. Und wir alle wissen, warum wir das Waschmittel verstecken müssen. Diese scheißblöde Kuh, die wir immer noch Mama nennen sollen, würd’ uns sonst draus ein Omelett braten!“

Vater sprang auf, wich aber sofort zurück. Michael war inzwischen groß und im Fitnessstudio breit geworden. Seinen dürren Informatikervater überschattete er schon lange.

„Wann checkst du’s endlich, Papa? Es ist vorbei! Mamas verfickte Frühdemenz hat ihr Hirn in einen Schwamm verwandelt? Scheiße noch mal, wir haben keine Schwämme mehr, weil sie die jedes Mal Gott-weiß-wo versteckt! Es geht nicht mehr! Schick sie endlich in ein Heim! Oder fahr mit ihr den Wald und setz’ sie dort aus! Mir ist lieber, wenn sie blöde Schlampe erfriert, als jeden verkackten Tag das Essen zu checken, weil sie es vielleicht wieder vor Dummheit vergiftet hat! Schau! Ich kann sie sogar  ´ne Schlampe nennen und sie grinst mich bloß an, wie so ein Drogenopfer.“

Vaters Lippen zitterten. „Michael, bitte hör auf!“

Doch der war längst nicht mehr zu stoppen: „Nein! Diesmal nicht! Warum ist sie nicht längst weg? Findest du das gut, mit diesem Drecks-Zombie unter einem Dach zu leben? Fickst du sie eigentlich noch ab und an? Macht sie da noch mit oder wacht sie dann zwischendrin plötzlich auf und fragt dich dann, wann der nächste Bus nach Gütersloh fährt?“

Michael kassierte eine Ohrfeige. Er nahm sie an, ohne eine Mimik zu verziehen. „Stehst du auf Demenz im Bett?“, hauchte er voller Wut.

„Deine Mutter“, kämpfte der Vater hervor und gleichzeitig gegen die Tränen. „Deine Mutter ist ein Geschenk.“

„Ja, das labern sie in der Kirchengruppe auch immer! Tun wir so, als ob: Jedes behinderte Kind, und wenn’s mit Mitte Dreißig noch in die Windel scheißt, ist ein Geschenk! Jeder Alzheimer-Opa, der die Enkeltochter begrabscht, ist ein fucking Geschenk! Ja, stimmt, denn werdende Eltern gehen zum Ultraschall und sagen sich: Oh Mann, wie gern hätten wir ein behindertes Kind! Am besten eins, das sich einsabbert und dem wir in Rente noch den Arsch abwischen dürfen! Komm Schatz, lass uns Kettenraucher werden!“ In Michaels Gesicht lag nur noch Hass – ehrlicher, tränenumspielter Hass. „Fick dich, Papa! Fick dich und deine scheiß Feigheit vor’m Alleinsein, dass du lieber neben einem Hirnkrüppel im Bett schläfst, als allein!“

Er ging rückwärts aus der Küche und bemerkte erst jetzt den Speichelfaden, der aus seinem Mund tropfte. „Mama, warum stirbst du nicht einfach? Ich hätt’ mal gern wieder einen, einen normalen Tag im Leben! Wenigstens einen! Ich …“ – der letzte Satz fiel ihm unendlich schwer – „Ich will, dass du stirbst!“

Doch sie lächelte nur, voller Liebe.

— Maex, 2008

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