Liebe machen

Maximilian Wust - Liebe machen

Liebe machen
Eine Komödie von Maximilian Wust

ICH WEISS NOCH, wie ich ihn das erste Mal sah.

Das war auf dieser Party von Jessip. Dem Studium wegen zog unser unverbesserlicher Frauennichtversteher damals nach St. Petersburg und löste seine Wohnung in der Vorstadt auf. Was natürlich gefeiert werden musste. Alles musste damals gefeiert werden, jede Trauer und jeder Triumph.

Auf dieser einen Jessip-geht-vielleicht-für-immer-Feier lernten wir uns kennen. Er saß eher unscheinbar in einer Ecke und plauderte gelangweilt mit Jessips Streberfreunden. Sein Tanktop und seine Stoppelfrisur hätten vermutlich an einem Bodybuilder gut ausgesehen – er wirkte damit aber eher wie jemand, der sich selbst für muskulös und mächtig hält. Ein Möchtegern. Wie einer dieser in sich gekehrten Computerspieler, die ab und an eine kleine Hantel heben und sich sofort für die Kriegerhelden halten, die sie sonst durch ihre virtuellen Welten führen. Aber so war er nicht. Überhaupt nicht. Irgendwoher wusste ich das schon beim ersten Augenblick.

Er war nicht wirklich schön, aber auch nicht hässlich. Unscheinbar vielleicht, aber vor allem interessant. Es ist nicht das Gesicht, das einen Menschen schön macht, und auch nicht der Körper oder die Kleidung. Das Äußere ist nur wie der Einband eines Buches. Er kann entscheiden, ob man es kauft – aber nicht, ob man es bis zum Ende lesen wird. Er war eines, das man zu Ende lesen wollte, würde, sobald man über den Prolog hinausgekommen war.

Hinter seiner Maske des kahlrasierten Computerspielers lag, wie ich schon am ersten Abend herausfand, etwas Unberührbares, als könnte ihm die ganze Bosheit unserer Welt nichts anhaben. Er zählte weder zu Gewinnern noch Verlierern. Wenn man sich das Leben, die Gespräche und Beziehungen als ein Spiel vorstellt, in dem man die Spieler in erfolgreich und erfolglos einordnen kann, dann war er jemand, der gar nicht erst mitspielte. So als wäre nur sein Körper hier, nur noch als Anker eines Geistes, der schon längst in ganz andere, höhere Sphären aufgestiegen ist und sich schon lange nicht mehr mit den Spielchen der einfachen Sterblichen beschäftigt. Er war da, wo alle Esoteriker ständig hinwollen.

Also sprach ich ihn an.

Und tatsächlich! Es interessierte ihn nur wenig, dass ihn eine Frau ansprach. Er registrierte es bestenfalls. Seine Freunde dagegen erlitten wohl eine Panikattacke mitsamt Herzinfarkt.

***

Er war so beständig, während all unseren Dates. Nie verloren und trotzdem unerreichbar.

Er küsste gern, wurde aber nie fordernd. Er trank gern, er liebte Cocktails, versuchte aber nicht einmal, sich Mut anzutrinken. Er umarmte mich gerne, wurde aber nie offensiv. Er wollte nie der Chef sein. Er versuchte nicht einmal, mich zur „bloß einer Tussi“ zu reduzieren, was sonst jeder Mann in Russland einmal austesten muss. Und er ließ es sich nie anmerken, wie klug er tatsächlich sein konnte. Jedes wandelnde Wikipedia – und davon gibt es mehr, als diese zugeben wollen – zeigt das normalerweise sofort und gern und oft und stolz. Ihm dagegen bedeutete es überhaupt nichts.

Dabei wusste er so faszinierend viel. Nicht nur über Computer, Spiele oder Fantasy und Science-fiction, so wie die meisten Nerds seiner Art, sondern auf eine sehr generalistische Art viel über zahllose Gebiete. Über Autos wie Nationen, über französische Könige wie russische Zaren oder Gluonen  wie die verdammte Wellenlänge in Nanometern, mit denen zurückreflektierte Photonen die Rot-Zäpfchen im Auge stimulieren. Es machte Spaß, in die endlose Bibliothek in seinem Kopf zu treten und nach Grenzen zu suchen. Ich fand sie nur viel zu selten.

Aber auch dabei blieb er sich selbst treu. Er erklärte mir nie, wie man humanistisch denkt oder dass ich mir mehr Gedanken über Geosystemik machen sollte. Die meisten Intellektuellen, die ich bisher getroffen hatte, dachten, sie hätten die Welt vollkommen verstanden – er dagegen war einfach nur er; wikipediaschlau und weit genug weg davon, jeden anderen erleuchten zu müssen.

***

Nach fast einem Monat unserer Beziehung war es dann soweit: Ich wollte mit ihm schlafen.

Einmal als Belohnung für soviel Geduld – er hatte länger durchgehalten, als die allermeisten seines Alters –, und einfach auch, weil ich schon seit fast einem Jahr nichts mehr bis auf meine Hand zwischen den Beinen gehabt hatte. Da will ich ehrlich sein!

Wie auch in allen anderen Situationen der Beziehung war er dabei eher geduldig. Wir kuschelten und spielten gute zwei Stunden vor einem ausgeliehenen DVD-Film miteinander, auf den wir uns schon nach zehn Minuten nicht mehr konzentrierten. Danach begann ich langsam sein Hemd auszuziehen, nur um ihm zu zeigen, wie offen die Grenzen inzwischen waren. Er kitzelte mich am Bauch, streichelte meinen Busen und wagte es nicht einmal, mir in den Schritt zu fassen. Als wäre das eine ungeschriebene Regel aller männlichen Jungfrauen. Beim Ausziehen war entsprach er genauso dem Klischee: unbeholfen und völlig überfordert mit den Hosenknöpfen und dem BH-Verschluss seiner Partnerin. Seine Geduld – er hätte vermutlich eine gute Viertelstunde gebraucht, um beides zu öffnen – wurde am Ende von meiner Ungeduld und meinem Verlangen unterbrochen. Wenn du willst, dass man es tut … und so weiter.

Kaum waren wir nackt, wollte ich das Vorspiel nicht noch länger hinauszögern. Ich wollte nicht, dass er mich noch traurig unerfahren an den Schamlippen leckte oder noch mehr mit seinen Händen auf meinem Körper spielte. Ich wollte auch nicht, dass er sich an mir rieb und dabei glaubte, mich zu erregen, so wie es männliche Jungfrauen so gerne tun. Er sollte einfach nur noch zustoßen und mich ficken.

Was er dann auch tat. Ich bin auf der Pille, erklärte ich und er fing an. Mit einem vorfreudigem, fast verschmitzten, gar nicht mehr erleuchtetem Grinsen drang er ein. Dann verzog er das Gesicht und kam. Nach nicht einmal einer Sekunde. Direkt in mir.

Das Ende seiner ersten Runde.

Danke für Ihre Zeit.

– Maex, 2006

Durch die weitere Nutzung der Seite stimmst du der Verwendung von Cookies zu. Weitere Informationen

Die Cookie-Einstellungen auf dieser Website sind auf "Cookies zulassen" eingestellt, um das beste Surferlebnis zu ermöglichen. Wenn du diese Website ohne Änderung der Cookie-Einstellungen verwendest oder auf "Akzeptieren" klickst, erklärst du sich damit einverstanden.

Schließen