7. Kapitel: Nur wir und bald nicht mehr

Maximilian Wust - 7. Kapitel: Krüppel, Kinderficker und Zahnfleischlächeln

7. Kapitel: Nur wir und bald nicht mehr
Ein Science-fiction-Drama von Maximilian Wust



Willkommen zum finalen Kapitel eines nie veröffentlichten Science-fiction-Romans, den ich 2004, also unmittelbar vor Land der verlorenen Dinge schrieb und leider nie beendete. Ich will jetzt gar nicht groß darauf eingehen, was in dem Roman alles geschah (sagen wir einfach, es war ein unglaublich seichter Gesprächsroman über Menschen und seinem Wunsch danach, anderen überlegen zu sein … im Weltraum) – das hier ist jedoch das letzte Kapitel und gleichzeitig auch die Vorgeschichte des Deuteragonisten, also wie man im Autorendeutsch die zweite Hauptrolle nennt. Ob das Kapitel alleinstehend so Sinn macht, musst du entscheiden, lieber Leser.


SEINEN ATEM UND seinen Herzschlag.

Sonst hörte er nichts. Ansonsten gab es nur diese beklemmende, allumfassende Stille. Wie damals in der camera silens, in der Akademie. Nur, dass er nicht mehr in der Akademie war.

Irgendwo fern hatte es eine Schlacht gegeben: Ihr Schiff, nein, ihre Schiffe auf der abgewandten Seite des weißen Enceladus, hinter ihnen die überlegene Separatistenflotte und der Korridor, der explosionsartig zerbarst.

Sie waren gelaufen. Sebastian, dieser Korenchkin – oder wie man ihn aussprach – und er. Sie hatten sich zu anderen in eine Rettungskapsel gesetzt und in den Saturnorbit. Dann war alles zu Ende gegangen.

Helles Licht hatte die Welt verschlungen. Er hatte Metallsplitter vor dem Fenster gesehen, die in einem Strom aus Licht verglühten. Und Lärm. Er erinnerte sich an ein ohrenbetäubendes Krachen.

***

Evnos schreckte auf.

„Du lebst also doch noch“, bemerkte jemand durch die Lautsprecher seines Helms.

Er überprüfte panisch seinen Raumanzug. Ein kleiner Riss, beispielsweise durch einen Splitter, würde ihn in Minuten ersticken lassen.

Die Stimme, sie stammte von der unbekannten Pilotin, versichterte ihm aber: „Keine Sorge! Ich hab’ deinen Anzug bereits untersucht, mehrmals: Nur oberflächliche Schäden und ´n voller Sauerstofftank. Irgendwas hat aber dein Austauschventil verbeult.“

Evnos sah durch das Bugfenster nach draußen. Er entdeckte den Weltraum, die Sterne, wie sie unbegrenzt vom Boden herausschossen und in der Decke verschwanden – weil sich die Kapsel drehte. Der Enceladus schien verschwunden und der Saturn war weiterhin eine große schwarze Scheibe zu ihrer Rechten. Ein Gott, der die Sterne frisst.

Die Steuerkonsole konnte dazu auch nichts mehr sagen: Sie war tot. Nur die analogen Anzeigen wie der Druckmesser funktionierten noch, auch wenn sie nichts mehr anzeigten. Es gab nichts mehr anzuzeigen. Es gab in der Kapsel keinen Druck mehr, genauso wenig wie Sauerstoff oder Gravitation.

Kein Druck. Das bedeutete, dass alle ohne Raumanzug …

Evnos riss sich den Gurt vom Leib und sprang auf, um sich umzudrehen, was aber nicht geschah. Er wurde von den Füßen gerissen, schwebte schwerelos durch den Raum und schlug schmerzhaft gegen die Decke der kleinen Kammer.

„Dass dein Raumanzug noch in Ordnung ist, heißt nicht, dass du ihn kaputtschlagen musst“, kommentierte die Frau, deren niedliche Stimme nicht in die Situation passte.

Evnos wandte sich panisch um, diesmal allerdings vorsichtiger, umklammerte eine der Halterungen – die vermutlich für genau seine Sorte von panischer Insasse dort angebracht worden waren – und ließ sie nicht mehr los. Er brauchte noch eine Minute, sammelte die Scherben seines Verstandes ein und blickte sehr vorsichtig in den Innenraum der Kapsel. Und erstarrte.

Die Rückwand war aufgerissen, die kleine Schleuse vollständig verschwunden. Das ganze Heck öffnete sich fast wie eine Patronenhülse in den Weltraum. Die hintersten beiden Sitzreihen fehlten vollständig – von ihnen zeugten nur noch zerborstene Halterungen und klaffende Risse; der Rest der Passagiere saß jedoch noch an seinem Platz. Oder was von ihnen übrig war. Er erkannte Sebastian, der bleich mit aufgerissenem Mund und verquollenen Augen auf seinem Sitz erstickt und danach gefriergetrocknet worden war. Von dem muskulösen Soldaten, der im Boxring als unbesiegbar galt, war nur noch eine bizarre Statue übrig, die noch davon erzählte, wie er mit entsetzlichen Schmerzen um Luft gerungen hatte, während ihm das Blut durch die Augenhöhlen nach draußen gesaugt wurde.

Der Tod im Vakuum gilt als einer der schmerzhaftesten überhaupt, gleich neben dem Verbrennen.

„Ich weiß. Grausam“, bemerkte die Pilotin mit der niedlichen Stimme.

Evnos konnte den Blick nicht von den Toten reißen. Da war der Soldat, der mit einer Pistole vor der Kapsel gewartet hatte: Sein Gesicht wirkte, als wollte es platzen, bevor es erstarrt war und seine Hände, Skeletthände, schienen in Sekunden mumifiziert zu sein. Evnos erkannte zwei Techniker, die er öfters in der Mensa gesehen hatte. Einem anderen Mann – wenn es einer war – hatte es das Gesicht zerfetzt, so dass davon nur noch eine zerklumpte Masse aus hellrotem, gefrorenem Fleisch übrig geblieben war.

So etwas Schreckliches hatte Evnos wie die meisten schon in Filmen oder Spielen gesehen, aber es mit eigenen Augen zu erleben …

Er würgte sich, wollte sich übergeben, brachte aber bis auf Speichel, der in kleinen Kugeln gegen die Innenseite seines Visiers schlug, nichts heraus.

Ohne Schutzanzug verdorren Menschen im Vakuum. Was von ihnen bleibt, ist ein scheußliches, verzerrtes Kunstwerk und hat mit dem, was sie einmal waren, nichts mehr gemein. Jetzt saßen sie alle noch hier, blass und surrealistisch wie groteske Schaufensterpuppen.

„Schau bitte weg!“, bat die Unbekannte, „Schau doch bitte einfach weg!“

Er wandte sich ihr zu und erst jetzt fiel ihm auf, wie sie eigentlich durch den luftleeren Raum mit ihm reden konnte: Ein schwarzes Kabel verlief zwischen ihm und ihr. Sie saß in ihrem grauen Raumanzug auf dem Pilotensessel und blickte ihm entgegen. Vermutlich, denn ihr Gesicht blieb hinter dem verspiegelten Visier des Helms verborgen.

„Du lebst noch?“, fragte der junge Koch völlig zusammenhangslos.

„Seltsamerweise. Wie heißt du?“

„Evnos.“

„Hallo, Evnos. Ich bin Gele. Gleich mal zuerst: Wir haben ein gewaltiges Problem … also noch größer, als das hier jetzt“, sie deutete auf die Konsole, „Der EMP hat alle Elektronik der Kapsel zerstört. Mit etwas Pech ist sogar der Sender kaputt.“

„EMP?“, fragte er.

Sie zögerte. „Elekromagnetischer Puls. Das hinter uns war wohl eine Atombombe.“

Eine Atombombe Warum lebten sie noch? Das hier war das Vakuum. Atombomben töteten hier nicht durch kinetische Energie, sondern durch pure Wärme. Die Kapsel hätte nicht zerfetzt sondern verdampft oder zu einem Klumpen zerschmolzen werden müssen.

Gele schien seine Gedanken erahnt zu haben, als sie ihn entwarnte: „Die Hitze hat uns nicht mehr erreicht. Wir sind wohl von ´nem Splitter erwischt worden.“

Evnos schüttelte verzweifelt den Kopf. Das war zuviel. „Was ist passiert?“

„Es war eine Atombombe, direkt hinter uns. Sie ist anscheinend in die Bucht eingeschlagen.“

„In die Bucht? Was wurde aus der Alistar?“

„Weiß ich nicht. Vermutlich hat sie die Explosion in zwei Teile gerissen, wenn nicht komplett zerstört.“

Evnos stieß sich keuchend von der Decke ab und landete auf dem Sessel des Co-Piloten, direkt neben Gele.

„In die Bucht?“, wiederholte er, „Diese miesen Schweine!“

„Ich weiß nicht, ob sie das mit Absicht gemacht haben. Wenn ein Torpedo an den Drohnen vorbeikommt, muss er dort ins Schiff schlagen, wo ihn sein Ausweichkurs halt hinführt. Dass er bei den Rettungskapseln explodiert ist, war sicher reiner Zufall. Was es aber nicht besser macht.“

Evnos’ Augen tränten. Er war kurz davor, einfach in Panik auszubrechen. „Scheiße. Sie sind alle tot.“

Gele sagte nichts.

„Sie sind alle tot. Ich weiß nicht mal, ob’s meine Freunde zu den Kapseln geschafft haben. Ob Demostenes und Targ überhaupt noch leben. Oder die Kleine, die immer in der Mensa auf mich gewartet hat. Oder Chel. Oder Gedwyr. Und Sebastian und Korenchkin sind tot. Es ging alles so schnell und ich –“

Gele unterbrach ihn: „Halt’s Maul! Ja, vielleicht sind die alle tot, Evnos! Aber bei mir wirst du da nicht auf Mitgefühl stoßen! Zumindest nicht jetzt! Wir sind mitten irgendwo im Raum, wir haben keinen Sauerstoff und keine Nahrung und unser Peilsender ist wahrscheinlich ausgefallen“ Sie wurde zunehmend lauter: „Ich hab’ noch für dreiandhalb Stunden Sauerstoff und die Chancen, dass man uns innerhalb der nächsten tausend Jahre findet, sind so verdammt gering, dass wir wirklich größere Sorgen haben, ob unsere Freunde noch leben!“

„Entschuldigung“, gab Evnos kleinlaut zurück, „Du kannst doch die Hälfte von meinem Sauerstoff haben.“

„Nein. Nein, das kann ich nicht! Dein Austauschventil ist kaputt und der Werkzeugkasten ist weg, genauso wie die Ersatzflaschen.“

Evnos warf einen Blick zu der roten Box, in der sonst der Notfall-Medizinkasten, Werkzeug und dünne Raumanzüge bereit lagen – sie war fort. Ein Riss, der sich klaffend in die Leere öffnete.

„Tut mir leid, dass ich dich angeschrien hab’“, entschuldigte sich Gele.

„Schon … schon in Ordnung. Was machen wir jetzt?“

„Weiß ich nicht. Zuerst müssen wir die Kapsel zum Halten bringen, ansonsten können wir keine zehn Sekunden aus dem Fenster schauen, ohne dass uns schlecht wird. Warte, zu allererst müssen wir die Leichen los werden. Ansonsten machen die uns verrückt.“

„Ich … ich kann das nicht.“

Sie nickte. „Ich auch nicht. Aber wir müssen einfach.“

„Und dann?“

„Dann werden wir rausklettern und nachschauen, ob der Sender noch geht. Wir haben kein Werkzeug mehr, also müssen wir uns was einfallen lassen. Vielleicht hat auch einer der Sauerstofftanks überlebt und ich kann meinen da auffüllen.“

„Warum ist er überhaupt leer?“

Gele zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich hab’ den Anzug aus einer Wartungsschleuse gezogen und da kommt es manchmal vor, dass die zur Hälfte verbraucht sind. Hab’ ich dann auch erst in der Kapsel bemerkt, dachte aber, dass ich den Sauerstoff eh nicht brauchen werde“, sie seufzte. „So kann man sich täuschen.“

„Wo hast du gearbeitet? Ich hab’ dich kein einziges Mal gesehen.“

„Ich bin oder war die Assistentin vom stellvertretenden Jägerkommandeur. Deswegen war ich eigentlich fast nur im Offiziersbereich oben. Und ja, die Fotze, die er zwischendurch gefickt hat, weil seine Frau eine Milliarde Kilometer von hier das Bett wärmt – mir sind die Gerüchte schon bekannt.“

„Ernsthaft?“

„Einmal und das war ein Versehen! Aber ich weiß, was der Rest des Schiffes gedacht hat.“

Evnos zögerte einen Augenblick. „Warum bist du dann nicht mit den Offizieren geflohen? Ich meine, die haben doch ihr eigenes, kleines Fluchtshuttle … dachte ich.“

„Hatten sie auch und wollte ich auch. Pech nur, dass ich vielleicht zwanzig Sekunden zu spät gekommen bin, also sind sie ohne mich und meinen Vorgesetzten gestartet. Aber ehrlich gesagt, war das eher mein Glück, weil der Shuttle nicht mal außer Sichtweite kam, als es von ein paar Jägern abgeschossen wurde. Die haben wohl gedacht, dass es ein Kampfschiff gewesen ist.“

„Der … der Kapitän ist tot?“

„Er und die ganze Brücke.“

Dann war Targ es vermutlich auch, da er sich fast immer bei den Offizieren aufgehalten hatte. Vor Evnos geistigem Auge spielte sich sichtbar ab, wie sein Vorgesetzter zusammen mit den anderen in das kleine Schiff stürmte, wie sie sich von der Alistar lösten und unmittelbar danach von einer Raketensalve in einen Feuerball verwandelt wurden. In seiner Vorstellung stand Demostenes direkt neben Targ, sie glaubten noch, in Sicherheit zu sein, bevor sie von einer Feuerwalze verschluckt wurden.

***

„Evnos.“

„Was?“

„Wir müssen anfangen. Mir bleibt keine Zeit.“

„Mit den Leichen?“

„Ja, mit den Leichen.“

Sie zog ohne jedes weitere Wort das Verbindungskabel aus Evnos’ Raumanzug und ließ es per Tastendruck zurück in ihren Tornister schnellen. Danach aktivierte sie die Magnetsohlen der Stiefel, musste aber rasch bemerken, dass eine nur noch bedingt funktionierte und sich mit einem wesentlich leichterem Ruck als die andere vom Metall lösen ließ. Evnos tat es ihr nach. Zu seiner Erleichterung waren beide Sohlen noch voll funktionstüchtig.

Beide machten sich an die grausige Arbeit: Gele entfernte den erstbesten Körper – einen der Mechaniker, die Evnos öfters in der Mensa gesehen hatte – aus seinem Sessel. Sein Hintern war im Nulldruck geplatzt und hatte sich mit gefriergetrocknetem Blut und Zellflüssigkeit mit dem Sitz vereint. Die kleine Frau musste mehrfach kräftig an dem Toten ziehen, bevor ein Stück seines Beckens einfach abbrach und an dem Sessel hängen blieb. Die Leiche transportierte sie vorsichtig, aber durch die Schwerelosigkeit mühelos zu dem klaffenden Ende, das einmal das Heck gewesen war, wo sie den Körper mit einem kräftigen Ruck in den leeren Raum warf. Er entfernte sich rasch, wurde kreiselnd immer kleiner und verschwand.

Evnos bestimmte für sich, zuerst Personen zu entfernen, die er gekannt hatte. Sie so deformiert, in einer Art ewigem Leid gefangen zu sehen, schmerzte ihn am meisten. So entschied er sich für Sebastian. Jeder Schritt, dem er sich dem Atrox näherte, wurde zu einer eigenen Herausforderung. Sebastians Augen starrten in verschiedene Richtungen; sein Mund war unnatürlich weit gespreizt und seine Finger schlangen sich um sich selbst, wie Spinnen, die sich im eigenen Netz verfangen hatten. Evnos erwartete im Gesicht des Soldaten Emotionen zu entdecken, wie Schmerz, Wut über seinen ungerechten Tod, Leid oder sogar einen Vorwurf, doch da war nichts. Vakuum und Kälte hatten alles Menschliche zerstört.

Es dauerte einen Moment, bis Evnos es überhaupt wagte, den entstellten Körper anzufassen und einen weiteren, bis er den Mut fand, ihn auch aus dem Sessel zu entfernen, was sich als weitere Hürde herausstellte: Sebastians Fleisch und Körperflüssigkeiten, die wie eine cremefarbene Paste aus den Lücken der kugelsicheren Weste quollen, hatten sich während seines Todes irgendwie mit den Gurten vereint, die nun quer durch seinen Hals verlaufen zu schienen. Evnos löste die Gurte, was Sebastian für einen Moment wie ein Dämon wirken ließ. Ein bleiche, grotesk verzerrte Gestalt, die mit dünnen, schwarzen Tentakeln aus ihrem Hals zuschlägt – fast wie die furchtbaren Gottheiten, die die Cthuliten anbeten.

Evnos ignorierte den bizarren Anblick. So gut er konnte. Er nahm Sebastian mit beiden Armen und trug ihn vorsichtig zur Schleuse, wo er ihn der Ewigkeit übergab. Die Leiche schwebte, sich um die eigene Achse drehend, fort bis sie sich plötzlich mit der Dunkelheit vereinte. Sebastian war einfach weg, von einem Moment auf den nächsten. Zur Vergangenheit geworden.

Evnos wollte ihm noch eine Trauerminute schenken, da stieß Gele unsanft gegen seine Schulter. Sie hatte inzwischen eine weitere Leiche losgemacht und wollte sie nun aus der Schleuse werfen …und ihm deutlich machen, dass er sich auch wieder an die Arbeit machen sollte.

Das Entfernen der Leichen sollte Evnos für immer in Erinnerung bleiben.

Jeder Körper hinterließ kleine Brocken gefrorenen Fleisches und Flüssigkeit im Raum, jeder zweite ekelerregende Reste auf dem Sessel. Gele wurde einmal unvorsichtig und stieß mit dem Kopf einer älteren, muskulösen Mechanikerin gegen einen Stuhl. Der gefriergetrocknete Schädel brach sofort vom Rumpf und wirbelte wie das schaurig verzerrte Gesicht eines Gespenstes durch die Kammer, bevor er gegen das Bugfenster schlug, um dort einen Augapfel zu verlieren. Evnos selbst gelang es nicht, einen Mechaniker zu entfernen. Er zog und drückte mehrfach mit aller Kraft an dem Körper, bis dessen Brustkorb auf einmal auseinander brach. Die Kapsel füllte sich mit Wolken und Stückchen aus vakuumkonserviertem Fleisch.

Evnos wollte erbrechen, er musste, es war einfach zuviel, doch wieder konnte er es nicht. Wieder sprühten nur Speichelkugeln gegen sein Helmvisier.

Nachdem Gele und er alle Leichen aus der Kapsel geworfen hatten, brauchten sie noch eine weitere Viertelstunde Standard, um den Großteil der Organ- und Flüssigkeitssplitter einzusammeln, darunter auch der Augapfel der breiten Frau. Alle konnten sie nicht entfernen: Einige waren zu klein, andere wirbelten zu chaotisch umher, um schnell gefangen zu werden.

Evnos hatte jetzt schon mehr erlebt, als ein Mensch im Leben sollte. Keine Therapie würde das jemals wieder gut machen können.

***

   „Was jetzt?“, fragte Evnos ohne jede Betonung, als sich die beiden wieder durch ein Kabel verbanden.

Gele schwieg und Evnos tat es ihr nach.

Die Unteroffizierin setzte sich wieder auf den Pilotensessel; der Koch blieb in unmittelbarer Nähe stehen und beobachtete die sandkorngroßen Fleischreste und wie sie ihre Bahnen durch die Kapsel zogen.

„Noch drei Stunden.“ Damit brach Gele das Schweigen.

„Was?“

„Noch drei Stunden. Dann geht mir der Sauerstoff aus.“

Evnos wandte sich zu dem Mädchen um, das immer noch auf dem Pilotensessel kauerte und mit einem leeren Blick in die Sterne starrte. „Was machen wir jetzt?“, fragte er erneut.

„Wir müssen nach draußen. Schauen, ob der Sauerstofftank noch ganz ist. Danach den Treibstoff checken, die Steuerdüsen und den Notrufsender.“

„Dann machen wir uns sofort auf. Der Sauerstoff ist das Wichtigste.“

„Das ist lieb von dir“, antwortete Gele eigenartig betonungslos. „Der Mann, den du zuerst … rausgeworfen hast. War er ein Freund?“

„Nein.“

„Aber du kanntest ihn?“ Der Satz war weniger eine Frage als eine Feststellung.

„Ja. Es ist das erste Mal, das jemand gestorben ist, den ich gekannt habe.“

Sie blieb einen weiteren Augenblick stumm. „Lass’ uns den Sauerstoff checken!“

„Ja. Lass’ uns den Sauerstoff checken!“

Sie marschierten zu dem klaffenden Riss, der einmal die Luftschleuse gewesen war. Dort tat Gele das, was angeblich kein Raumfahrer jemals tun darf: Sie blickte in die Ewigkeit. In den Abgrund, der kein Ende kennt und immer größer als derjenige ist, der sich in ihm verliert. Es gab Astronauten, die nie wieder in eine Rakete stiegen, nachdem sie einmal in die eine, wahre Leere gesehen hatten.

Aber Gele kehrte wohl von dort zurück. Ein schweres Seufzen und sie deutete Evnos, weiterzugehen.

Das Hinausklettern stellte sich als äußerst kompliziert heraus. Zuerst mussten die beiden vorsichtig an den brüchigen Rissen und spitzen Kanten des aufgerissenen Endes vorbei und dabei stets darauf achten, dass ihre Magnetsohlen sich auch an einem einigermaßen glatten Untergrund anhefteten. Viele der herausstehenden Trümmer waren längst nicht stabil; bei einigen reichte ein kurzer Ruck, um sie zum Einbrechen zu bringen, was sie zu gefährlichen Trittlöchern machte oder um sie heraus zu brechen, was sie in scharfkantige Wurfgeschosse verwandelt hätte.

Kaum hatten Gele und Evnos die etwa zwei völlig zerfetzten Meter bis zum Rand der Zerstörung zurückgelegt ohne eine der „Fallen“ auszulösen, begann der wirklich schwere Teil: Sie mussten über den Splitterrand wie auf einer Messerspitze nach draußen balancieren. Wie Seiltanzen. Über einem alles verschlingenden Abgrund.

Die beiden erreichten die rot lackierte Luke, unter der sich der Sauerstofftank der Kapsel befinden sollte. Es war vermutlich ein Schrapnell, dass eine riesige, mundähnliche Öffnung in den Tank geschlagen hatte. Dahinter gab es nichts. Graue, schattierte Leere. Jeglicher Sauerstoff war durch längst durch dieses Loch entwichen.

Evnos wusste es. Er wusste es von Anfang an. Es war kein Instinkt, keine vage Vorahnung oder ein Flüstern der Intuition. Es wurde ihm auch nicht erst bestätigt, als er das verbrannte, zersplitterte Äußere der Rettungskapsel sah. In dem Moment, in dem Gele ihm sagte, sie hätte nur noch für dreiandhalb Stunden Atemluft, wusste Evnos, dass es tatsächlich so war. Dass es daran nichts zu ändern gab und sie sterben würde.

Gele kniete keuchend vor dem Loch. „Scheiße …“ war alles, was sie herausbrachte.

„Scheiße …“ wiederholte sie lauter.

„Der Sender!“, bestimmte sie verzweifelt und richtete sich dabei fast zu schnell auf, „Der Sender ist unsere letzte Hoffnung. Wenn wir das Signal auf’s Maximum verstärken, sagen wir, dass es die Kommunikation fast stört, holen sie uns! Union, Separatisten – egal wer, Hauptsache er hat Sauerstoff!“

Sie marschierte mit hastigen Schritten auf die andere Seite der Kapsel, wo die Verbrennungsspuren weit weniger aggressiv waren und suchte dort nach der sogenannten Motorhaube, der Luke, die das Treibstofflager, den Flugschreiber und den Sender beherbergte. Der Lösemechanismus war schnell gefunden, Gele legte ihn mit aller Kraft um und riss die Verkleidung mit solcher Wucht aus dem Chassis, dass die Metallfläche unrettbar ins Vakuum geschleudert wurde. Unter ihr verbarg ein unüberschaubares Chaos aus grauen Schläuchen, Ventilen und Kabeln. Was davon der Flugschreiber oder ein Treibstoffverteiler war, konnte Evnos beim besten Willen nicht sagen.

„Und?“, fragte er von Geles Panik angesteckt.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie fast hyperventilierend, während sich ihre Hände in das Chaos gruben. „Alle Lampen sind ausgefallen. Da! Da steht was …“

Sie deutete auf einen dunkelgelben, schmutzigen Zylinder von etwa einer Armlänge.

„Das ist er! Anikam 7.000 Duro Notfall-Echosendeboje“, las Gele vor. „Fertigungsdatum 17-12-281 nach Hegemonialzeit. Patentanmeldung an – bla, bla, bla, was interessiert uns das? Wo steht, ob das Ding noch geht? Unter keinen Umständen von der Energieversorgung trennen oder herausnehmen. Lampe zeigt, ob Energieversorgung intakt ist. Obere analoge Anzeige zeigt, ob Signalecho noch erfolgt.

Evnos’ Blick arbeitete sich zum oberen Ende des Senders vor. Die kleine, rote Lampe war ausgefallen, die analoge Anzeige darüber bestand nur aus einem weißen Streifen, einem roten Pfeil und zwei Enden von denen eines mit den Worten „Signal erfolgt nicht“ beschriftet war. Und der Pfeil deutete direkt und unverwechselbar darauf. Wie der Finger auf ein Todesurteil.

Der Sender hatte die Explosion nicht überlebt und niemand wusste, wo sie waren. Niemand wusste, dass es sie überhaupt noch gab. Damit gab es auch keine Chance mehr, gerettet zu werden. Niemand würde sie je finden. Mathematisch gesehen nicht einmal in den nächsten tausend Jahren.

„Warum bauen sie diese Dinger so, dass sie bei dem kleinsten Hauch ausfallen?“

Gele reagierte erst einen langen Augenblick später. Sie begann wie aus einem Regelbuch zu zitieren: „Rettungskapseln sind nur dazu da, Sicherheit vorzutäuschen. In den wenigsten Fällen retten sie wirklich ein Leben.“

„Was meinst du damit?“

„Warum sollte man mehr als unbedingt notwendig für etwas ausgeben, was sowieso keinen Sinn hat?“

Er schüttelte den Kopf, was allerdings nur ihm selbst galt. Gele konnte es gar nicht sehen. „Wieso funktionieren unsere Raumanzüge noch?“

„Ein EMP grillt nur Schaltkreise, wenn Strom drauf ist. Unsere Magnetstiefel waren zum Beispiel ausgeschaltet. Unser Bluetooth-Funksystem nicht. Deswegen brauchen wir auch dieses Kabel.“

„Was wird denn jetzt aus uns?“

„Wenn wir Glück haben, findet uns in fünfhundert Jahren irgendein Archäologe und wir kommen ins Kriegsgedenkmuseum. Ansonsten stürzen unsere Leichen irgendwann in den Saturn, also, wenn es unsere Sonne schon gar nicht mehr gibt. Das hier ist unser privates Mausoleum für die Ewigkeit.“

Sie würden beide hier draußen sterben. Der Sauerstoff in ihren Tornistern würde zu Neige gehen und sie würden lachend, grinsend oder kichernd und mit bläulich gefärbten Lippen entschlafen. Wenn sie es nicht schon früher beendeten.

Es gab keine Rettung.

***

   Gele setzte sich vorsichtig wieder auf den Pilotensessel und schnallte sich an. Evnos saß bereits daneben und starrte in die endlosen weißen Punkte vor dem Bugfenster. Seine Kameradin hatte zuvor die Steuerdüsen manuell gezündet und das Drehen der Kapsel deutlich verlangsamt. Zum Stillstand bringen konnte sie die Kammer jedoch nicht. Dazu musste man die kinetische Energie auf Millijoule berechnen, was wiederum nur ein Computer konnte.

„So sterbe ich also“, befand Evnos.

„Zuerst bin ich an der Reihe“, erwiderte Gele.

„Wie viel Zeit hast du noch?“

„Etwas weniger als drei Stunden.“ Nun kam es, das Thema Sterben. Alles andere war kaum ein Vorspiel gewesen. Von jetzt an würden sie sterben.

„Ich hatte noch soviel vor“, wimmerte Evnos. „Ich wollte noch studieren. Auf Staatskosten wollte ich Astronavigation lernen. Mich haben sie mit einem Stipendium in diesen dummen Krieg gelockt und ich Idiot dachte tatsächlich, dass die Sache sofort erledigt ist. Die ganze Union gegen ein paar Separatisten. Ich habe wirklich geglaubt, dass ich da locker durchkomme. Durch einen Krieg! Wie kann man nur so blöde sein?“

Gele seufzte. „War bei mir nicht anders. Ich dachte auch, dass wir hier ganz schnell fertig sind und ich dann einen Rang höher. Ich wollte unbedingt ein Staatsschiff kommandieren. Also, nicht nur Irgendeines. Keinen Zerstörer oder einen anderen Penisverlängerer der Armee, sondern eine Botschafterfähre. Am besten eines im Interplanetarkontakt.“

„Ziemlich genaue Vorstellungen hast du da.“

Sie begann auf einmal, heiter zu erzählen: „Na ja, das ist das Beste, was dir passieren kann. In Friedenszeiten kannst du jedes Militärschiff vergessen. Das dient dann nur dazu, irgendwo zu zeigen, dass die Union doch noch Waffen hat. Aber als Botschafterfähre ist es immer interessant. Es gibt immer viel zu tun, viel zu organisieren und du siehst jeden Winkel des Sonnensystems. Wusstest du, dass auf Pluto vierzig Meter hohe Kristallformationen wachsen?“

„Die meiste Zeit wärst du doch eh nur im Weltraum gewesen.“

„Ist mir egal. Ich hätte die Kristallwälder auf dem Pluto gesehen oder die Pulverklippen auf dem Enceladus oder die Lebenden Seen auf Titan, Dutzende Kolonien und mehr. Dazu pervers gute Bezahlung, ich wäre viel herumgekommen und mit 85 in die Rente. Fünfundachtzig! Als würdest du nach der Kindergartenzeit in Pension gehen, Evnos!“

„Und was wäre, wenn sie dich nicht genommen hätten? Botschafterfähren sind der Traum aller Astronavigatorin … die dann am Ende auf irgendeinem Frachtschiff dienen und Ersatzteile und Sexroboter in den Asteroidengürtel karren.“

Gele lachte durch die Nase. „Ich hätte es geschafft. Deswegen bin ich ja zur Flotte. Mit einem Empfehlungsschreiben der Admiralität hätte ich praktisch überall hinkönnen.“

„Dann beneide ich dich.“

„Würde ich nicht in drei Stunden an einer Überdosis Kohlenstoffdioxid sterben.“

Der Kommentar brachte beide zum Schweigen.

***

   „Was wirst du tun?“, fragte Gele mit bedrückter Stimme.

„Was meinst du?“

„Was wirst du tun, nachdem ich gestorben bin?“

„Ich weiß es nicht.“

„Hast du Angst davor, alleine zu sterben?“

„Jeder stirbt für sich allein“, philosophierte Evnos plötzlich zu seinem eigenen Erstaunen, „Es sei denn, man wird wie unsere Kameraden in einer Explosion verdampft.“

„Ich … ich hatte noch soviel vor“, fügte Gele verzweifelnd hinzu.

„Wie alt bist du?“

Sie sah verzweifelt zu ihm auf. „In Standardjahren?“

„Ja.“

„Einunddreißig. Und du?“

„Dreiundzwanzig.“

„Du hörst dich an wie Siebzehn.“

„Ich sehe auch aus wie Siebzehn.“

Gele formte den Mund zu einem ironischen Grinsen. Evnos konnte es nicht sehen, aber so unglaubwürdig es klingt: Er konnte sie grinsen hören. „Nicht böse gemeint, aber das dachte ich mir.“

Evnos grinste. „Anderes Thema: Die ganze Alistar-Besatzung stammt ja vom Deimos“ sagte Evnos, um irgendwie vom Thema abzulenken. „Wo genau kommst her? Ich kann deinen Dialekt nicht ganz einordnen.“

„Aus Nero, einer Kleinstadt südlich von Nalymdej. Und du?“

„Direkt von dort. Also, direkt aus den Häfen von Nalym.“

„Öhm …“

„Öhm-was?

Gele seufzte. „Ich möchte dich als eine Art letzten Wunsch bitten, mir ein wenig von dir zu erzählen. Wir haben nicht mehr viel Zeit und ich würde gerne mehr über das Kerlchen wissen, mit dem ich meine letzten Momente verbringen werde.“

Evnos schwieg einen langen Moment. Er verstand und doch tat er es irgendwie nicht … oder wollte es nicht. „Soll ich … jetzt einfach …“

„Von was immer du willst! Bitte.“

Und so begann der junge Koch. Ein ganzes Leben zu erzählen war nicht einfach, besonders nicht für einen eher schüchternen Charakter wie ihn. Evnos schilderte, wie seine Mutter und sein Vater immer schon von einem Leben als Köche geträumt hatten, praktisch dafür geboren worden waren und sich dennoch mit ihrem Restaurant an der Straßenecke gerade so über Wasser halten konnten. Er sprach in kurzen Sätzen von Viola, mit der er seinen ersten Kuss erlebt hatte und von Kem, seinem besten Freund, der jetzt vermutlich in einer Kneipe saß und wieder einmal erfolglos auf Frauenjagd ging. Dann schwieg er eine längere Zeit und begann von vorne.

Es war wie loslassen, befand er später. Mit einem Fremden die eigenen Geheimnisse zu teilen war etwas, das jedem systematisch abtrainiert wurde, so dass man sie irgendwann mit niemandem mehr teilte. Umso intensiver fühlte es sich an, sie an eine Person weiterzugeben, von der man nicht viel mehr als den Namen kannte. Und so erzählte ihr Evnos noch einmal von Viola, mit der er sein erstes Mal erlebt, die er beinah geschwängert hatte und davon, wie Kem sie immer wieder betrunken anbaggerte, was Evnos widerwillig zuließ, um ihn nicht als Freund zu verlieren. Von seinen Eltern, die kaum Zeit für ihren Sohn aufbringen konnten, da sie jede freie Minute in ihr Restaurant investieren mussten, um damit überhaupt zu überleben. Und von Kem, der ihm verzweifelt immer wieder gestand, wie sehr er sich doch eine Freundin wünschte. Und davon, dass er sich seine halbe Pubertät lang gewünscht hatte, homosexuell zu werden, da das auf dem Deimos als Präferenz der Besseren und Gebildeten galt und er es doch nie wurde.

Evnos erzählte etwa eine halbe Stunde lang und bemerkte dabei selbst, wie wenig es eigentlich von seinem Leben zu erzählen gab. Er war zu vernünftig, zu ruhig, zu bescheiden und zu schüchtern, saß zu oft Bücher lesend zuhause um wirkliche Abenteuer zu erleben. Für ihn fühlte es sich eine Zeitlang an, als hätte er sein Leben gar richtig nicht gelebt. Doch dann holte ihn seine Bescheidenheit ein.

„Doch, was nützt dir das alles?“, fragte er gegen Ende seiner Geschichte seine Zuhörerin, zuerst aber sich selbst, „Also, all solche Abenteuer? Muss man wirklich in der Umkleide miteinander geschlafen haben oder schwer betrunken von einem Balkon gefallen sein, um zu behaupten, gelebt zu haben? Das ist doch Blödsinn.“

Gele lächelte, vermutlich. „Nein, muss man nicht. Das ist die Einstellung irgendwelcher Proleten, die Partys und Alkohol als die größte Errungenschaft der Menschheit sehen. Ich hab’ mich auch nie in dieses Leben-um-zu-feiern hineinversetzen können.“ Sie grinste. „Dazu braucht man vermutlich so eine Art Mindestdummheit.“

Evnos ließ seinen Blick wieder zu den Sternen schweifen, um sich ein wenig darin zu verlieren. „Feiern. Als meiner Einheit klar geworden ist, wann sie gegen die Separatisten ausrücken“, erzählte er weiter, „da haben sich alle in der Mensa getroffen und gefeiert. Die Offiziere, die Soldaten, die Piloten, das Hilfspersonal, einfach alle. Sie haben gesoffen, getanzt, gejauchzt und gegrölt, so als hätte jeder Einzelne ein Auto gewonnen. Gefeiert, dass sie jetzt in einen Krieg ziehen dürfen.“

„Das ist ganz normal. Wenn dieser Krieg zu Ende geht, wird man die nächsten einhundert Jahre jammern und klagen wie furchtbar jeder Krieg doch ist und wieso wir uns immer wieder gegenseitig umbringen müssen. Man wird Romane schreiben und gruselige Gemälde malen und Filme mit tollen Schauspielern drehen, die dann endlos Oscars absahnen. Aber dann, in spätestens hundert Jahren, wird Krieg wieder was Tolles und Heroisches sein – du weißt schon, Mann gegen Mann auf dem Feld der Ehre – und die Wenigsten was dagegen haben, wenn’s mal wieder zur Sache geht. Wir Menschen müssen regelmäßig wachgerüttelt werden. Das ist einfach so.“

„Gilt auch für uns beide.“

Sie seufzte. „Nur, dass ich mich nicht wach fühle, sondern mir immer wieder einrede, dass wir halt Pech hatten.“

***

Es wurde still.

Beide starrten minutenlang in das endlose Sternenmeer, das träge an ihrem Fenster vorbeizog. Es ist wie ein Roman, überlegte Evnos, wie der Epilog am Ende eines Buches. Alles wird noch einmal überblickt dann endet die Geschichte.

Gele holte tief Luft und wandte zu ihrem Mitpassagier zu, ihrem Mitfahrer auf Keirons Totenschiff. „Ich wurde früher viel gehänselt“, erzählte sie ohne jeden Zusammenhang. „Schon als Kind und bis zum Abschluss und das fast jede Woche.“

„Warum?“

„Sagen wir, ich entsprach nicht dem Schönheitsideal.“

Evnos schnaubte und zitierte den Protagonisten seiner Lieblingsserie: „Willst du mal wissen, wie Menschen wirklich sind? Sei hässlich!

„Die Serie hatte damit mehr Recht, als du wahrscheinlich denkst! Du kannst es ja nicht sehen, aber ich bin zu klein, habe ein fieses Zahnfleischlächeln und praktisch keine Titten. Das war früher nicht anders. Wenn meine Klassenkameradinnen darüber gemotzt haben, wie sie ständig angebaggert werden oder wie ihnen jemand in der Metro an den Arsch gefasst hat, saß ich in meiner Ecke und hab’s mir gewünscht. Ja ehrlich, ich hab’ mir gewünscht, mal einen richtig miesen Anmachspruch abzukriegen oder, dass mir jemand in der Bahn eine Hand auf den Hintern klebt – so schräg das jetzt klingt. Nicht mal die Bücherwürmer wollten mich daten.

Eines Tages, da war ich so 17 Jahre alt, kam die Rollstuhlfahrerin meiner Klasse zur mir. Nanante – wir nannten sie Paranante, weil sie ja ein Para war, wegen Rollstuhl und so weiter – litt an einer unheilbaren Form der Multiple Sklerose und war eigentlich genauso ein Mobbingopfer wie ich. Wir hätten eigentlich gute Freundinnen sein sollen.“

Evnos zuckte mit den Schultern. „Nur weil zwei Leute gleichermaßen erniedrigt werden“, bemerkte er, „heißt das nicht, dass sie auch als Freunde zusammenpassen.“

„Ist mir schon klar. Jedenfalls, kommt die blöde Schlampe zu mir gefahren, in ihrem klinisch weißen Rollstuhl und fragt mich, ohne dass ich ihr irgendwas getan hätte, ob wir nicht tauschen wollen: Ihre Titten gegen meine Beine. Alle haben gelacht, fast die ganze Klasse und mir ist auf einmal eine Sicherung durchgebrannt. Ich hab’ sie aus dem Rollstuhl gezogen und auf sie eingeprügelt, mit aller Kraft, hab’ sie für alles verantwortlich gemacht, was in meinem Leben falsch gelaufen ist, bis mich die anderen von ihr runtergezogen haben. Klar, dass ich einen Riesenärger bekam. Ich wurde für vier Wochen vom Unterricht ausgeschlossen, hatte ein Disziplinarverfahren am Hals, wurde von Nanantes Bruder abgefangen und zusammengeschlagen und meine Eltern bekamen eine Anzeige wegen – ich weiß gar nicht mehr, was. Kam eh nicht durch. Aber …

Und ja, ich hätte meinen Ärger gegen die anderen richten sollen. Ist mir bewusst. Gegen Borea, unsere Klassenmatratze, die mich immer no-tits nannte – du verstehst schon, Notiz und no tits, keine Brüste; das fand sie so irre witzig: Hey, No-Tits, mach dir ´ne Notiz! Unglaublich witzig! Oder gegen die Magisterin Soleis, die sich dem Mobbing manchmal sogar angeschlossen hat. Aber nicht gegen den Krüppel! Das zumindest sagten und sagen mir alle, die je von der Geschichte gehört haben. Aber …“

„Aber?“

„Ich bereue es nicht. Schlimmer noch, ich glaube, dass ich genau das Richtige tat. Ich hab’ zum ersten Mal jemandem gezeigt, dass er unter mir steht und ihn, oder halt sie, in ihre Schranken verwiesen. Das fühlte sich unglaublich richtig an! Bis heute bereue ich es nicht, Nanante verdroschen zu haben!“

Evnos sah zu ihr herüber und beobachtete den kleinen Raumanzug, der regungslos wie eine Puppe an Pilotensessel geschnallt war. Verlangte sie jetzt von ihm eine Absolution? Aus irgendeinem Grund sah er aber nichts Schlimmes in ihrer Tat. Vielleicht, weil sie im Sterben lagen und es jetzt kein Richtig und Falsch mehr gab.

„Die Schule ging ein Jahr später zu Ende“, fuhr Gele fort. „Wir alle machten unseren Abschluss oder einen positiven Schwangerschaftstest, begannen Ausbildungen oder gingen auf verschiedene Unis. Borea war die einzige, die ich jemals wiedersah, in der Bahn, als ich zehn Jahre später meine Eltern besuchte. Sie war dick geworden, hatte drei Kinder von fünf verschiedenen Kerlen und erkannte mich nicht einmal mehr. Oder vielleicht hat sie auch nur so getan. Ich werd’s nicht mehr erfahren.

Ich jedenfalls schleppte zu den Vorlesungen, feierte auf Studentenpartys, hatte meinen ersten Freund und tat das, was alle ehemaligen Mobbingopfer nach der Schule tun: Nämlich so, als wäre es nie geschehen. Wenn es um meine Schulzeit ging, dann war ich offiziell ein stilles Mauerblümchen gewesen oder halt viel mit meiner besten Freundin aus der Parallelklasse unterwegs. Bis diese Fragen nicht mehr gestellt wurden und ich es einfach totschweigen konnte. Was natürlich auch meinen Kamp mit Nanante betraf. Das hätte mich ja als schlechten Menschen dargestellt …“

Sie seufzte stockend, wie jemand, der kurz vor einem Ausbruch in Tränen steht. „Ein schlechter Mensch“, sagte sie noch, bevor sie die Hände nach der toten Kontrolleinheit ausstreckte und Tasten durchprobierte. Warum auch immer. „Wie ist es mit dir Evnos? Hast du schlimme Dinge getan?“

Evnos schüttelte den Kopf – was sie ebenfalls nicht sehen konnte. „Das ist nichts. In der dritten Klasse habe ich ein Süßigkeitenversteck meiner Mutter entdeckt, es geplündert und anschließend meinem Bruder in die Schuhe geschoben. In der Fünften habe ich einer Mitschülerin einen Neon-Marker gestohlen. Aber mehr war da auch schon nicht.“

Gele zögerte, ungut lange. „Einer von den Guten also“, bemerkte sie schließlich.

***

Sie erzählte noch eine gute Stunde einfach so vor sich hin.

Wie Sex mit einem asexuellen Partner, ihrem zweiten Freund, funktioniert, wie Kresse in Schwerelosigkeit wächst, über eine Karriere als Frau in der Raumfahrt, die dort noch zu oft als Bettspielzeug mit Beschwerdegefahr gesehen wurde und über Philosophie: Zwischen dem perfekten Lebenslauf und wie man seine Kajüte im Raumschiff dekoriert, schweifte sie einfach mal zu Aristoteles ab und wie er vor dreitausend Jahren jede moderne Sitcom vorausgesagt hatte und Anaximenes von Milet, der glaubte, dass alles, was existiert, aus Wasser bestünde, nur halt in unterschiedlicher Festigkeit und Dichte.

Nichts, was Evnos wirklich interessierte, aber ihre Gedanken halfen ihm, wenigstens für einen Moment lang zu vergessen, dass sie mit Raumanzügen in einer halbzerborstenen Rettungskapsel irgendwo im Orbit des Enceladus festsaßen und auf den Tod warteten.

„Weißt du, Evnos“, erkannte Gele plötzlich mit ruhiger, friedlicher Stimme, „Am Ende ergibt alles noch weniger Sinn als am Anfang. Wir werden in ein riesiges Chaos hineingeboren, aus Medien, Entscheidungen, Politik, Religion, Geld und …“, sie suchte Begriffe, „Markenjeans, hässlich und schön, Fragen, Fiktionen, Wahrheiten und zehntausend Türen, die uns angeblich alle offen stehen. Und wenn wir fragen, was das alles eigentlich soll, dann wird dir immer wieder nur gesagt, dass du dich wie jeder andere benehmen, leben und denken und auch genauso streben sollst, dann wirst du schon verstehen. Aber das sagen uns nur Leute, die es genauso wenig kapiert haben und wie alle anderen glauben, dass da irgendwo an der Ziellinie die Antwort wartet.“

Evnos schaltete sich nun wieder ein. „Was ist denn aus deiner Sicht der Sinn des Lebens?“

„Dass es keinen gibt. Am Ende sind wir alle nur tote Himmelskörper, die um nächst größere, genauso tote Himmelskörper kreisen. Der wahre Sinn des Lebens ist es, das Leben zu genießen und zwar so, dass man am Ende sagen kann War klasse. Nochmal bitte!

„Aber versuchen das nicht alle? Jeder arbeitet und strebt doch so hart wie er kann, um am Ende glücklich zu sein. Und die, die es nicht tun, lachen wir auch – auch du und ich – weil sie in Jogginghose beim Discount einkaufen.“

Gele zögerte. „Das … war wohl auch mehr auf mich bezogen. Ich hab’ mein Leben lang in einen Himmel geblickt, den ich nicht erreichen kann.“

„Das stimmt nicht! Du wolltest eine Botschafterfähre kommandieren und hast dieses Ziel, im Gegensatz zu vielen anderen, nie aus den Augen verloren. Das Problem war nur, dass es dich durch einen Krieg geführt hat …“

„Hast du ein Leben geführt, von dem sagen kannst, dass es wert gewesen ist, gelebt zu werden?“

„Eigentlich schon. Eigentlich …“ Evnos hielt inne und schnaubte. Er wollte es nicht zugeben, aber sie hatte Recht! Jetzt, als feststand, dass es vorbei war, dass es keine Rückkehr nach Hause geben würde, wirkte alles so vergeudet und sein ganzes Leben so unwichtig. Er hatte eine einzige, bedeutungslose Beziehung geführt, ein mieses Beispiel von besten Freund gehabt und niemals jemanden gefunden, dem er sich wirklich öffnen konnte; diesen legendären Menschen, mit dem man auf einer Wellenlänge spinnt. Schlimmer noch, er hatte sich selbst solange verleugnet und verstellt, dass er schon gar nicht mehr wusste, wer er wirklich war.

„Nein, habe ich nicht“, bekannte er auf einmal. „Ich will nur nicht, dass es so ist.“

„Jetzt verstehst du mich: Niemand will sein Leben umsonst gelebt haben.“

Evnos glaubte, zu weinen. „Ich hatte irgendwie immer das Gefühl, dass mein Leben eines Tages dann mal anfängt. Dass ich eine Frau finde, Kinder kriege und ein paar richtig tolle Freunde habe, mit deinen man – was-weiß-ich – im Urlaub zum Olympus Mons fliegt. Einfach, dass es irgendwann so kommen wird. Bis jetzt habe ich mich immer wie eine Raupe gefühlt, die irgendwann, in ferner Zukunft als Schmetterling aus ihrem Kokon schlüpft. Aber jetzt, in meinen letzten Stunden, weiß ich, dass ich das nie geworden wäre. Es wäre ewig so weitergegangen, mein Leben ewig nur eine Vier von Zehn geblieben, und ich hätte es eines Tages einfach akzeptiert …“

„Erzähl mir noch mal deine Story!“

„Zum dritten Mal?“

„Ja, nur dieses Mal so, als ob es dir was bedeutet hätte.“

„Das … das tue ich gern …“

***

In ihr fand er eine Person, wie er sie sich eigentlich schon immer gewünscht hatte, ohne zu wissen, wie dieser Wunsch eigentlich aussah. Evnos konnte nicht sagen, wie sich Gele im Alltag verhielt, ob sie abweisend oder eher schweigsam war, oder wirklich äußerlich so abstoßend, wie sie sich darstellte, aber diese Gele, die mit ihm die letzten Stunden in einer zerborstenen Rettungskapsel teilte, faszinierte ihn.

Sie sprachen noch über so unendlich viele Dinge und so offen, so unglaublich offen. Über Nasenbohren, über Masturbation, über dunkle Begierden und rassistische Gedanken, die jeder hat, aber niemand aussprechen würde. Und Witze, über die man niemals lachen sollte. So eine alles durchdringende Ehrlichkeit, befand Evnos später, können nur zwei Todgeweihte miteinander teilen.

Und dann war es vorbei.

Ihre Sauerstoffanzeige fiel auf Null und was in ihrem Raumanzug zirkulierte, reicherte sich rasch mit Kohlenstoffdioxid an. Eine Minute später wurde ihr abwechselnd kalt und warm. Sie begann seltsam abwesend zu kichern und zu scherzen.

Nach einer zweiten Minute erkannte sie schließlich, immer noch etwas belustigt: „Es ist jetzt gleich Zeit, meine Koffer zu packen. Den Körper lass‘ ich hier, okay? Ist eh Mangelware gewesen, mit den ganzen Allergien und dem Zahnfleischgrinsen.“

„Gele, hör‘ bitte auf damit!“

„Mache ich gleich von selbst, Evni! Jedenfalls: Viel hab‘ ich für meine Existenz nicht bezahlt, denke ich, also damals im Vorleben. Ich seh‘ das Label noch vor mir: Gele Tinmaren, Deimosianerin, preisreduziertes Mängelexempar.“

„Ich will nicht, dass du stirbst.“

„Ach, ich doch auch nicht“, scherzte sie noch und hielt inne. „So wollte ich nie sterben“, erkannte sie im Tonfall absoluter Verzweiflung.

Sie schluchzte, er tat es ihr nach.

„Evnos?“

Dieser sah auf. „Ja?“

„Liebst du mich?“

Gele erhielt nie eine Antwort. Genauso wenig wie Evnos.

Ein letzter Moment des Schweigens verstrich und sie beugte ich zu ihm vor und forderte mit aller noch möglichen Strenge: „Du versprichst mir zwei Dinge! Du versprichst sie mir ohne Widerrede!“

„Was für Dinge?“, fragte Evnos, der sich immer mehr Sorgen um ihren Zustand machte.

„Erstens. Also erstens“, wiederholte sie, „wirst du mir nicht folgen! Wenn ich tot bin, wirst du nicht irgendwie deinen Sauerstoff ablassen oder den Helm öffnen oder so! Du wirst die zwei Tage, die du noch hast, abwarten! Und zwar bis zum Ende.“

Darüber hatte er bisher kaum nachgedacht. Aber Selbstmord durch Kohlenstoffdioxid erschien ihm, jetzt wo sie es indirekt vorgeschlagen hatte, mehr als attraktiv. Kichernd einschlafen war um ein Vielfaches besser, als zwei Tage lang zu Tode gefoltert werden. „Warum?“, fragte er. „Wenn uns sowieso keiner finden kann, dann –“

„Weil ich es will! Du wirst warten. Vielleicht suchen sie nach der Schlacht nach versteckten Raketensatelliten oder irgendwie nützlichen Trümmern oder vielleicht entdeckt dich irgendein vorbeiziehendes Schiff aus Leichenfledderern. Aber du wartest! Du wartest bis zum Ende!“

Er nickte „Gut. Ich werde warten …“

„Und zweitens, wirst du meine Leiche über Bord werfen! Schick’ mich mitsamt dem Raumanzug durch die gleiche Öffnung, durch die wir die anderen entsorgt haben. Ich will nicht, dass du die ganze Zeit meinen toten Körper anstarrst und im Vakuum wackeln siehst, als wär’ ich eine Alge im Wasser. Das würde dich wahnsinnig machen. Versprichst du mir das?“, fragte sie, nun eindringlicher.

Er starrte in ihr Helmvisier, in die schwarze, verspiegelte Fläche – einem Abgrund, der noch viel tiefer als der Weltraum reichen zu schien.

„Versprich’ es mir! Bitte.“

„Ja …“

Ihre Stimme wurde leiser, als sie die nächsten Worte sprach: „Ja … was?

„Ich verspreche es dir. Ich werde warten. Und davor werde ich dich, deine Leiche“, verbesserte er sich, „über Bord werfen.“ Evnos atmete für die nächsten Worte tief durch, einmal, zweimal, dreimal. Dann fragte er vorsichtig: „Gele?“

Sie gab nur noch ein sehr schwaches Ja von sich.

„Ich habe gelogen.“

„Ich weiß.“

„Was meine schlimmste Tat angeht.“

„Ja, ich weiß.“

„Ich war 15 Jahre alt, da habe ich gesehen, wie meine Mutter einen anderen Mann geküsst hat, im Hinterhof von unserem Restaurant und ohne, dass sie mich bemerkt hätten. Ich weiß bis heute nicht, was zwischen den beiden eigentlich stattfand, ob sich meine Mutter bei einem Flirt zu weit aus dem Fenster gelehnt oder seit Jahren eine Affäre hatte, aber ich wurde unfassbar wütend. Mein Vater arbeitete sich die Finger wund; sprang oft auch noch für sie ein, weil sie sich nicht so fühlte, und tat sich widerstandslos ihre Launen an … und selbst das war ihr nicht genug. Ihr Götter, war ich wütend!

Einen Moment lang überlegte ich sogar, ob ich nicht eine Metallstange nehmen und beiden sämtliche Knochen brechen sollte. Was ich nicht tat, klar, dafür aber kam mir eine noch viel schlimmere Idee: Ich folgte ihm, bis zur Metro und zu ihm nach Hause, einem winzigen Reihenhaus. Am nächsten Tag besorgte ich mir dann drei Spraydosen, ging wieder zu ihm und hinterließ eine Nachricht für seine Nachbarn: Kinderficker. Das sprühte ich knallrot auf seine Motorhaube und seine Garage. Hier wohnt ein Kinderficker, stand an seiner Hauswand, mitsamt einem Pfeil, der auf seine Haustür zeigte. Dieses beschissene Wort habe ich natürlich auch noch über jedes verfügbare Fenster gesprüht und bei der Gelegenheit auch gleich an den Ortseingang: Aldun Straut ist ein Kinderficker. Damit sich alle über ihn das Maul zerreißen.“

Evnos’ Finger zitterten. „Das haben sie wohl auch getan. Ich habe davon im lokalen Newsfeed gelesen: Er wurde von allen Nachbarn gemieden, jemand zündete sein Auto an und es gab anscheinend sogar eine Untersuchung gegen ihn. Am Ende schrieb sogar die Bürgermeisterin selbst, dass es sich hier um eine Verleumdung schlimmster Sorte handle. Aber das half auch nicht mehr. Aldun Straut zog am Ende weg, aus Nalymdej und sogar vom Deimos runter. Ich hatte erfolgreich sein Leben zerstört.

Und genauso wie du, bereue ich es bis heute nicht! Er hat sich an eine verheiratete Mutter von Kindern rangemacht. Es war ihm gleich, ob er eine Familie kaputtmacht, damit er was zum Ficken hat. Ich wünsch‘ ihm bis heute, dass er blind und taub im Rollstuhl endet“ Evnos beendete beinah flüsternd seinen Monolog. Er schnappte nach Luft und sein Herz schlug so heftig, als ob es herausbrechen wollte.

Gele meldete sich schließlich ein letztes Mal: „Danke. Soviel Ehrlichkeit. Tat gut“, sie atmete sehr schwer und musste schon nach ein paar Silben Luft holen. „Nanante. Paranante. Die. Mit dem Rollstuhl. Hat sich später. Einschläfern lassen. Sie reiste. Bis. Auf den Mars. Ins Candor Chasma. Und legte sich schlafen. Für immer. Am Ende sind wir nur …“

„Tote Himmelskörper?“

„Die um noch größere. Genauso tote. Himmelskörper. Kreisen.“

Danach wurde sie still.

***

Evnos sollte niemals herausfinden, ob das nun ihre letzten Momente waren. Nach den analogen Anzeigen ihres Ärmels lebte sie noch einige Minuten. Vielleicht wurde sie bewusstlos oder sie wollte schweigend Abschied nehmen. Sie reagierte jedenfalls nicht mehr.

So sehr er sie auch schüttelte.

***

Es war grausam, dass sie sterben musste. So grausam, dass sich Evnos niemals davon erholen sollte. Als er in der Kapsel saß und den Raumanzug beobachtete, der einmal Gele enthalten hatte, da fühlte er nichts mehr. So als hätte sie seine gesamte Gefühlswelt aufgesaugt und mit sich in den Tod genommen. Aber er machte sich keine Sorgen – der Rest würde ja bald folgen.

Als der kleine Zeiger auf der Sauerstoffanzeige den niedrigsten Punkt erreichte, also schon seit Minuten nur noch Kohlendioxid im Anzug zirkulierte, hielt Evnos sein Versprechen, ohne zu Zögern, und brachte ihren Körper zum aufgerissenem Ende der Kapsel. Dort überließ er sie, wie schon zuvor Sebastian und die anderen, der Leere. Sie schwebte sanft in das große Nichts.

Eigentlich hätte sie als das Grau, das ihr Raumanzug war, noch schneller mit dem Schwarz verschmelzen sollen, als zuvor Sebastian mit seiner dunkelblauen Schutzweste, aber das blieb Evnos vergönnt. Gele schrumpfte zwar rasch zusammen, aus ihrer Gestalt wurde ein Punkt, doch dieser blieb noch über eine Stunde als eine Art grauer Stern zu sehen. Erst dann wurde sie zu klein, entfernte sich zu weit, so dass Evnos sie zuerst nur noch mit Mühe und schließlich gar nicht mehr von den anderen Himmelskörpern unterscheiden konnte.

Seufzend setzte er sich wieder auf den Sessel des Co-Piloten – der andere war für sie reserviert – und wartete. Und wartete.

Es gab keine Medien, mit denen er sich zerstreuen hätte können, also zwang er sich, irgendeine andere Beschäftigung zu suchen. Er drückte wahllos Tasten auf der Kontrolleinheit und summte sämtliche Melodien aus seiner Kindheit. Er entdeckte eine Gebrauchsanweisung zum Überleben in der Rettungskapsel – erster und wichtigster Hinweis: Sorgen Sie für Sauerstoff! – und warf ihn wütend in den Saturnorbit. Als das nicht genügte, schnappte er das Zweitexemplar für den Co-Piloten und bastelte aus den Seiten Papierflieger, die er einen nach dem anderen durch das aufgerissene Heck schleuderte. Eine Raumflotte aus Plastikpapier mit ihm als Mutterschiff. Dann war Evnos langweilig.

An Bord existierten immer noch die Nährstoffpillen und der Trinkwasservorrat, aber beides nützte ihm nichts. Die Pillen, die er zum reinen Zeitvertreib aus dem mechanischen Dispenser entließ, konnte er nicht in den Raumanzug schleusen und da sein Austauschventil nicht mehr funktionierte, war er auch nicht in der Lage, den Wassertank des Anzugs zu befüllen.

Aber das hätte ihn ohnehin nur schneller noch auf das nächste Problem aufmerksam gemacht: Die Auffangvorrichtung für Ausscheidungen war in der Hektik in der Waffenkammer nicht von ihm angeschlossen worden. Alles, was es in den nächsten Stunden den Körper verlassen wollte, musste er zurückhalten; anfangs mit Leichtigkeit, später mit enormen Schwierigkeiten.

Was wiederum den Schlaf endgültig unmöglich machte. Nicht, als ob er zuvor denkbar gewesen wäre: Der Raumanzug war zwar nicht unbequem, aber auch nicht dafür bestimmt worden, darin zu schlafen. Jeder Versuch, damit etwas Zeit totzuschlagen, endete damit, dass Evnos nach wenigen Minuten aufwachte und sich wie ein im Wasser tanzender Strauch fühlte. Selbst, wenn er sich so stark vergurtete, dass er sich nur noch mit Mühen überhaupt bewegen konnte, wachte er sofort wieder auf.

Eine Zeitlang beschäftigte er sich damit, herumschwebende Leichensplitter einzusammeln und sie ins Vakuum zu werfen. Als so gut wie jeder Fetzen gefrorenen Fleisches weg war, tat er das gleiche mit den Nahrungspillen. Vom Ausgabeautomaten aus übte er das Zielen und Werfen. Dann und wann, sozusagen als Abwechslung, brach er in Tränen aus oder schrie so laut er nur konnte. Nur, um dann nach wenigen Minuten in ein betretenes Schweigen zurückzukehren und weiterhin Nahrungsersatz in die schwarze Leere zu schleudern.

Zum Schluss waren seine Gedanken, die endlosen Zwiegespräche mit sich selbst, das einzige, was ihm noch blieb. Er fragte sich lange Zeit, was er ihr noch erzählen hätte sollen und wie es wohl weitergegangen wäre, wenn sie gerettet worden wären.  Er stellte sich vor, wie sich verabredeten. Sie, die alte Erfahrene und er, der junge Idiot. Wie sie gemeinsam vor einem Videospiel saßen und miteinander kuschelten. Wie sie miteinander schliefen. Wie sie aussah …

Das genügte ihm, um sich alle Gedanken über Gele zu verbieten, denn das würde ihn wirklich wahnsinnig machen.

In seinem Kopf verfasste er also Tagebücher, schrieb Romane und drehte Filme; erschuf Charaktere, ließ sie leben und sterben und erzählte ihre Geschichten durch immer neue Blickwinkel. Er kreierte riesige Spiele; konzipierte Waffen und Zaubersprüche und erklärte, wie man sie gegen seine Feinde einsetzen musste oder wie man, aus der Perspektive des Angegriffenen, ihrer Wirkung entging. Er erbaute verschlungene Arenen und erarbeitete Wege, mit denen der Spieler auf die Handlung einwirken konnte. Als Geschichtenerzähler, Autor, Regisseur und Kameramann, als Spieledesigner, Weltenbaumeister und Probespieler und als sein einziger Gesprächspartner wartete er Stunden.

Nach etwa dreißig Stunden, als er mehr als erbittert mit dem Harndrang zu kämpfen hatte und seine Kehle völlig austrocknete, als er regelrecht von dem Verlangen beherrscht wurde, den Sauerstoff abzulassen oder zumindest einfach in die Hosenbeine zu pinkeln, brach Evnos schließlich zusammen. Er schrie und keuchte, heulte und spuckte gegen das Visierglas und schmetterte mit seinen Fäusten gegen die toten Anzeigen des Steuerpults. Er fluchte, brüllte und flehte das Universum an, ihn am Leben zu lassen oder beleidigte und verwünschte es dafür, Gele getötet zu haben.

Aber er wartete.

– Maxx, 2004

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