Homo sapiens sapiens sapiens

Maximilian Wust - Homo sapiens sapiens sapiens

Homo sapiens sapiens sapiens
Ein Science-fiction-Slapstick von Maximilian Wust

WENN MAN DIE Galaxie bildlich beschreiben möchte, sollte man sich wohl eine riesige, flache Pizza vorstellen. Der krustige Rand ist ungefähr die Zone, wo die Erde liegt. Geht man weiter ins Zentrum so kommen langsam der Käse, der Schinken, die Pilze, die Schamhaare des Bäckers und so weiter –Sternbilder, Nebel und Anomalien. Ganz im Zentrum wartet schließlich das Zentrum, wo sich alle Beläge zu einem klebrigen, käsigen Etwas vereinen und das eines Tages die ganze Pizza verschlingen wird. Denn dort sitzt ein riesiges und vor allem schwarzes Schwarzes Loch.

Zugegeben, der Vergleich Galaxie und Pizza hinkt ein klein wenig (bzw. hat eigentlich überhaupt nichts mit der Realität zu tun), aber so stellten sich die Völker von Tarnadyyl nun einmal das Universum vor. Und einmal, da wurden sie von einer der Krustenrandwelten fasziniert: Einem ungemütlichen Olivenkern namens Erde.

***

Wie es dazu kam, also zu so einem seltsamen Weltbild, spielt für diese Geschichte keine Rolle, weshalb es aber trotzdem erzählt wird – einfach so: Der Planet Tarnadyyl war schon immer bewohnbar und daher auch bewohnt (seltsamerweise sind alle furchtbaren Planeten des Kosmos auch befruchtet und betiert). Intelligentes Leben gab es dort nicht. Einzig erwähnenswert sind die wunderschönen, pechschwarzen Weißvögel, die regelmäßig zur Balz einen Wettstreit daraus machten, wer von ihnen am höchsten hinaufsteigen konnte, nach Möglichkeit bis hinter die Stratosphäre. Was eines Tages dazu führte, dass der Kampf um die Weibchen das tat, was er immer tut und die Spezies auslöschte: Um die immer anspruchsvollere Frauenschaft zu beeindrucken griffen sämtliche Männchen nach den Sternen, im wahrsten Sinne des Wortes, stiegen in den Weltraum hinauf und erstarrten zu wunderschönen Mobile-Figuren, als welche man sie auch verkaufte. Zurückblieben die schwer beeindruckten Weibchen und ein flugunfähiges Männchen, das vermutlich sehr glücklich starb. So jedenfalls entstand der tarnadyylische Rennvogel, der galaxisweit dafür bekannt war, besonders farbenfroh in der Mikrowelle zu platzen.

All das hätte vermutlich niemals auch nur irgendwen interessiert, hätte nicht der Kapitän einer Koloniearche voller Aussteiger eine Sternkarte falschherum gelesen. Die Aussteiger – vor allem arbeitslose Intellektuelle, Ökos, die nachts Mülltonnen plünderten und Linksradikale, die gerne Autos anzündeten und das als Kritik an der Regierung verkauften – verließen unmittelbar zuvor ihren Heimatplaneten, in dessen Gesellschaftsbild sie einfach nicht mehr hineingepasst hatten (und auch, weil man sie sonst durch Koffeinentzug hingerichtet hätte). Tarnadyyl sollte daher zu ihrem Utopia der Baumwollpullover und flüssig geschriebener Sachbücher werden.

Aber natürlich kam es anders.

Unmittelbar vor der Landung zerstörte der Kapitän ihrer Arche sämtliche Mikrowellen, aus blanker Wut, denn nur unmittelbar davor hatte sich seine Ehefrau von über 26 Jahren als Aprilscherz entpuppt, der ein wenig aus dem Ruder geraten war. Um nach der Ladung zu überleben, widmeten sich Siedler von Tarnadyyl der im Fast Food ihrer Heimatwelt totgeglaubten Schule der Kochkunst.

So wie manche Völker dem Maschinenbau verfallen, andere der Ästhetik und wieder andere der Versklavung von wieder anderen Völkern, so konzentrierten sich die Tarnadyylixe von da an auf das Essen und der Kunst, sie zuzubereiten. Aus Notwendigkeit wurde Tradition, die Tradition erschuf Gegenbewegungen, die Gegenbewegungen provozierten Gegenbewegungen gegen die Gegenbewegungen und so entstanden Trends, die wiederum Künstler, Denker und Aufmerksamkeitssüchtige anlockten und zu immer höheren Leistungen inspirierten. Innerhalb eines Jahrtausends schafften sie es, ihre Speisen derart köstlich zu machen, dass man sogar die Teller, Tische und manchmal den Koch und die Kellner gleich mit verschlang. Ein gutes Dessert ließ so manche Restaurantgebäude im Ganzen im Magen-Darm-Trakt des Gastes verschwinden. Gerüchte besagen sogar, dass man den legendären Piratenkönig und vierfachen Flamenco-Meister Trans-Ghul mit tarnadyylischer Raffinesse besiegte: Man servierte ihm nämlich einen mit Tarnadyyl-Soße übergossenen Stein und ließ ihn sich daran zu Tode essen. Die große Giftmüllkrise wurde übrigens auch in der Küche gelöst: Der Ausgebrannte Brennstab mit Peperoni oder der Chemiemüllpudding gehörten eine lange Zeit zu den Geheimtipps der heimischen Küche.

Tarnadyylische Kochbücher füllten bald die Bestsellerlisten, Aussiedler wurden allein durch ihre frühkindliche Prägung zum Essen zu Starköchen (oder Star-Kannibalen) und Tarnadyyl, das Zentrum der guten Kochkunst unermesslich reich. Und weil Leute, die reich sind, gerne reich bleiben, kam es zu der Geschichte, um die es hier eigentlich geht.

Neben zahllosen Kochbüchern, Restaurants und Wäschereien (denn jeder braucht saubere Wäsche) finanzierte sich der tarnadyylische Wohlstand auch mit Universitätspatenten, die man galaxisweit an Fast-Food-Ketten und die Hersteller von verpackter Currywurst verkaufte. Eine der elitärsten Patentinhaber und Haupthandlungsort folgenden Fiaskos war die Thuram-Immensor-Universität, die nicht nach ihrem Gründer, sondern immer nach dem aktuellen Hausmeister benannt wurde (aus Geldgründen, denn so arbeiten diese Leute gern für weniger als den Mindestlohn).

Eine ganz spezielle Diplomarbeit sollte dort für Furor sorgen: Zu den Abschlussprojekten in Biologie, Xenobiologie, Bioxenologie und Xebobiobie gehörte in der Thuram-Immensor-Fakultät unter anderem, einen Bericht über eine intelligente, bisher unentdeckte Spezies und deren nahrungsmitteltechnische Nutzbarkeit verfassen – und zwar, indem man diese direkt besuchte, studierte, von ihren Essgewohnheiten lernte und vielleicht selbst ein paar Individuen verputzte. Tausende, wenn nicht Millionen von Studenten begaben auf eine Studienreise bis den Rand der galaktischen Pizza. So hielt sich Tarnadyyl immer auf dem aktuellen Stand, es mangelte nie an neuen Ideen und die Universität blieb vermögend und das durch unbezahlte, übereifrige Hilfskräfte (die natürlich ernsthaft glaubten, jemals mehr als ein Imbissbudenkoch zu werden, was seltsamerweise alle geisteswissenschaftlichen Studenten des bekannten Universums tun).

***

Um eine unterlegene Spezies zu studieren, gab es seit Anbeginn der Studiengebühren zwei Möglichkeiten: A) Man postierte sich versteckt im Orbit des ausgewählten Planeten, beobachtete, dokumentierte, entführte, verglich Daten und hoffte auf gutes Videomaterial, das dann meist nicht entstand, weil man genau im falschen Moment die Kappe auf dem Kameraobjektiv vergaß. Oder B) man landete in der erstbesten Stadt, spielte sich zum Gott auf und inszenierte einfach alle grausigen Opferriten, mit richtiger Belichtung und Kameraführung, anstatt sie sonst nur verwackelt mit Teleskopen aus dem Orbit aufzunehmen. Das war nicht nur leichter und machte deutlich mehr Spaß, sondern hinterließ auch tiefe Spuren in der aufkeimenden Zivilisation. Generationen und Milliarden von Individuen erinnern sich an deinen Namen – wie der ehemalige Xenobiologie-Student und galaxisweit ausgezeichnete Fahrrad-Coach Zeus vom Berg Olymp nicht müde wurde zu bestätigen.

Binain Wiezbolt war das genaue Gegenteil davon.

Er gehörte dagegen zu den wenigen Ausnahmen, die lieber beobachten und sich höher entwickelt vorkommen wollen. Zu diesem Zweck besuchte er eine Welt am Rand der Galaxis und studierte ganz klassisch die höchst intelligente Zivilisation, um nun, am Tag seiner Anhörung, die Ergebnisse vorzulegen.

Im Allgemeinen war Binain das Studium lang ein ruhiger, langweiliger Student gewesen, der ohne große Umwege (einer davon war ein Drogenexzess, der damit endete, dass er sich aus Versehen seinen besten Freund, eine Flüssiglebensform, spritzte) zum Soziobiologen werden wollte. Genau das hatte auch immer für Argwohn unter den anderen Studenten gesorgt: Binain belegte nämlich alle naturwissenschaftlich-biologischen, fiktiv-biologischen, nicht-biologischen, biologisch abbaubaren und cyber-biologischen Fächer; allerdings keinen der traditionellen Kurse wie Ernährungswissenschaften, Erweiterte Ernährungswissenschaften, Fresswissenschaften, Exzesswissenschaften, Leben mit gefährlicher Fettleibigkeit-Wissenschaft oder Kaffeetrinken in der Mensa. Und dabei nannte man genau das die Fächer, mit denen sich die Thuram-Immensor-Universität, ja eigentlich ganz Tarnadyyl einen Namen gemacht hatte.

Eben darum galt Binain, den reale Biologie interessierte, als ein Sonderling; ein streberhaftes, fleißiges Kerlchen, das so gar nicht angemessen faul war, wenn überhaupt. Vom Aussehen her nannte man ihn jedoch recht hübsch, zumindest für einen Typen, der drei Arme, einen Welskopf und 6.000 Augen hat. Nur seine sechs Meter langen Dreadlock-Antennen fand man nicht so modisch, auch wenn er damit fast alle lokalen Sender empfangen konnte.

Nervös stand er nun vor fast vierhundert Studenten (896 Millionen, wenn man die Einzeller mitzählt, von denen sich aber viele nur fürs BAFöG immatrikulierten) und der fünf-, nein, eigentlich sechsköpfigen Professorenjury – Professor Hobkainänpail hatte seit dem Unfall im Strahlenlabor zwei Köpfe … und 16 Beine.

***

„Nun, dann fangen Sie mal an, Student Wiezbolt“, drängte Professor Hobkainänpail, der vor allem auf einen Vortrag über außerirdische Soßenempfehlung wartete. „Und lassen Sie bitte kein Detail aus, egal wie schmutzig es wird! Diese könnten in einem Resumé noch wichtig werden.“

Binain wollte gerade loslegen, als er sah, wie die meisten Studenten noch einmal ihre Wetten prüften und Geld austauschten. Auf der Universität war es inzwischen zur Tradition geworden, nach der Rückkehr eines Diplomanten darum zu wetten, wie viele Einheimische er wohl schnabuliert hatte. Eine traurige Tatsache, vor allem für aufrichtige Biologen wie Binain.

Er seufzte laut und fing an: „Also, ich berichte Ihnen heute von meiner Reise in den knusprigen aber weniger schmackhaften Rand der Galaktischen Pizza. Ich besuchte d–“

„Student Wiezbolt“, wurde er von Dekan Iachmuasniasn jäh unterbrochen. „Sie wissen hoffentlich, dass viele Pizzabäcker im Rand der Galaktischen Pizza durchaus mehr Potenzial sehen! Manche wagen sogar die Behauptung, dass er symbolisch mit Käse und Basilikum gefüllt sein könnte.“

„Nun ja, diese Frage überlasse ich wohl lieber den Astronomen“, erwiderte Binain.

„Und warum sollten die das besser wissen als Pizzabäcker?“

Ist das eigentlich normal für höher entwickelte Völker, fragte sich der angehende Diplomant, dass man die letzten Hohlköpfe zu Weisen erklärt und die wirklichen Weisen ins Rentnerfernsehen verbannt?

Binain zuckte auf diese Frage einfach nur mit den Schultern und setzte seinen Vortrag fort: „Jedenfalls habe ich am Rand der Galaxis einen einfachen Pla–“

„Ich habe Ihnen eine Frage gestellt, Student Wiezbolt!“, bemerkte Iachmuasniasn aus seinem Sprechloch, das nur wenige Millimeter über dem Atemloch und gut drei Zentimeter unter dem Gebärloch lag; vier Zentimeter weiter begann übrigens das Geruchsloch. Ja, Dekan Iachmuasniasn hatte eine Menge Löcher im Kopf – das größte lag allerdings nach der Auffassung von Binain dort, wo andere Wesen ein Gehirn hatten.

Trotzdem versuchte der junge Student, die Frage zu beantworten: „Pizzabäcker kennen sich vor allem mit Belägen und Krusten aus, daher glaube ich, dass sie eher den Geologen Konkurrenz leisten können als den Astronomen.“

Das war mit Abstand der dümmste Satz, den er Zeit seines Lebens gesagt hatte! Jedoch sollte diese Weisheit eine der größten werden, die die Thuram-Immensor-Universität je hervorbrachte. Bücher wurden später darüber verfasst, Kriege geführt, bevor sie regelmäßig in billigen Werbegeschenk-Kalendern landete. Sie rettete sogar ein paar Individuen das Leben, als zwei Generationen später ein Volk aus Pizzabäckern die größte Pizza des Weltraums machen wollte und in einem roten Stern ein riesiges Tomatensaucenreservoir sah. Kurz bevor sie aufbrachen, um die Sonne zu ernten, erinnerten sie sich zum Glück an diese Weisheit des Binain Wiezbolt und sie heuerten noch im letzten Moment einen richtigen Astronomen an, der sie davor bewahrte, wie Salamischeiben im Steinofen gebraten zu werden.

Zurück zum Zeitpunkt der ersten Von-sich-Gabe dieser Weisheit grölte der halbe Saal. Ein guter Start für einen Vortrag! Sogar die Wetten wurden wieder geändert. Statt Hier und da jemanden angebissen, schätzte man Binains Beutezug nun auf gut Ein ganzes Volk gefressen. Und Dekan Iachmuasniasn jubelte aus seinem Gratulationsloch.

„Eine gute Antwort“, bemerkte der löchrige Professor. „Nun bin ich doch sehr gespannt auf Ihren Vortrag.“

***

„Nun denn“, begann Binain von Neuem und räusperte sich kurz – genau 26 Wochen lang, aber nach dem Maßstab eines Baumes, zu denen Binain in indirekter Linie zählte, ist das kurz –, „Auf meiner Odyssee durch den Rand traf ich schließlich auf ein paar Vertreter der Sandflöhe. Ich tauschte mit ihnen Vorräte, politische Gefangene und Geschichten und sie verwiesen mich zwecks meiner Suche auf eine parasitäre Lebensform, die schon seit einer ganzen Weile das Ökosystem ihres Planeten störte.“

Ein paar Studenten schwiegen in Ehrfurcht. Die Sandflöhe galten in der ganzen Galaxis als eines der edelsten Völker überhaupt. Jeder kannte sie als wunderschöne Ästheten, großartige Poeten und größere Philosophen, die aber einen Tick zu sehr nach Mathematikern schmeckten.

Binain aktivierte den Holo-Projekte. Dieser war eigentlich gar keiner, sondern eine versklavte Rasse, die mit ihren Ohren erstklassige Holografien darstellen konnte, besser als jede Maschine. Wie sie das machte, hat nie jemanden interessiert, aber dafür waren die Holografien umso besser, wenn man diese Wesen unter starker Folter dazu zwang (was dank eines guten Knebels auch geräuschlos ablief). Binain drückte seinem jedenfalls einen Speicherkristall ins Ohr und einen Finger tief ins Auge und ließ das erste Bild darstellen. Es zeigte drei Exemplare der untersuchten Rasse. Lieber Leser, du wirst niemals erahnen können, wen Binain analysiert hatte:

„Das hier ist sie also, die Rasse Mensch, eine Rudellebensform von degenerierten Bananenfressern, die den Heimatplaneten der Sandflöhe seit etwa zweihunderttausend Jahren heimsuchen und sich immun gegen alle gängigen Schädlingsvernichtungsmittel wie das lateinische Alphabet oder dem Treibhauseffekt zeigen. Sie selbst nennen sich Homo sapiens sapiens – das letzte Wort wird zweimal wiederholt, weil man es sonst beim ersten Mal nicht verstehen könnte, vermute ich.“

Der Saal raunte. Was sie da sahen, gefiel keinem: Drei ekelerregende Säcke aus Haut. Der erste ganz links, nach dem Untertitel ein Männchen, trug einen Wasserhahn zwischen den Fortbewegungsstelzen und hatte kaum Augen, vielleicht zwei. Daneben stand das Weibchen, ein etwas kleinerer Sack, dem man anscheinend den Hahn mitsamt der Wurzel herausgerissen hatte. Zwischen den Stelzen führte eine Öffnung in sie hinein. Dafür blähte sich ihre Brust mit Fettgewebe auf. Der dritte war klein, verschrumpelt und obendrein noch hässlicher. Alle drei sahen aus wie Hunde, die man rasiert, lange genug misshandelt und zum Gehen gezwungen hatte.

„Wie alle Lebensformen unserer Galaxie“, fuhr Binain fort, „sind auch sie in der Lage, Gin Tonic herzustellen. Nur im Gegensatz zu jedem anderen Wesen betreiben sie damit keine Maschinen … sondern trinken ihn.“ Raunen und Erstaunen ging durch die Studentenreihen.

Ganz zurecht: Seit hunderttausend Jahren durchstreiften Armadas von automatisierten Drohnen die Galaxie und folterten jeder verfügbaren Lebensform die Herstellungsverfahren von Gin Tonic ein, dem umweltfreundlichsten Weltraumtreibstoff, den man als Raumreisender einfach überall zur Verfügung haben wollte. Normalerweise verstanden die meisten entstehenden Zivilisationen schnell, dass sich damit so ziemlich alles betreiben ließ, vom Automobil bis zum Taschenrechnergewehr – manche, etwas (nennen wir sie besondere) Völker badeten aber lieber darin. Oder tranken ihn.

Was sogar Binain schmunzeln ließ, bevor er weiter erzählte: „Die Hauptfunktion der Menschen ist es zu haaren. Egal, welchen Geschlecht sie sind, wie alt oder welcher sozialen Kaste sie angehören: Sie haaren. An jedem Ort, den sie in ihrem Leben besuchen, lassen sie Haare zurück, ganz so als wollten sie sagen: Ich war schon einmal hier – da sind meine Haare als Beweis! Das Haaren ist ihre größte, kulturelle Errungenschaft, so dass sich natürlich alles, was sie tun, darauf konzentriert, noch mehr Haare zu hinterlassen. Als Beispiel entwickelten sie elektronische Massenhaartrimmer, sogenannte Rasierer, nur um eine gewaltige Zahl an Haaren in ihren Badezimmern zu verteilen. Nebenbei bezahlen sie spezielle Berufsgruppen, sogenannte Friseure, um bei ihnen noch mehr Haare zu verlieren. Ihre Forensik sucht zuerst nach fallengelassenen Haaren, wenn es um die Aufklärung von Verbrechen geht. Die Männchen haaren in ihrer Lebensmitte sogar derart exzessiv, dass ihr Haarvorrat auf dem Kopf schnell vollständig aufgebraucht wird und sie sich darüber ärgern. Warum die Menschen so sehr von ihrem Haarverlust besessen sind, ob sie damit vielleicht Reviere markieren oder hungernde Rudelmitglieder füttern, konnte ich leider nicht klären.“

„Sind die Untertitel korrekt? Also, wer von den dreien Männchen und Weibchen sind?“, fragte Professor-Doktor-Hausmeister Gähianfliast-Tsuanas-Nraus, ein alt-gesüdelter Kroedidtha vom Planeten Squaquaqu skeptisch.

Binain seufzte. „Leider nicht. Das ließ sich nicht genau herausfinden. Die Menschen kennen zwei ausgewachsene Version: Die Anlocker und die Nachläufer, oder Löchler und Rüssler, wie ich sie manchmal nenne. Die Anlocker – also mit dem Loch zwischen den Beinen – sind in der Regel etwas kleiner als die Nachläufer und auch weniger behaart, dafür entwickeln sie nach ihrem Schlüpfen seltsame Geschwulste in der Front. Das Seltsame an ihnen ist, dass sie die Nachläufer einfach anlocken. Sie sorgen praktisch dafür, dass sich diese gerne in ihre Nähe begeben und sie die ganze Zeit anfassen oder an sich drücken wollen. Bei vielen Nachläufern geht das ganze sogar soweit, dass sie einen Anlocker mit komprimierten Kohlenstofffragmenten – die Menschen nennen sie Diamanten – in ihren Bau treiben und dann manchmal ein ganzes Leben lang dort wohnen lassen. Ich weiß nicht, wie die Anlocker das machen – sie verwenden aber nachgewiesen nur einen schwachen Duftstoff, den das unterentwickelte Geruchsorgan der Menschen praktisch nicht wahrnehmen kann.“

Ein Student aus der vorderen Reihe brüllte so laut er konnte: „Wie schmecken die denn? Oft kann man die Geschlechter ja am Geschmack erkennen!“

„Das interessiert mich jetzt auch“, fügte Hausmeister Gähianfliast-Tsuanas-Nraus hinzu. „Mir ist schon klar, dass du dir keine Eskapaden geleistet haben wirst, die das Ökosystem der Mähnschon – oder wie deine Rasse heißt – vernichtet hätte, aber du wirst doch wenigstens ein paar Kinder gefressen haben … oder?“

Binain atmete tief durch. Das, was er gleich zu verkünden hatte, würde die fresssüchtige Studentengesellschaft vor ihm treffen. Soviel zum Thema Guter Start! Er atmete tief durch und offenbarte: „Ich habe nicht einmal eine Leiche probiert … obwohl es die Menschen lieben, ihre Artgenossen in Leichen zu verwandeln.“

Ein entsetztes Raunen ging durch die Reihen (obwohl Binain eine Láola-Welle lieber gewesen wäre). Einige Studentinnen verschluckten ihre Zungenpiercings; eine packte extra eines aus, heftete es an ihre Zunge und verschluckte es halt erst ein paar Sekunden später, dafür aber umso dramatischer. Fast alle ließen ihren Kopf hängen.

Außer einer, ein alter Freund von Binain. Dieser sprang jauchzend auf und schrie: „Jaaaaahuuuu! Ich bin reich! Jetzt brauche ich kein Studium mehr mit euch verblödeten Trotteln! Macht’s gut!“ Danach ging er zum Wettmeister und ließ sich seinen Gewinn auszahlen. Wie hoch der war, konnte Binain nicht sagen, aber als sein alter Freund einen Makler anrief und diesen anwies, „eine kleine Galaxie mit tollem Verandablick“ zu kaufen, konnte er es sich in etwa ausrechnen.

Der löchrige Dekan Iachmuasniasn röhrte aus seinem Verachtungsloch. Mit allen drei Sprechlöchern verkündete er: „Ich bin enttäuscht von Ihnen, Wiezbolt! Wir gaben Ihnen ein Schiff und damit die Chance vollkommen unbekannte Geschmacksrichtungen kennenzulernen, neue Gewürze zu finden und uns eine neue Spezies für die Restaurantküchen vorzustellen! Aber Sie haben das nicht einmal annähernd zu nutzen gewusst!“

Binain verteidigte sich: „Ich wollte diese Wesen nur studieren! Und zwar in ihrem Normalzustand! Nicht wie Student Knahperspas, der eine ganze Zivilisation frittiert und als Festbankett serviert hat. Ich wollte auch nicht der böse Außerirdische sein, der dafür bekannt ist, Einheimische zu fressen und Opfer zu fordern. Die Menschen hatten vor so was sowieso schon eine Phobie, von den Medien oder woher auch immer. Luzifer, haben Sie nicht in ihrer Studentenzeit ein paar Menschen verspeist?“

Luzifer, Botschafter aus der Dämonen-Dimension, Dozent für Maschinenbau und Autor der Bestseller 32 Speisen, die man aus Sünderseelen machen kann und Der Expressweg in die Hölle – wirf’ dich vor einen Express musste lächeln. „Leider nein“, antwortete der charismatische Professor mit einem charmanten Lächeln, als wäre er die Ausgeburt alles Bösen. „Ich bin strenger Spiritaner dritten Grades, also esse ich nur Geister mit Sündenvorgeschichte. Diese Fleischfresserorgien meiner Kollegen geben mir nichts. Und daher bitte ich Sie auch, Ihren Vortrag fortzusetzen, Herr Wiezbolt! Vielleicht kommt ja doch noch etwas Spannendes heraus!“

Fleischfresserorgien!“, wiederholte Dekan Hobkainänpail im Spott, „Wir fressen auch Pflanzen!“

„Und Abfall!“, fügte sein zweiter Kopf hinzu.

„Und aus der Toilette!“, sagte jemand, der später nicht identifiziert werden wollte.

***

Binain sammelte sich wieder. Er hatte noch soviel zu sagen und bereits zuviel Kritik geerntet. Fast mehr als der Weltraumpapst letztens abbekam, als er sagte, dass man auf Tarnadyyl noch mehr machen könne, als pausenlos zu fressen – auf dem Weg zurück zum Raumhafen wurde er fast das Opfer von mehr als fünfhundert Attentaten und das obwohl er kaum dreißig Meter weit fahren musste.

„Als Höhlenbewohner leben die Menschen natürlich in Höhlen“, erklärte er schließlich weiter, „und da die natürlichen Höhlen der Erde schon vor langer Zeit zu Neige gingen, bauten sie sich selbst Millionen Varianten an künstlichen. So leben sie den meisten Teil ihrer Zeit in einer Wohnhöhle, die sie Haus nennen. Am Morgen, wenn der Tageszyklus beginnt, verlassen sie die diese und gehen zu einer Transithöhle, der sogenannten U-Bahn-Station, wo sie eine fahrbare Höhle, die U-Bahn, zu ihrer jeweiligen Arbeitshöhle bringt. Zur Zerstreuung klettern sie in die Disko-Partyhöhle; sind sie schwer krank, schiebt man sie in die Krankenhaus-Genesungshöhle und ihre Waren und Erzeugnisse lagern sie in speziellen Aufbewahrungskavernen. Sie sind sogar in ihrer Fortbewegung sehr auf Höhlen fokussiert: Große Distanzen legen sie mit geflügelten Flughöhlen zurück, Waren transportieren sie mit sogenannten Schiffen, also Schwimmhöhlen, die über die planetenbedeckende Schleimschicht wandern, die sie Wasser nennen und wollen sie sonst irgendwohin, steigen sie in winzige Fahrhöhlen namens Automobile.

Wie die meisten Höhlenbewohner sind die Menschen selbstverständlich blind. Es gibt zwar zwei glitschige Okularbälle, wo ich die Augen vermutete, allerdings scheinen diese ausschließlich zum Weinen zu dienen.“

Binain überlegte laut: „Ja, jetzt wo ich noch einmal darüber nachdenke, weiß ich, dass die Menschen blind sein müssen. Es gibt sonst keine andere Erklärung dafür, warum sie sich so eifrig verpaaren, obwohl sie sie furchtbar hässlich sind oder warum sie die Taten ihrer bis ins Mark korrupten Politiker einfach nicht bemerken.“

Zustimmendes Raunen kam aus den Reihen der Studenten. Einer erbrach – das Bild mit den drei Menschen war einfach schon zu lange in die Luft projiziert worden.

***

Als Binain das bewusst wurde, zog er einen Holzschläger und prügelte damit auf den Holo-Projektor ein, bis dieser Blut und Zähne und eine wunderbare Holografie ausspuckte: Aus den drei hässlichen Schwulststelzern namens Menschen wurde ein blauer, mit Schimmel und Schleim überzogener Planet.

„Der Heimatplanet der Sandflöhe und ihrem Parasitenproblem heißt Erde, benannt nach der cremigen Schicht aus Wurmexkrementen, die den ganzen Planeten überzieht. Natürlich hat sich darauf längst ein dichter Schimmel gebildet. Die Einheimischen nennen diesen Gras und Wälder; er ist aber nichts weiter als ein Nebenprodukt der Verwesung gewaltiger Kotmengen und die Menschen ernähren sich davon. Oder von auch von denen, die sich davon auch noch ernähren, was auch jeder andere tat.

Das Ökosystem der Erde ist unglaublich grausam. Jeder frisst jeden, ist dort die Devise. Die schwächsten Tiere fressen Pflanzen und werden wiederum von stärkeren Wesen verspeist und diese landen oft noch auf der Speiseliste von noch größeren Jägern. Wer nicht aufpasst, wird gefressen; wer krank und schwach wird, wird gefressen; wer stirbt, wird gefressen und wer lange genug lebt, frisst sich schließlich selbst auf. Die Zellen der Erdbewohner können nämlich ab einem gewissen Alter einen Fehler in ihren Drucksensoren entwickeln, wodurch sich diese unkontrolliert ausbreiten und den eigenen Körper zerfressen. Diese Krankheit bezeichnen sie als Krebs, benannt nach einer Panzerspinne mit Zangen, die ebenfalls nichts anderes tut, als einfach alles zu fressen, was ihr vor die Stielaugen läuft.“

„Ein wunderschöner Ort“, schwärmte einer der Studenten und verlor seinen Blick verliebt in der Holografie des blauen Planeten, so als wäre dieser ein Kuchen und er könne jeden Moment hineinbeißen. Dass besagter Student ein 70.000 Kilometer langer Weltenschlucker war (und sich der Großteil seines azurblauen Körpers um einen der Monde Tarnadyyls wickelte), machte das Ganze sogar durchaus wahrscheinlich.

***

Hausmeister Gähianfliast-Tsuanas-Nraus legte seine Hände zu einem Haus, was für eine platawative Lebensform wie ihn bedeutete: Er ließ sich eigens dafür zwei Hände wachsen, um distanziert das Thema wechseln zu können: „Sie sagten, der Treibhauseffekt hat die Menschen noch nicht in Düngemittel verwandelt – gehören sie etwa dem Typus der hitzeresistenten Sonnenschlürfer an?“

Binain schüttelte den Kopf. „Seltsamerweise sind die Menschen sogar außerordentlich hitzeempfindlich. Erhöht man ihre Temperatur nur um ein paar tausend Grad, sterben sie auf der Stelle.“

„Warum fahren die Sandflöhe dann nicht einfach ihren Planeten für ein paar Minuten in die Sonne?“

„Ich denke, weil es alles Leben darauf ausradieren und ihre Heimat unbewohnbar machen würde.“

„Ah. Nun, das macht Sinn“, stimmte Professor Gähianfliast-Tsuanas-Nraus zu und erinnerte sich an eine Grillparty, die auf ähnliche Art aus dem Ruder gelaufen war. „Wie vermehren sich denn diese Manschen eigentlich?“, fragte er als nächstes.

„Oh, das ist etwas kompliziert“, verkündete Binain und verpasste dem Holo-Projektor einen Stromschlag. Die Schwulststelzer kehrten zurück, jetzt sehr viele davon und alle trugen Textilien über den Körper, der ohnehin schon mit Haut überzogen war. „Sobald ein Anlocker damit beginnt, auch noch zwischen seinen Stelzen zu haaren, schwillt im häufigsten Fall sein Unterleib an und er gebärt fast ein Erdenjahr später eine menschliche Larve. Diese ist weitaus kleiner, exakt sechsmal so hässlich wie die erwachsenen Exemplare und scheint auch weder Anlocker noch Nachläufer zu sein, weil sie schlicht nur aus Fettgewebe besteht. Erst in den kommenden Jahren lösen sich die Nährpolster und geben schließlich ein Geschlechtsorgan frei.“

„Dieser Wasserhahn und der Schlitz?“, fragte Luzifer.

„Nein. Das sind Organe zur gegenseitigen Nahrungsmittelversorgung. Interessanterweise scheint es die Menschen sogar äußert zu stimulieren, wenn ein Artgenosse mit seinen Nahrungsaufnahmeorgan dort unten herumarbeitet.

Wie dem auch sei: Eine weitere Metamorphose erleben ca. dreißig Prozent der Nachläufer und zehn Prozent der Anlocker. Sie werden dann zu sogenannten Vertilgern. Dabei schwellen sie auf ein übergroßes Maß an und beginnen, soviel Biomasse wie möglich in sich hineinzuschaufeln. Ich denke, das dient der Absorbierung der überflüssigen Nahrungsmittel, denn die Menschheit produziert im Allgemeinen sehr viel davon. Genau genommen weiß ich nicht, ob die Menschheit überhaupt etwas anderes produziert, als Nahrung. Die überschüssige Biomasse wird von den Vertilgern verschlungen und ebenfalls in Exkremente umgewandelt, um Nährboden und Lebensraum zu schaffen. Als Vertilger verlieren jedoch vor allem die Anlocker ihre Fähigkeit, das heißt, die Nachläufer scheinen sich nicht mehr so vehement für sie zu interessieren.

Ob die Menschen zu Vertilgern werden oder nicht, ihre letzte, finale Form ist immer der Nörgler, ein sehr runzeliges, verschrumpeltes Stelzwesen, das sich auch nur noch langsam fortbewegt und von jüngeren Menschen oft in eine separate Nörglerunterbringungshöhle namens Altersheim gebracht wird. Ihr evolutionärer Zweck ist vermutlich das akribische Suchen von Fehlern im eigenen Rudel und das penetrante Mitteilen von eben diesen, den sie beschweren sich über einfach alles.

Danach gibt kein weiteres Stadium mehr. Nach einiger Zeit stirbt der Nörgler an Organversagen oder entnervten Enkeln, unausweichlich und immer. Warum die Menschen in diese Form übergehen, ist mir daher völlig unklar. Meine Theorie lautet … dass sie unfreiwillig altern.“

Staunen ging durch den Saal. Trambulus Hutti, der älteste Student des Universums, der angeblich schon vor der ersten Universität in einer Universitätscafeteria gesessen war und nichts für sein Fach getan hatte, schaltete sich dazu ein: „Geht das überhaupt? Ist es biologisch überhaupt möglich, unfreiwillig altern?“

„Die Biologie auf der Erde scheint da doch einen Weg gefunden zu haben. Sämtliche Wesen altern unkontrolliert dort bis zum Tod.“

„Gruselig! Dann sterben die ja alle.“

„Was geschieht mit den Toten?“, fragte Dekan Iachmuasniasn aus seinem Interessenloch, „Geht bei denen dann das Seelenloch auf und sie können zurück in den großen Pizzaofen?“

„Nein. Die Toten werden von den Überlebenden, oft der eigen gezeugten Larvengeneration, in Wurmdung vergraben und ihr Habe danach aufgeteilt, meist mit viel sinnlosem Streit. Dabei glauben die Menschen, nach ihrem Tod in eine Art Backup-Realität überzuwechseln, wo ihnen ein neuer Körper und ein weit besseres Leben zur Verfügung gestellt werden.“

Hausmeister Gähianfliast-Tsuanas-Nraus schnutterte aus seinem Berchtikam: „Was für ein Blödsinn! Haben diese Manschetten dafür auch nur einen einzigen Beweis?“

„Sie glauben im Regelfall allen möglichen Blödsinn, solange er ihnen nur von jemandem mit besonders ausgeprägtem Stimmorgan erzählt wird.“

„Nun gut, dumm und leichtgläubig wird man vermutlich schnell, wenn die Experten laufend wegaltern, bevor sie ihr Wissen weitertragen können. Aber wo ist denn nun der Schädlingseffekt bei den Marschutten? Ich meine, sie ernähren sich ja ausschließlich von dem störenden Schimmel, was ja eigentlich gut ist.“

Binain zuckte mit den Schultern. „Eigentlich sie sind sogar sehr nützlich, so dass sie die härtesten Schimmelstellen – die sie Regenwald nennen – besonders effektiv vernichten, ebenso wie die meisten Tiere, die sich im Schimmel aufhalten. Vielleicht stört es die Sandflöhe, dass große Flächen des Wurmkots mit menschlichen Nestern und Rennbahnen für Automobil-Fahrhöhlen bebaut werden.“

„Sie sind einfach nur urhässlich und total haarig!“, schrie ein Student aus den hinteren Reihen, „Das würde mir auch irgendwann ziemlich auf den Zeiger gehen! Aber warum haben es die Sandflöhe nie mit richtigen Schädlingsvernichtungsmitteln probiert? Ich meine, wenn sogar Superhelden-Comics und Pinnwände nicht mehr helfen, würde ich es vielleicht mal mit Telenovelas oder Groschenromanen zu versuchen! Sind die besten Schädlingsvernichter, die es gibt, Mann!“

Binain schüttelte den Kopf. „Das haben die Sandflöhe bereits. Aber die Menschen zeigten sich als unglaublich anpassungsfähig. Beide Gifte weichten lediglich ihre Gehirne auf, haben sie aber nicht getötet. Inzwischen sind die Denkzentren der Menschen derart schwammig geworden, dass sie beides sogar verehren. Die Sandflöhe versuchen es zur Zeit daher mit einer sehr gewagten Therapie: Sie haben eine riesige Ladung Petroleum in ihre Planetenkruste gepumpt“ – ein Gift, das schon so manches Sonnensystem von der Sternenkarte tilgte.

„Großer Pizzabäcker! Und es hat nicht funktioniert?“

„Die Menschen nutzen es als Verbrennungstreibstoff.“

Professor Hobkainänpail schüttelte beide Köpfe (das muss man sich bildlich vorstellen). „Großer Pizzabäcker!“, fluchte nun auch einer seiner Köpfe; der andere war gerade dabei, sich selbst die Zunge abzubeißen. „Gibt es eine Eigenschaft, die an diesen widerlichen Kreaturen auch nur ansatzweise nicht abstoßend ist?“

Binain Wiezbolt nickte und erzählte weiter: „Die Menschen sind von zwei Dingen besessen: Haare zu lassen und zu fressen. Sie fressen einfach alles. Nicht nur Tiere und Pflanzen! Sie verarbeiten sogar Metalle wie Natrium oder Karbonat, nur um sie sich in den Rachen zu schieben. Dass sie sich gegenseitig noch nicht fressen, muss wahrscheinlich daran liegen, dass sie mit dem anderen Zeug mehr als beschäftigt sind. Sie halten sich sogar tierische Tanks, sogenannte Kühe, die einen nahrhaften, weißen Schleim absondern, den die Menschen hektoliterweise schlürfen. Kann eine Kuh der Weißschleimproduktion nicht mehr nachkommen, wird sie als nächstes absorbiert.“

Professor Hobkainänpail seufzte verzückt: „Wie schade, dass kein Exemplar mitgebracht haben. Ich würde gerne einmal etwas fressen, was in seinem Leben nichts anderes tut, als zu fressen.“

„Hey!“, schrie Austauschstudent Dirk Nowitzki und deutete auf die gerade eingeblendete Holografie, „Sind das diese irdischen Panzerkrebskrabben? Das sieht jedenfalls verflucht außergalaktisch aus! Die ist doch sicher ein Unikat der Erde, oder?“

Binain warf nur einen kurzen Blick darauf und schüttelte den Kopf: „Nee, Dirk. Das sind Steine. Die gibt es auf jedem Planeten.“

„Oh … na dann …“

***

„Wie steht’s mit Krieg? Gibt’s auf der Erde Krieg?“, wollte Professor Borkhom, ein Sportdozent und eigentlich nicht Teil der Jury, wissen. Sportdozent war eigentlich auch noch eine schöne Bezeichnung für ihn, Schinder wäre besser gewesen, Barbar aus einem dümmlichen Zeitalter, der vor kurzem wieder aufgetaut wurde und durch eine krude Rechtslage den Lehrstuhl in Sport erwarb die Beste.

„Krieg ist bei den Menschen etwas so Alltägliches“, antwortete Binain, „dass sie es ohne gar nicht aushalten. Im Regelfall führen sie Krieg um … na ja, also weder um Bodenschätze, Geld, Arbeitskraft oder territoriale Ansprüche, geschweige denn um irgendwelche religiösen oder ethischen Ideale. Wenn es bei ihnen zum Krieg kommt, haben beide Parteien danach weniger als zuvor. Sie gewinnen daraus auch nur selten territoriale Ausbreitung und sowieso niemals an Erfahrung, weshalb sie auch gleich wieder in den nächsten Konflikt ziehen, sobald das irgendwie möglich ist.

Die menschliche Spezies hat einfach einen biologisch-veranlagten Spaß daran, sich gegenseitig abzuschlachten. Ich glaube ja, das das ein sozialpsychologischer Aspekt der Geburtenkontrolle ist: Um nicht zu viele zu werden, dezimieren sie sich regelmäßig mit einer nie dagewesenen Kreativität, notfalls sogar mit Massenvernichtungswaffen und sorgen gleichzeitig für – öhm – zahllose Denkmäler für Gefallene, Kriegsmuseen, durch Verseuchung gesperrte Naturschutzgebiete, neue Arbeitsplätze …“

„Kann es nicht sein, dass sie einfach nur dumm sind?“

„Ja, das geht natürlich auch. Zumindest denke ich –“

Ein weiteres Mal wurde Binain unterbrochen, diesmal vom zweiköpfigen Hobkainänpail (wenn es so weiterging, konnte man ihn bald wieder den Einköpfigen nennen – sein zweiter Kopf schien es langsam, aber sicher zu schaffen, sich selbst umzubringen). „Nun gut, das ist jetzt genug, Herr Wiezbolt! Wir hatten eigentlich neue Rezepte, Geschmackssorten und vielleicht ein paar gebratene Kinder erwartet. Oder erhofft; erwartet in Ihrem Fall eher weniger. Stattdessen liefern Sie uns irgendeinen soziologisch-biologischen Unsinn irgendeiner Spezies, die noch nicht einmal im Ansatz intelligenter ist als mein Goldfisch. Diese Rasse, Mensch, ist einfach nur besonders immun gegen handelsübliches Gift und zwar nur, weil sie so grottendämlich ist. Es ist kein Wunder, dass die Sandflöhe nicht schon zu Castingshows gegriffen haben – die Menschen wären viel zu dumm, um daran zu sterben.“

„Ähm …“, Binain verschwieg den Rest lieber. Die Dozenten mussten ja nicht von allen Schädlingsbekämpfungstricks der Sandflöhe wissen, wie zum Beispiel dem Privatfernsehen, den Kreuzzügen oder dem Kommunismus. Oder von Weizenbier …

„Also, Student Wiezbolt, haben Sie einen einzigen Beweis dafür, dass die Menschheit eine intelligente oder wenigstens annähernd intelligente Rasse ist? Einen Einzigen?“

Binain atmete tief durch. Das war seine letzte Chance. „Also, die Menschen haben die Atombombe erfunden … und das noch vor dem Stoppen der globalen Hungersnot …“

***

Atacama Ghandi.

Oder irgendwie so hieß ein Mensch, der seiner Heimat ein Konzept vorstellte, für das diese noch nicht bereit war. Die Menschheit hatte sich zuvor Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen Jahre gegenseitig  abgeschlachtet, da erschien plötzlich ein besonders knöchernes Exemplar und schlug vor, das ganze Töten doch mal sein zu lassen. Was selbstverständlich mit seinem Tod endete. Wer die Menschheit beim Morden stören wollte, wurde meist gleich zuerst ermordet.

Ganz so schlimm würde es Binain wohl nicht ergehen, aber schlussendlich hatte einen anthropologischen Bericht einer (nicht wirklich) intelligenten Zivilisation dem Nahrungsmittelimperium von Tarnadyyl vorgelegt, das seit 20.000 Jahren die Raumfahrt, aber seit 65.000 die fortgeschrittene Mikrowellenzucht betrieb. Was also hatte Binain erwartet?

Seine Diplomarbeit bekam eine saftige 435,73, die schlechtesten Note des gesamten Planeten, die bisher nur an den Erdling Günther Grass für Die Blechtrommel gegeben worden waren, bevor man seinen Roman als Massenvernichtungswaffe einsetzte und damit die kriegerischen Wandervölker des tarnadyylischen Nordpols bis zum Letzten auslöschte (bei dem Versuch, ein Hörbuch daraus zu machen, implodierten sieben von acht Monden von Tarnadyyl). Binain würde wohl oder übel in die Geschichte der Thuram-Immensor-Universität eingehen, aber zu welchem Preis?

So wartete er auf der Bank vor dem Büro des Oberstudienrats, sammelte seinen Mut, um endlich an die Tür zu klopfen, und hätte am liebsten geweint wie ein Mensch. Er musste jetzt um eine Prüfungswiederholung bitten. Oder um Gnade! Noch vor wenigen Semestern wurden die schlechtesten Prüflinge zu Forschungszwecken eingesperrt und aufgeschnitten.

Da schwebte Professor Gloruspassix 745-21 herbei. Der etwas verschrobene, kauzige Dozent war eine Energielebensform, die immer wieder behauptete, sie käme aus einer Dimension weit jenseits der Realität – was aber schon vor Jahren als Lüge entlarvt wurde: Gloruspassix 745-21 wohnte in einem Taschenrechner in der Bibliothek.

Freundlich grüßte er den Studenten: „Welch herrlich monokultivierter Tag, nicht wahr, Studention Wiezbolt?“ Der energetische Dozent war dafür bekannt, ziemlich viel schwer verständliches Zeug zu reden, also so wie alle Dozenten im ganzen Universum.

Binain seufzte unglücklich.

„Aber, aber. Seien Sie nicht kokett! Ich zum Beispiel fand ihren Bericht über alle Maßen volumniszent. Besonders Ihre Ausführung über die –“

Mit diesen Worten verschwand er in der nächsten Wand. Wie immer halt. Glurospassix würde noch die nächsten zehn Minuten weiterreden und dann erst einmal mehr begreifen, dass ihm andere nicht durch feste Materie folgen konnten.

Binain wartete weiter und erklärte sein ganzes Leben für sinnlos.

Selbst der Oberstudienrat konnte daran nichts ändern. Er würde ihm lediglich ein paar seltsame Fragen stellen, zum Beispiel, warum er die Rasse Mensch nicht versklavt hätte oder warum Steine grau sind, Asteroiden aber braun – mehrere Jahrmillionen alt zu sein, macht Individuen fast immer seltsam –, aber er würde ihm sicher nicht das Diplom ausstellen, geschweige denn seine Note zurücknehmen.

Aber er konnte immer noch …

Da kam Binain die zündende Idee.

Der Antennenwels war ein Forscher. Das war er immer gewesen.

Schon als Kind erkundete er zu Fuß das riesige Waldstück, der sein Onkel war und mit dem Finger seine Nasenhöhlen, als andere noch mit Schlüpfen oder Teilen beschäftigt waren. Drei Dinge hatten ihn dabei stets vorangebracht: Neugier, Unermüdlichkeit und ein kleiner Schuss Dreistigkeit. Und diese, verpackt als zuckersüße Chuzpe, würde ihn auch jetzt wieder aus der Patsche helfen.

Binain holte also tief Methan (denn auf Tarnadyyl gibt es keine irdische Luft), ballte seine Fäuste, klopfte an der Bürotür und trat einfach ein. Hinter dem sperrigen Schreibtisch aus fixierten Sklaven brütete Oberstudienrat Hodd’Si Hoch-Gvegelt bereits wie ein Bösewicht aus gewohnt schlechten Erdfilmen. Der mit Schläuchen und Kabeln durchzogene Cyborgkörper starrte Binain aus den kalten, toten Augen eines Oberstudienrats an. „Student Wiezbolt“, bemerkte er vollkommen betonungslos wie die Haltestellenansage in der Bahn.

Dieser Universitätsleiter war so wie alle Oberstudienräte des gesamten Universums: Von gruseligem Äußeren, vollkommen gefühlskalt und uralt, älter als die Universität, der er vorstand; das Herz längst durch eine Maschine ersetzt. Das Einzige, was Oberstudienräte galaxisweit von Auftragskillern unterscheidet, ist Professionalität: Killer bereiteten sich auf ihre Arbeit vor, Angestellte einer Universität haben dagegen grundlegend keine Ahnung von dem, was sie tun oder wie sie überhaupt zu ihrer Stelle gekommen sind.

„Wünschen Sie Ihre Bewertung einer Revision zu unterziehen?“, fragte Hoch-Gvegelt mit der Betonung einer Sprachsoftware für Taubstumme.

Sein Gegenüber schüttelte den Welskopf. „Ehrlich gesagt, nein. Irgendwo habe ich’s ja verdient. Aber ich würde mir gern nochmal das Exkursionsraumschiff ausliehen: Mir ist nämlich gerade aufgefallen, dass ich meine Hose auf der Erde vergessen habe.“

Hoch-Gvegelt nickte. Er wusste nicht, dass Binain ein Student mit Leib und Seele war und deshalb niemals eine Hose trug. „Sie wünschen also, ein überlichtfähiges Raumfahrzeug, Treibstoff, Ersatzteile, Durchreiseabkommen und Material und Mittel der Universität in Anspruch zu nehmen, für mehrere Jahre, um eine Hose zu suchen?“

„Es ist eine wirklich gute Hose.“

Der Oberstudienrat seufzte zustimmend. „Ich kann Sie verstehen. Student Wiezbolt, ich verstehe Ihren Schmerz. Ich selbst hatte einmal eine Hose, die ich sehr schätzte. Nicht mein liebstes Stück, aber mit angrenzender Sicherheit in meiner Top Zwanzig. Als sie mir verlorenging, setzte ich um ihretwillen Himmel und Hölle in Bewegung, schrieb Petitionen, führte Kriege, konnte sie jedoch nicht zurückgewinnen. Sie war einfach im Trockner eingelaufen. So ein Leid will ich anderen nicht zumuten. Sie haben meinen Segen, Student Wiezbolt“, erklärte er und stempelte den Antrag ab.

Der keiner war, sondern eine acht Jahre alte Rechnung über eine Schreibtischlampe. Binain bekam das Raumschiff dennoch gewährt, denn wie jeder Oberstudienrat verfügte auch Hoch-Gvegelt über eine Sekretärin, die die wirren Dinge, die er so tat und von sich gab, stets zielgenau interpretieren konnte.

***

Binain stieg also trotz aller Umstände noch einmal auf seinen Forschungskreuzer (nur die wenigsten Spezies reisen innerhalb eines Raumschiffes, u.a. auch, um das schöne Sternenpanorama nicht zu verpassen) und verließ schon wenige Minuten später die Atmosphäre seiner Heimat. Hinter der dicken Schicht aus Wolken und verdunstetem Bratfett blickte er wieder in das endlose Meer der Sterne.

Jetzt brauchte er kein Diplom mehr, um das Leben zu erforschen, das in ihrem Licht gedieh. Er brauchte keine Lizenz vom Braterkomitee oder Unterstützung von der Fakultät (also, außer das Raumschiff, der Treibstoff, die Durchreiseabsprachen und all das).

Alles, was er jetzt noch benötigte, war die Neugier, die ihn ein Leben lang geleitet hatte.

– Maxx, 2005

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