Fußball, das Killerspiel

Maximilian Wust - Fußball-Killerspiel

Fußball, das Killerspiel
Ein Blog von Maximilian Wust

Was wäre, wenn man Fußball genauso behandelt, also genauso unreflektiert, unrecherchiert und emotional, wie früher das Thema Killerspiele? Zeit, die wirre Berichterstattung der 90er und Nuller Jahre mal in den Spiegel schauen zulassen.

Fußball, das Killerspiel
Bergheim (max) – Maria S. galt unter Freunden und Familienmitgliedern als eine junge Frau, die alle Wege gehen kann, aber keinen will. Intelligent, aber noch unentschlossen, so beschreibt sie ihr Vater und deutet auf ein Photo von ihr mit Freundinnen, das er gestern noch von ihrer Facebook-Profilwand ausgedruckt hat. Ein Profil, das nun niemand mehr pflegen wird.

Gegen 21 Uhr machte sich die 21-jährige mit mehreren Bekannten auf dem Weg zum Bahnhof, um von dort in eine Diskothek in der Kölner Innenstadt weiterzureisen. Zuvor „glühten sie vor“, wie ihre Freundin Bianca B. später erzählen wird. Vorglühen, das bedeutet in der Jugendsprache, dass sie in sparsamer Voraussicht schon zuhause die ersten Alkoholika zu sich nahmen, um später nur noch wenig kaufen zu müssen, um den erwünschten Alkoholpegel zu erreichen. Vielleicht erkannten sie deshalb auch nicht den roten 1983er VW Golf, dessen ebenso alkoholiserter Fahrer Maria am Zebrastreifen erfasste und sie wie ein Bowling-Pin über die Straße hüpfen ließ, so die Aussagen der schockierten Zeugen. Sie erlag auf dem Weg ins Krankenhaus ihren Verletzungen.

Weitere Ermittlungen der Kripo Köln ergaben nun ein bedeutend anderes Bild des Fahrers Roland K., einem 38-jährigen Bürokaufmann aus dem südlich gelegenen Horrem. Dieser nahm offensichtlich zweimal die Woche an einer bisher wenig bekannten Aktivität namens Fußball teil, was die Ermittler zuerst nur als eine Fußnote abtaten, den Fall aber schon bald in einem anderen Licht beleuchten sollte.

In diesem beinah kultisch anmutenden Wettstreit treten zwei Kampfverbände, sogenannte Mannschaften von jeweils 13 Mann gegeneinander an, um eine aufgeblasene, schwarz-weiß bemalte Lederkugel – den namensgebenden Fußball – über eine abgesteckte Spielfläche in das sogenannte „Tor“ des Feindes, ein Fangnetz am jeweils anderen Spielfeldende, zu befördern. Wird der Ball vom Fangnetz gefangen, so erhält der dafür verantwortliche Kampfverband einen Punkt, den man im begrenzten Wortschatz der Kombattanten ebenfalls ein Tor nennt. Wer also in ein Tor trifft, der macht ein Tor und wer nach neunzig Minuten mehr Tore vorweisen, der wird zum Sieger gekürt.

Fußball das Killerspiel
Ein alltäglicher Moment aus dem Fußball: Spieler Lothar Matthäus (blutrot) setzt zum Schuss gegen Erzfeind Michael Ballack an (im Fangnetz). Die anderen Spieler sehen tatenlos zu und lüstern einer schweren Verletzung des Fangnetzhüters entgegen.

Was jedoch auf den ersten Blick wie ein kindlicher Wettbewerb um Punkte wirkt, ist in Wirklichkeit ein Spiel der Gewalt, denn nach dem „Anpfiff“ – einem Startsignal, das schädlich laut aus einer Zugschaffnerpfeife emittiert wird – folgt ein Kampf ohne jede Ordnung. Neunzig Minuten streiten die Teilnehmer nun mit Händen und Füßen um den Ballbesitz und darum, diesen ins gegenüberliegende Fangnetz zu stoßen. Um das zu erreichen, bedient man sich oft einfacher wie brachialer Methodik: Man umstellt die Streiter der jeweils anderen Kampfgruppe, rempelt und stößt sie ohne jegliche Rücksicht, entreißt ihnen den Ball mit Gewalt und versucht danach selbst, diesen ins gegnerische Tor zu treten, während der Feindverband wiederum in die erzwungene Offensive geht. Rücksicht gegenüber feindlicher wie eigener Kämpfer wird dabei als Schwäche gesehen, Verletzungen, teils schwer und sogar gelegentliche Todesfälle werden billigend hingenommen. Geschätzt über 140 Kämpfer ließen bereits auf dem Fußballrasen ihr Leben – abgeschlachtet im Namen eines prähistorischen Wettstreits um eine künstlich für Wert erklärte Lederkugel und die Frage, welche Bande mehr von einer imaginären Einheit besitzt.

Wie gefährlich dieser Fußball ist, zeigt sich erst nach einigen „Spielminuten“. Treffer und Rempler, die nach außen hin leicht und belanglos wirken, richten durchaus großen Schaden an. Bereits gestreifte Kämpfer gehen schreiend zu Boden und müssen oft von Sanitätern geborgen werden. Im Fußball-Jargon spricht man nun von einer „Schwalbe“, benannt nach dem Vogel, der nach einem Gewehrtreffer zerfetzt zu Boden stürzt. Die brachiale Nomenklatur tut hier Wahrheit kund, denn die Hatz um den Ball reduziert sich oft auf Gewaltanwendung gegenüber den feindlichen Kämpfern. In einem Land, in dem Krieg vermeintlich der Vergangenheit angehört, spielen ihn nun erwachsene Männer und gelegentlich sogar Frauen mit einer aufgeblasenen Lederkugel nach. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn einen Fußball-Wettstreit bezeichnet man in der Szene als ein „Spiel“, die Kämpfer selbst als „Spieler“. Den Fußball zu treten, nennt man dagegen wieder „schießen“. Hier bleibt man dem Kriegersprech treu.

Mit großem Anklang, denn tatsächlich erfreut sich diese Disziplin, die nun schon seit vielen Jahren nach einer Anerkennung als Sportart strebt, wachsender Beliebtheit: Hunderte, manchmal sogar Tausende Begeisterte zwängen sich auf enge Zuschauertribünen, um das „Spiel“ auf dem Rasenplatz zu beobachten, der manch einen Betrachter an eine altrömische Gladiatorenarena erinnern vermag, bezahlen dafür Unsummen und feuern die von ihnen bevorzugte Rotte an, ob nun mit Schmährufen, Transparenten und undefinierbaren Brüllgesängen. Manche tragen die Farben ihrer Lieblingsschwadron, beispielsweise als einen Schal um den Hals, vollflächige Maskencreme im Gesicht oder sogar die Uniformen, sogenannte Trikoohs, als wären sie selbst einer der Kampfteilnehmer. Als Außenstehender fühlt man sich bei diesem Anblick in die Zeit der Stämme zurückversetzt, als man sich mit Farben und Symbolen von den Besitzern des benachbarten Wasserlochs zu unterscheiden wünschte.

Fußball vor tausend Trillionen Jahren.
Eine Szene aus antiker Bildhauerei: Ein nackter Fußballer verführt einen Knaben. Diente Fußball früher der Pädophilenszene?

Erschreckend ist vor allem, welche Strukturen sich hinter dem einfachen Blutsport des Fußball tatsächlich verbergen: So gibt es gewaltige Ranglisten, in denen sich die bis heute ungezählten Kampfverbände auf eine unbekannte Zahl von Ligen verteilten. Wer am meisten Balltretwettbewerbe gewinnt, steigt auf, bis hin zum besonders ersehnten, obersten Platz, für den man nach jeder Saison, also jedem abgeschlossenen Kriegszyklus, einen Metallkelch überreicht bekommt – als ein Symbol für den Sieg auf dem zum Schlachtfeld erklärten Rasen. Wem davon noch nicht genug geboten wurde, dem eröffnen sich sogar internationale Kriegskreise, in denen europa- oder sogar weltweit um den Platz der besten Lederballtret-Schwadron gestritten wird. Dem Laien tut sich hier eine riesige Parallelwelt auf, zu der nur wenige Eingeweihte wirklich Zugang haben.

Sieg und Niederlage werden ebenfalls im Manier mittelalterlicher Schlachten behandelt: Der Sieger eines jeden Kampfes feiert diesen und sich selbst danach mit Liedern, Erniedrigungen seiner Feinde und Bier, ebenso auch die Verlierer, die so ihren Frustrationen Raum und Luft lassen.

Roland K. gehörte an jenem Abend zu den Verlierern. Sein Kampfverband hatte eine Niederlage davon getragen und weniger Bälle im feindlichen Fangnetz versenkt, als ihre Widersacher in ihrem. Körperlich, wie auch im Stolz verletzt betranken sich seine Schlachtgefährten im sogenannten Vereinsheim, einem geheimen Treffpunkt des Kampfverbandes, bevor Roland K., alkoholisiert, aggressiv und durch Gewalt angestachelt, in seinen PKW auf die Straße wagte, wo er mit einer jungen Maria S. in Feierlaune zusammenstieß. Er wollte nur nach Hause, wie er später den Ermittlern beteuerte. Ein Ort, den Maria nie mehr erreichen wird.




Etwa Ende der 90er, Anfang der Nullerjahre, passend zum neuen Jahrtausend, fand die schon lange unausweichliche Begegnung statt: Der Computer drang in den Alltag vor … und wie immer war damit erst einmal überfordert. Die einen staunten über Lara Crofts gewaltige Brüste, die anderen erlebten mit Lokalisten die erste Social Media-Sucht, verirrten sich über Monate in die World of Warcraft oder waren ganz einfach nur mit der neuen Welt überfordert.

Selbstverständlich durfte ich auch die gewohnt ängstlich bis paranoide Haltung nicht fehlen und so erfand man die Killerspiele bzw. definierte so einige Games als das. Ob jetzt Counter-Strike, Quake III, Unreal Tournament oder Battlefield 1942 – wer diese Multiplayer-Titel konsumierte, lief Gefahr, bald schon in der nächsten Schule Amok zu laufen.

Allein die Bezeichnung lässt mich bis heute immer noch nervös zucken: Killerspiel. Das klingt so, als hätte jemand im Alter von 60+ ein Wort für etwas gesucht, mit dem er sich absolut nicht auseinandersetzen wollte und sich für das Erstbeste entschieden, was ihm durch den Kopf schoss. Von so jemandem erwarte ich auch, dass er das Internet in stoischer Allesverdeutschung „Zwischennetz“ nennt und TCP/IP für einen japanischen Vornamen hält.

Noch schlimmer ist allerdings, was man über die Killerspiele so alles erzählte: Übertreibungen, Halbwahrheiten und einseitige Berichterstattung sind dabei traurig üblich. Sogar große, renommierte Zeitungen wie die Süddeutsche sprachen von Begebenheiten, die so einfach nicht stimmen. So ging es (zum Beispiel) in Quake III vor allem darum, einen Feind möglichst weitgehend zu zerstückeln – was dann auch mit mehr Punkten belohnt wird und nicht weiter daneben liegen könnte.

Mein liebstes Beispiel hierfür war aber immer noch der Computerspielsüchtige, der „manchmal bis zu drei Stunden spielt“. Drei? Holla die Waldfee! Haben das schwere Alkoholiker geschrieben, die wöchentlich bis zu einem Liter Bier konsumieren? Ich erinnere mich dann gerne an meine zwölf täglich abgeleisteten Stunden, die ich dank Arbeitslosigkeit mehr als drei Monate durchhielt. Und dass ich damit noch nicht mal zu den annähernd schlimmsten Fällen zählte …

Gut, inzwischen ist man da im Bereich der Berichterstattung auch klüger geworden, zugegeben, und den SPIEGEL muss ich sogar ehrlich für seinen Umgang mit dem Thema loben. Schwarzweißmalerei gegenüber Videospielen kam dort meines Wissens noch nicht vor.

Trotzdem frage ich mich manchmal: Wenn man in den Medien so einfältig und wenig wahrheitsinteressiert über dieses Thema recherchiert, wie ist es dann bei all den anderen Gebieten, über die ich praktisch nichts weiß? Wie Wirtschaft, Lamb-Verschiebung oder Dating.

Oder Pappbecherherstellung.


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